Wenn man etwas gut Beleuchtetes lange anschaut und dann die Augen schließt, sieht man dasselbe vor dem inneren Auge noch einmal, als unbewegtes Nachbild, in dem das, was eigentlich hell war, dunkel ist, und das, was eigentlich dunkel war, hell erscheint. Wenn man zum Beispiel einem Mann nachsieht, der die Straße hinuntergeht und sich immer wieder umdreht, um einem ein letztes, ein allerletztes Mal, ein allerallerletztes Mal zuzuwinken, und dann die Auge schließt, sieht man hinter den Liedern die angehaltene Bewegung des allerallerletzten Winkens, das angehaltene Lächeln, und die dunklen Haare des Mannes sind dann hell, und seine hellen Augen sind dann sehr dunkel. Wenn das, was man lange angeschaut hat, etwas Bedeutsames war, etwas, sagte Selma, das das ganze großflächige Leben in einer einzigen Bewegung umdreht, dann taucht dieses Nachbild immer wieder auf. Auch Jahrzehnte später ist es plötzlich wieder da, ganz egal, was man eigentlich gerade angesehen hat, bevor man die Augen schloss. Das Nachbild des Mannes, der zum allerallerletzten Mal winkt, taucht plötzlich auf, wenn einem beispielsweise beim Reinigen der Regenrinne eine Mücke ins Auge geflogen ist. Es taucht auf, wenn man die Augen kurz ausruhen will, weil man lange auf eine Nebenkostenabrechnung geschaut hat, die man nicht versteht. Wenn man abends am Bett eines Kindes sitzt, ihm eine Gutenachtgeschichte erzählt und einem der Name der Prinzessin oder ihr gutes Ende nicht einfallen will, weil man selbst schon sehr müde ist. Wenn man die Augen schließt, weil man jemanden küsst. Wenn man auf dem Waldboden liegt, auf einer Untersuchungsliege, in einem fremden Bett, im eigenen. Wenn man die Augen schließt, weil man etwas sehr Schweres hochhebt. Wenn man den ganzen Tag herumläuft und nur anhält, um sich den aufgegangenen Schnürsenkel zuzubinden, und jetzt, mit dem Kopf nach unten, erst merkt, dass man den ganzen Tag über nie angehalten hat. Es taucht auf, wenn jemand »Mach mal die Augen zu« sagt, weil man überrascht werden soll. Wenn man sich gegen die Wand einer Umkleidekabine lehnt, weil auch die letzte der infrage kommenden Hosen nicht passt. Wenn man die Augen schließt, kurz bevor man endlich mit etwas Wichtigem herausrückt, bevor man beispielsweise sagt: »Ich liebe dich« oder »Ich dich aber nicht«. Wenn man nachts Bratkartoffeln macht. Wenn man die Augen schließt, weil jemand vor der Tür steht, den man keinesfalls hereinlassen will. Wenn man die Augen schließt, weil gerade eine große Sorge abgefallen ist, man jemanden oder etwas wiedergefunden hat, einen Brief, eine Zuversicht, einen Ohrring, einen entlaufenen Hund, die Sprache oder ein Kind, das sich zu gut versteckt hatte. Immer wieder taucht plötzlich dieses Nachbild auf, dieses eine, ganz bestimmte, es taucht auf wie ein Bildschirmschoner des Lebens, und oft dann, wenn man überhaupt nicht damit rechnet.
So fängt der Roman
Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky an, wenn man einen solchen Romananfang schreiben kann, dann hat man die Leser schon auf seiner Seite. Dann kommt man auch auf den ersten Platz der
Spiegel Bestsellerliste. Ich habe den Roman von der
Gabi zum Geburtstag bekommen, und ich war hin und weg. Nachbilder, Dinge die bleiben, selbst wenn einem
beim Reinigen der Regenrinne eine Mücke ins Auge geflogen ist. Ich suchte, da Mariana Leky offenbar keine Gedicht geschrieben hat, nach Gedichten mit dem Thema Nachbild.
Und ich wurde bei
Nadja Küchenmeister fündig. Bei der 1981 in Ostberlin geborenen Lyrikerin, die unglaublich viele Literaturpreise bekommen hat (und das zu Recht), habe ich ein Gedicht gefunden, das
nachbild heißt. Kleingeschrieben, wie alles in dem Gedicht. Das erinnert mich an die Zeiten von Hans Magnus Enzensberger, der auch alles klein schrieb. Ich habe noch die Originalausgaben seiner Gedichte, weil ich mal eine schwere Enzensberger Phase hatte. Und ich schrieb damals auch alles klein. Nadja Küchenmeister hat heute Geburtstag, wozu ich ganz herzlich gratuliere und
ad multos annos sage. Und für meine Leser habe ich natürlich das Gedicht
nachbild:
erschöpft bist du bis in die knochen: nur kurz
zum see, dann ist auch das zuviel. das hohe gras
der hohe sonnenstand. du kannst nicht mehr
zurück. du bist wie dieser parkplatz leer und
ohne ufer und steigst ganz ohne bild von dir
jetzt in das auto ein, aufgeheizt in einer knappen
stunde und riecht schon nach dem stoff der sitze
gummi, oder…du weißt es nicht: siehst du hinaus
siehst du in dich hinein. da ist der schuppen
und die blaue hose, ölbeschmiert, wie alles hier.
in der küche rauscht der sender, ein glas mit
apfelsaft, ein teller nudeln und riecht es modrig
aus der speisekammer und tiefer noch aus der tapete
gefällt es dir. fleckiges linoleum. ein klirren kommt
von der vitrine, schritte. an einer ampel wirst du wach:
ein nachbild. ein verlassener garten. zugewachsen
nur die wäschestangen sind voll von wäsche, wie die
brombeersträucher so voll von brombeeren sind, dich
trifft nichts mehr. nicht der gesang in diesen breiten
straßen. kein hohes gras. kein hoher sonnenstand. du
steigst ganz ohne bild von dir jetzt aus dem auto aus
und hörst den leierton der feuerwache, der kommt durch
viele schichten näher, stille. fühlst du den schlüssel
in der tasche, weißt du, wohin du gehen kannst …
Es ist eine leise Melancholie, eine gewisse Tristesse, die durch ihre Zeilen läuft. Björn Hayer sprach auf der Seite von Deutschlandfunk Kultur von dem
typischen Küchenmeister Blues. Wenn Sie so etwas gerne lesen (ich auf jeden Fall), dann hätte ich auf dieser
Seite noch zwölf Gedichte von ihr. Und eins, das
morgenschauer heißt, gibt es hier noch zum Schluß
nebel überfällt die berge wie im flug und schleicht
metallisch um die spitzen karger bäume. der morgen
ist von tau zerfressen, leckt an einem straßenschild.
dein tier ist wach und lauscht dem rauschen in den
pappeln. von krähen schwer beladen sind die masten
eine schwarze fracht, und ein geräusch ist in den lüften
als würde jemand in der ferne särge putzen, schon die
halbe nacht. die dumpfheit alter schauermärchen, alter
lieder. dein tier liegt ausgestreckt mit aufgesperrtem
rachen und lässt den atem durch die lücken seiner zähne
streichen. ein wagen schleppt die regenfeuchte wie trauer
an den sommerreifen nach. ist auch der himmel wieder
reingewaschen und von so leichter heiterkeit: dein tier
ist müde, will nicht mehr. und es erzählen immerzu
die pappeln und einmal blüht die königin der nacht.