Mittwoch, 31. Juli 2024

Landbote


Heute vor hundertneunzig Jahren wurde im Großherzogtum Hessen-Darmstadt heimlich eine achtseitige Flugschrift namens Der Hessische Landbote verteilt. Eine revolutionäre Schrift mit dem Titel Friede den Hütten! Krieg den Pallästen! Der anonyme Autor war einundzwanzig Jahre alt. Er hatte noch drei Jahre zu leben. In der Zeit schrieb er eine Doktorarbeit, drei Theaterstücke und eine Erzählung. Und übersetzte zwei Dramen von Victor Hugo. Was kann man im Leben mehr erreichen? Ich rede natürlich von Georg Büchner, der hier schon einen Post hat. Das Projekt Gutenberg hat dankenswerterweise seine Texte. Wenn Sie den ganzen Büchner in Buchform haben wollen, dann empfiehlt sich Werke und Briefe vom Hanser Verlag (1980), die sogenannte Münchener Ausgabe. Das Buch gibt es auch als dtv Taschenbuch. Ist inzwischen in der 18. Auflage. Das heißt, Büchner wird immer noch gelesen. Ich habe die Dramen 1962 gelesen, das weiß ich, weil ich mir damals alles aufschrieb, was ich gelesen hatte. Das Stück Leonce und Lena kannte ich schon vorher, weil unsere Schultheater Gruppe es aufgeführt hatte. Ich hatte eine kleine Nebenrolle als Staatsrat, aber eigentlich war ich Regieassistent und Souffleur. Ich kann heute immer noch große Teile des Stückes auswendig. Was ich von Büchner las, war mein eigener persönlicher Büchner, davon war ich überzeugt. Ich war neunzehn.

Besser als die Texte des Projekts Gutenberg sind die Texte, die wir in dem Georg Büchner Portal finden können. Das ist eine ganz wunderbare Seite, auf der man alles zu Büchner finden kann. Über sein Leben wissen wir beinahe alles, wie er ausgesehen hat, wissen wir nicht wirklich. Vielleicht ist dies hier von all den Bildern das genaueste. Büchners Werk hat immer wieder Interpretationen erfahren. Die Germanisten des Kaiserreichs wollten das Revolutionäre aus den Texten nehmen und sahen Büchner als einen Romantiker oder einen Vertreter des Biedermeier. Die Büchner Interpreten des Dritten Reichs wollten ihn für ihre Ideologie vereinnahmen, so wie sie das schon mit Hölderlin oder Caspar David Friedrich getan hatten. Alles das kann man nachlesen in dem von Wolfgang Martens herausgegebenen Band Georg Büchner in der Reihe Wege der Forschung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Kann man bei amazon für 2,92€ bekommen. Ich habe dafür noch sechs Mark bei Eschenburg bezahlt. Es gibt offenbar einen Büchner für verschiedene Epochen, wo man ihn anders versteht. Aber im Juli 1834, da hat ihn schon jeder Leser des Landboten verstanden. Die Obrigkeit auch, die die Verfasser verfolgt. Büchner flieht nach Straßburg, die Mitverschwörer werden verhaftet.

Es ist eine tiefe Schwermut in der Komödie Leonce und Lena, ist das die Melancholie Büchners, die ihn den berühmten Fatalismusbrief schreiben lässt? Ich weiß es nicht. Je mehr ich lese, desto weniger weiß ich. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal:

Ein sonderbares Ding um die Liebe. Man liegt ein Jahr lang schlafwachend zu Bette, und an einem schönen Morgen wacht man auf, trinkt ein Glas Wasser, zieht seine Kleider an und fährt sich mit der Hand über die Stirn und besinnt sich – und besinnt sich. – Mein Gott, wieviel Weiber hat man nöthig, um die Scala der Liebe auf und ab zu singen? Kaum daß Eine einen Ton ausfüllt. Warum ist der Dunst über unsrer Erde ein Prisma, das den weißen Gluthstrahl der Liebe in einen Regenbogen bricht? – (Er trinkt) In welcher Bouteille steckt denn der Wein, an dem ich mich heute betrinken soll? Bringe ich es nicht einmal mehr so weit? Ich sitze wie unter einer Luftpumpe. Die Luft so scharf und dünn, daß mich friert, als sollte ich in Nankinhosen Schlittschuh laufen. – Meine Herren, meine Herren, wißt ihr auch, was Caligula und Nero waren? Ich weiß es. – Komm Leonce, halte mir einen Monolog, ich will zuhören. Mein Leben gähnt mich an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit tod[t]müden Augen einander an. Ich stülpe mich jeden Tag vier und zwanzigmal herum, wie einen Handschuh. O ich kenne mich, ich weiß was ich in einer Viertelstunde, was ich in acht Tagen, was ich in einem Jahre denken und träumen werde. Gott, was habe ich denn verbrochen, daß du mich, wie einen Schulbuben, meine Lection so oft hersagen läßt? 

Das kann ich immer noch auswendig. Und die gelben Nanking Hosen, die damals Mode waren, sind schon häufiger in meinem Blog aufgetaucht. Ich habe den Text nicht zitiert, weil ich ihn auswendig kann, sondern weil ich auf Büchners Sprache hinweisen will. Die je nach dem Gegenstand anders ist. Im Woyzeck ist es das Hessische des einfachen Mannes, in dieser Komödie klingt Büchner manchmal wie Shakespeare, den er natürlich gelesen hat. Aber wie immer er schreibt, er hat uns etwas zu sagen:

Wer sind denn die, welche diese Ordnung gemacht haben, und die wachen, diese Ordnung zu erhalten? Das ist die Großherzogliche Regierung. Die Regierung wird gebildet von dem Großherzog und seinen obersten Beamten. Die andern Beamten sind Männer, die von der Regierung berufen werden, um jene Ordnung in Kraft zu erhalten. Ihre Anzahl ist Legion: Staatsräthe und Regieru[n]gsräthe, Landräthe und Kreisräthe, Geistliche Räthe und Schulräthe, Finanzräthe und Forsträthe u.s.w. mit allem ihrem Heer von Secretären u.s.w. Das Volk ist ihre Heerde, sie sind seine Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Thränen der Wittwen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft. Ihnen gebt ihr 6,000,000 fl. Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben. Sehet, was die Ernte eures Schweißes ist.

Das reicht doch heute noch, wenn man den Hessischen Landboten ein klein wenig umschreibt, in vielen Ländern der Welt noch für eine Revolution.

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