Freitag, 19. Juli 2024

Ellen Andrée: nue et habillée

Der Maler Edgar Degas wurde heute vor hundertneunzig Jahren geboren, das wäre ein Grund, über ihn zu schreiben. Was ich aber nicht tun werde, weil ich ihn nicht mag. Weshalb ich ihn nicht mag, das steht in dem Post Edgar Degas. Und auch in dem Post Ratten sage ich nichts Nettes über ihn. Dieses Bild wird immer mit dem Titel L'Absinthe zitiert, original hieß es Dans un Café. Das grünliche Zeug, das die Dame vor sich hat, ist Absinth, ein Getränk, das Baudelaire in seinem Gedicht →Le vin des chiffonniers den Wein der Bettler, genannt hat. Die Dame trinkt in Wirklichkeit keinen Absinth, der Herr neben ihr wohl schon. Es ist der Maler Marcellin Gilbert Desboutin, der neben der Schauspielerin Hélène (oder mit ihrem Künstlernamen Ellen) Andrée sitzt. Die war über das Bild überhaupt nicht glücklich, fünfzig Jahre später hat sie gesagt: Je suis devant une absinthe. Desboutin devant un breuvage innocent, le monde renversé, quoi ! Et nous avons l’air de deux andouilles. Das ist es, die beiden sehen aus wie Idioten, eine Nutte und ein Penner. Soll das die Bohème sein oder nur die Demimonde?

Als Degas das Bild malte, war Ellen Andrée zwanzig Jahre alt. Sie war Schauspielerin, war aber auch das Modell für viele Maler. Sie hat für Degas, Manet und Renoir (und andere) Modell gesessen. Die Maler liebten sie, nicht weil sie besonders schön war, sondern weil sie lange in der Position sitzen oder stehen lonnte, die der Maler gerne haben wollte. Die Wikipedia hat eine schöne Seite für die Schauspielerin, mit vielen Bildern. Hier ist sie das Modell für Édouard Joseph Dantans Bild Un Moulage sur Nature. Das ist eins der wenigen Male, wo sie nackt posiert. Das zweite Bild mit der nackten Ellen habe ich natürlich auch, es war ein Bild, dass 1878 ein Pariser Skandal war.

Das Bild Rolla, das Henri Gervex gemalt hat, war schon zweimal in diesem Blog, einmal in Ratten und zum zweiten Mal in les grandes horizontales. Das Bild Rolla hat etwas mit einer Verserzählung von Alfred de Musset zu tun, in der der Lebemann und Wüstling Jacques Rolla gerade Sebstmord begehen will. Er hatte sich in die junge Marie (die hier auf dem Bett liegt), verliebt. Für die kleine Marie war die Prostitution eine Flucht aus der Armut. Ich zitiere einmal die passende Stelle und dann haben wir das Bild besser verstanden:
 
»Was mit mir ist?« sprach er – »beim Himmel, liebe Kleine,
Weißt du denn nicht, daß ich seit heute Nacht ruiniert?
Das weiß ja alle Welt! – Drum muß ich sterben gehen,
Und kam die Nacht hierher, noch einmal dich zu sehen.«
»Ja hast du denn gespielt?« – »O nein, ich bin ruinirt!«
»Ruiniert?« frug sie; und wie zur Statue gerührt,
Ließ sie den vollen Blick starr auf der Decke ruhn –
»Ruiniert? Ruiniert? Hast du denn keine Mutter? Hör!
Verwandte? Keinen Freund? Auf Erden niemand mehr?
Und tödten willst du dich? Weshalb willst du es thun?«
Vom weichen Kissen hob plötzlich das Haupt Marie,
Und süßer glomm ihr Blick als wie in allen Tagen.
Es bebte ihr der Mund im Drang von tausend Fragen,
Doch keine wurde laut – nur schluchzend neigte sie
Ihr Angesicht auf seins zu einem langen Kuß. –
»Jakob – zürnst du, wenn ich um etwas bitten muß?«
So schluchzte sie – »du weißt, Jakob – Geld hab ich nie –
Denn was du mir auch gabst, nahm mir die Mutter ab –
Jedoch – dies Halsband hier – 's ist Gold – soll ich's verkaufen?
Du nimmst das Geld und spielst – laß, Jakob – ich will laufen ....«
Ein mattes Lächeln war die Antwort, die er gab;
Drauf zog ein Fläschchen er hervor, trank's langsam leer,
Neigte sich über sie und küßte ihren Schmuck.
Dann sank auf ihre Brust sein Haupt mit leisem Druck –
Und als Marie es hob, da war es kalt und schwer.
Durch diesen keuschen Kuß ließ er die Seele scheiden,
Und, einen Augenblick, hatten geliebt die Beiden.

Der Salon hatte das Bild 1878 schon angenommen, aber kurz vor der Ausstellungseröffnung ließ der Direktor das Bild von der Wand nehmen. Weil es unmoralisch sei. Das Moralische ist ja bei der Aktmalerei immer ein Problem. Dass es hier gerade Sex gegeben hat, das ist uns klar. Den Spazierstock des Herrn, der zwischen ihrer Unterwäsche auftaucht, haben die Betrachter als Penissymbol verstanden: L'attitude d'abandon de cette nudité voluptueuse, à laquelle la chemise ouverte de l'homme fait écho, suggère, sans équivoque, l'ivresse sensuelle d'une nuit d'amour que conforte au premier plan, telle une nature morte, l'amoncellement de dessous féminins - corset rouge doublé de blanc, jarretière de soie rose et jupon empesé - dans lesquels s'enchevêtrent la canne et le chapeau haut de forme de l'amant, sagt Sophie Barthélémy, die Direktorin des Musée des Beaux-Arts de Bordeaux, dazu. 

Und Betrachter hat das Bild gehabt. Zwar nicht im Salon, aber für drei Monate im Schaufenster eines Kunsthändlers in der Rue de la Chaussée d’Antin. In einem Interview hat Gervex 1924 gesagt: Manet, Degas, Stevens, die Alten und die Jungen, alle drängten sich vor dem Gemälde, das schon berühmt war, bevor es den Salon betrat... Doch kaum hing es an der Wand, als Turquet, der Superintendent des Beaux-Arts, unterstützt von der Jury des Salons, den brutalen Befehl gab, es aus Gründen der Unmoral zu entfernen... So kam es, dass ein Kunsthändler mir anbot, 'Rolla' in seinem Geschäft in der Chaussée-d'Antin auszustellen... Ich nahm, wie Sie sich vorstellen können, dankbar an, und tatsächlich gab es drei Monate lang einen ununterbrochenen Besucherstrom mit einer Reihe von Kutschen, die sich bis zur Oper stauten. Eine von Gervex angefertigte Kopie des Bildes mit der nackten Ellen Andrée brachte bei Sothebys im Jahre 2016 den erstaunlichen Preis von 1,38 Millionen Pfund, der Schätzwert hatte bei 400.000 bis 600.000 Euro gelegen. Vielleicht kam dieser Preis zustande, weil es gerade im Musée d’Orsay die Ausstellung Splendeurs et misères: Images de la Prostitution, 1850-1910 gegeben hatte, in der das Original von Gervex auch zu sehen war. Dies Bild von Manet, das La Parisienne heißt, zeigt uns Ellen Andrée (die auch Gervex gerne als Modell nahm) vollständig bekleidet. Manet hat sie mehrfach gemalt, nie nackt.

Sophie Barthélémy sagte zu sensationellen öffentlichen Ausstellung des Bildes von Gervex, die zu erheblichen Verkehrsbehinderungen führte: On venait y respirer le même parfum de scandale qui avait accompagné un an plus tôt la subversive 'Nana' de Manet. Das mit dem respirer le même parfum de scandale finde ich sehr schön ausgedrückt. Manets Nana besitzt die Hamburger Kunsthalle, 1973 stand das Bild im Zentrum der Ausstellung Nana – Mythos und Wirklichkeit. Das schöne Katalogbuch von DuMont kann man antiquarisch noch für wenige Euro finden. Auch so gut wie garnichts kostet das Buch Monet und Camille: Frauenportraits im Impressionismus, das ich schon in dem Post Camille in grün erwähnt habe. Noch mehr zu dem Thema findet sich in dem Buch Painted Love: Prostitution in French Art of the Impressionist Era von Hollis Clayson (hier im Volltext).

Ellen Andrée, hier von Degas gemalt, ist siebenundsiebzig Jahre alt geworden. Sie hat alle Maler, die sie malten, überlebt. Der Skandal um das Bild Rolla begünstigte ihre Karriere als Theaterschauspielerin. Und zum Schluss habe ich in diesem Post, der es geschickt vermeidet, den spießigen Kleinbürger und virulenten Judenhasser Degas zu erwähnen, noch ein wunderbares Gedicht von Mascha Kaléko, das zu dem Bild von Gervex passt. Er heißt Der nächste Morgen: 

Wir wachten auf. Die Sonne schien nur spärlich
Durch schmale Ritzen grauer Jalousien.
Du gähntest tief. Und ich gestehe ehrlich:
Es klang nicht schön. Mir schien es jetzt erklärlich,
Dass Eheleute nicht in Liebe glühn.
Ich lag im Bett. Du blicktest in den Spiegel,
Vertieftest ins Rasieren dich diskret.
Du griffst nach Bürste und Pomadentiegel.
Ich sah dich schweigend an. Du trugst das Siegel
Des Ehemanns, wie er im Buche steht.

Wie plötzlich mich so viele Dinge störten!
Das Zimmer, du, der halbverwelkte Strauss,
Die Gläser, die wir gestern abend leerten,
Die Reste des Kompotts, das wir verzehrten.
... Das alles sieht am Morgen anders aus.
Beim Frühstück schwiegst du. 
(Widmend dich den Schrippen.)
Das ist hygienisch, aber nicht sehr schön.
Ich sah das Fruchtgelée auf deinen Lippen
Und sah dich Butterbrot in Kaffee stippen –
Und sowas kann ich auf den Tod nicht sehn!

Ich zog mich an. Du prüftest meine Beine.
Es roch nach längst getrunkenem Kaffee.
Ich ging zur Tür. Mein Dienst begann um neune.
Mir ahnte viel –. Doch sagt ich nur das Eine:
"Nun ist es aber höchste Zeit! Ich geh..."

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