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Sonntag, 31. Januar 2021

Eine Liebe von Swann


Es ist jetzt mehr als sechzig Jahre her, dass mir mein Freund Peter sagte, dass wir unbedingt Proust lesen müssten. Die deutsche Übersetzung der Recherche war gerade bei Suhrkamp erschienen. Wir lasen Proust, in kleinen Portionen, die Bände waren teuer. Peter bekam seine Bände preisgünstiger, da seine Mutter aus einer berühmten Verlegerfamilie stammte und überall Verlagsrabatt bekam. Ich durfte manchmal bei ihm etwas mitbestellen, aber ich wollte jetzt meinen ganz eigenen Proust haben. Ich warb im Freundeskreis meiner Eltern Abonnenten für die Welt ein. Wenn der neugewonnnene Leser die Zeitung für drei Monate bestellte, bekam ich einen Band Proust. Es gelang mir nicht immer, rechtzeitig einen Abonnenten zu werben, in zwei von sieben Bänden klebt hinten das kleine grüne Etikett der Buchhandlung Otto & Sohn, wo ich das Buch gekauft habe. Ich kann auf meiner Leseliste aus dem Jahre 1962 sehen, dass ich in dem Jahr schon drei Bände von Prousts gewaltigem Romanwerk gelesen habe. 

Ich lese Proust immer noch. Nabokov, der einmal gesagt hat: Curiously enough, one cannot read a book; one can only reread it. A good reader, a major reader, and active and creative reader is a rereader, würde mich als einen guten Leser bezeichnen. Ich lese natürlich auch Anna Karenina zu Ende, das habe ich schon in dem Post Orchideen gesagt. Aber das habe ich erst einmal unterbrochen, weil ich mal eben Eine Liebe von Swann neu lesen musste. Nicht im Original (das ich auch besitze, obgleich ich mittlerweile die Internetversion des Romans sehr praktisch finde), sondern in einer mir unbekannten Übersetzung, für die ich bei ebay vier Euro ausgegeben hatte. 

Was ich Anfang der sechziger Jahre las, war die bei Suhrkamp erschienene Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, an das französische Original traute ich mich damals noch nicht heran, obgleich mein Französisch von Jahr zu Jahr besser wurde. Ich habe aber damals Voyage au bout de la nuit im Original gelesen. Durchgekämpft, wäre wohl eher das Wort. Ich glaube, Proust wäre leichter zu lesen gewesen. Wenn ich den Roman jetzt noch einmal lesen wollte, würde ich es auf deutsch tun, Heike hat mir vor Jahren die schöne neue Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel geschenkt. 

Die sieben Suhrkamp Bände der Recherche mit den ausgeblichenenen malvenfarbenen Schutzumschlägen stehen noch immer nebeneinander im Regal. Ein achter Band mit den Briefen (von denen Proust nicht wollte, dass sie veröffentlicht werden: Sie werden sehen ... kaum dass ich tot bin, werden alle meine Briefe veröffentlichen. Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe zu viel geschrieben, viel zu viel) steht in der zweiten Reihe. Neben den Suhrkamp Bänden stehen die Erinnerungen von Prousts Haushälterin Céleste Albaret und drei Biographien: die von George D. Painter (1959 und 1965), Jean-Yves Tadié (1996) und William C. Carter (2002). Painter sagte über sein Werk: I have endeavoured to write a definitive biography of Proust: a complete, exact and detailed narrative of his life, that is, based on every known or discoverable primary source and on primary sources only. Er hat keine Zeitgenossen von Proust interviewt und gesagt, selbst ein Treffen mit Proust hätte ihn nicht weitergebracht. William C. Carter, der jetzt bei der Yale University Press eine kommentierte englische Übersetzung der Recherche herausgibt, hätte so etwas nicht gesagt. Harold Bloom hat Carter Proust’s definitive biographer genannt, er muss immer übertreiben. Die Biographie ist nicht auf dem Niveau von Tadié, ein wenig langweilig, aber immens detailreich.

Natürlich steht da auch das schöne Buch Paintings in Proust von dem amerikanischen Maler Eric Karpeles und all die Bücher, die ich in dem Post Temps retrouvé erwähnt habe. Das Regal ist in den Jahrzehnten voller und voller geworden, aber die Suhrkamp Ausgabe hat ihren Platz nie verändert. Peter Suhrkamp hatte sein Haus auf Sylt 1953 an Axel Springer verkauft, um genügend Geld für den Kauf der Rechte an der Recherche zu haben. Die Übersetzerin Eva Rechel-Mertens, die bei Ernst Robert Curtius promoviert hatte, bekam für ihre Arbeit eine feste Anstellung im Verlag. Davon träumen Übersetzer, es zeigt aber auch, wie wichtig Suhrkamp das Erscheinen der ersten deutschen Übersetzung des Gesamtwerks war. 

Eva Rechel-Mertens wusste, was sie wert war, am Ende ihrer Dankesrede zur Verleihung des Johann Heinrich Voß Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sagte sie: Eines freilich glaube ich sagen zu können: wenn man die gesamte 'Recherche du Temps perdu' und den 'Jean Santeuil' übersetzt hat, darf man wohl für sich in Anspruch nehmen, gewissermaßen die Hohe Schule der Übersetzung durchlaufen zu haben. Mit welchem Prädikat? Sie hier, meine Herren, haben mir zu meiner großen Freude ein gutes zuerkannt. Aber das endgültige wird eine andere Instanz mir erteilen, und zwar ‒ ich schließe mit dem Wort, das Proust an das Ende seines großen Werkes gesetzt hat ‒ die ZEIT.

Hermann Hesse, der Suhrkamp schon 1949 gedrängt hatte, die Rechte zu kaufen, schrieb 1954 an seinen Verleger: Es ist ein Glück, daß Eva Rechel-Mertens nun den ganzen Proust übersetzt. Sie soll es womöglich so rasch tun, daß ich nicht mittendraus wegsterbe. Er wird die Recherche noch lesen können, Eva Rechel-Mertens übersetzte rasch. Während der fünf Jahre, die zur Vollendung nötig waren , habe ich stets gebangt, Frau Rechel-Mertens könnte unter der Aufgabe zusammenbrechen; und es gab gefährliche Krisenzeiten. Ich bewundere nicht nur die Einheit, den eigenen Ton in ihrer Übersetzung, sondern mehr noch den persönlichen Einsatz, der eine ungewöhnliche moralische Leistung darstellt, hat Peter Suhrkamp 1957 geschrieben

Vom zweiten Band an konnte die Übersetzerin auf die von Pierre Clarac und André Ferré herausgegebene Pléilade Ausgabe von Gallimard zurückgreifen. Seit der ersten deutschen Übersetzung von Un amour de Swann durch Rudolf Schottlaender im Jahre 1926 hatte Hermann Hesse eine Übersetzung des ganzen Romans gefordert. So schreibt er am Ende der zwanziger Jahre: Vor drei Jahren noch, als Proust endlich anfing, auch in Deutschland beachtet zu werden, sprachen unsere Kritiker von ihm flüsternd und geheimnisvoll wie von einem vergrabenen Schatz - heut' sind sie schon wieder mit ihm fertig und finden, er sei doch eben nur ein schwächlicher, entnervter Mensch mit Gefühlen zweiten Ranges. Möge den Kerls Schimmel auf der Zunge wachsen! Ich kümmere mich den Teufel um sie, ich bin froh, daß es etwas so beseelet Schönes, etwas so Warmes, Blumiges und Liebenswertes gibt wie die Gespinste dieses zarten Dichters, der nun schon lange den Kuckuck nicht mehr rufen hört.

Der Romanist Ernst Robert Curtius, der mit Proust korrespondierte, hatte den französischen Autor 1925 durch einen hundertzwanzig Seiten langen Essay in Deutschland bekanntgemacht. Ein kleiner Berliner Verlag namens Die Schmiede verpflichtete den vierundzwanzigjährigen Altphilologen Dr Rudolf Schottlaender, Prousts Du côté de chez Swann zu übersetzen. Zuvor musste er eine Probeübersetzung abliefern, er wählte La Brière von Alphonse de Châteaubriant, das als Schwarzes Land erschien und von der Kritik gelobt wurde. Schottlaender war sich über die Schwierigkeit der Aufgabe im Klaren, er machte es dem Verlag gegenüber zur Bedingung, dass seine Übersetzung nur eine Rohfassung sei und man einen Revisor hinzuziehen sollte. Er schlug dafür Ernst Robert Curtius vor. Aber der Verlag hielt sich nicht an die Absprachen und veröffentlichte die Rohfassung. 

Die dann von Curtius verbal vernichtet wurde. Schlimme Worte sind da gefallen, wie zum Beispiel: 'Du Côté de chez Swann' ist - das dürfte deutlich geworden sein – vom Verdeutscher übel zugerichtet worden. Es ist ungefähr so, wie wenn Debussy für die Mundharmonika arrangiert würde. Schottlaender schreibt einen höflichen Brief, er sei tief betrübt, Fehler gemacht zu haben, aber die Aufgabe sei auch sehr groß: Ganz bewältigen könnte sie heute nur einer, der ein vollendeter Philologe und zugleich vollendeter Nachbildner wäre. Weder das eine noch das andere wähne ich zu sein. Aber da ich vom Philologen wie vom Nachbilden etwas in mir fühlte, zudem von einer Liebe zu Proust besessen war, in der ich Herrn Professor Curtius vielleicht nichts nachgebe, glaubte ich mich zu dem Wagnis berechtigt. Er bittet Curtius, der sich in der Aufzählung von fünfzig Fehlern suhlte, um eine Gesamtwürdigung, die kam auch: Eine Gesamtwürdigung verlangt Herr Schottlaender? Hier ist sie: eine liederliche Pfuscherei ist sein Machwerk. Man kann das alles nachlesen in George Pistorius: Marcel Proust und Deutschland; Eine internationale Bibliografie. Das Buch hat mir der Friedhard mal geschenkt, esliegt bei mir im Regal, da das voluminöse Hochformat von der Höhe nicht in das Lundia Regal passt. Man kann die ganze Geschichte auch in dem Buch von Nathalie Mälzer Proust oder ähnlich: ProustÜbersetzen in Deutschland nachlesen.

Der Bonner Professor für Romanistik galt als Deutschlands Proust Koryphäe, gegen seine Kritik wagte kaum jemand, etwas laut zu sagen. Jahre später hat Schottlaender, inzwischen Ordinarius für Klassische Philologie, über dessen Antigone Übersetzung kein Kritiker ein böses Wort sagte, über Curtius geschrieben: Es fällt mir nicht ein, an der Lebensleistung Ernst Robert Curtius', insbesondere an seinem Verdienst um Proust, zu mäkeln. Nur daß eben auch er gelegentlich zum bösartigen Fachidioten werden konnte, scheint mir durch sein Vorgehen gegen meine Proust-Übersetzung erwiesen. Die beiden deutschen Philologen Curtius und Schottlaender konnten unterschiedlicher nicht sein. Curtius tritt 1938 in die NSDAP ein und schreibt 1932 in seinem Buch Deutscher Geist in GefahrAber die Schuld trifft nicht nur Deutsche und Deutschstämmige allein, sie trifft ebensosehr unsere Juden, von denen leider gesagt werden muß, daß sie zum überwiegenden Teile und in maßgebender Betätigung der Skepsis und der Destruktion zugeschworen sind. Diese Juden sind von der Idee des Judentums selbst abgefallene Juden... Sie sind aber auch nicht bereit, sich dem Christentum, dem Humanismus oder dem Deutschtum zu öffnen und es aufzunehmen. Es bleibt ihnen also nur die Negation in ihren zwei Formen: Destruktion und Zynismus. Dagegen müssen wir uns wehren, weil Destruktion in einer so zerklüfteten Nation wie der deutschen zehnfach gefährlich ist. Der Jude Schottlaender überlebt das Dritte Reich nur, weil er mit einer nicht-jüdischen Frau verheiratet ist und es ein Gesetz über priviligierte Mischehen gibt.

Es war nicht nur Hermann Hesse, der Schottlaenders Übersetzung lobte (Über die Übersetzung sind unter den Fachleuten Diskussionen entstanden – für meine Person bin ich dem Übersetzer Schottlaender sehr dankbar für seine Arbeit); auch Thomas Mann, der Schottlaender einen vierseitigen Brief schrieb und Theodor Adorno haben das getan. Alfred Kerr, sicherlich kein unkritischer Kritiker, schrieb an den Verlag: Es war ein seltener Genuß, dieser Proust, also hat Schottlaender seine Sache gut gemacht. Und Peter Suhrkamp würdigte 1954 in seinem Vortrag Was kann Marcel Proust uns bedeuten die Leistung von Schottlaender: Rückblickend darf man heute sagen, daß Schottländers Übersetzung, wenn man die Aufgabe bedenkt: für die es absolut kein Vorbild und keinen Vergleich gab – gemessen an anderen Übersetzungen jener Zeit in Deutschland, eine Pioniertat darstellt. Ich mag das Buch sehr, ich besitze den zweiten Band (Der Weg zu Swann) in der Ausgabe von 1926. Diese Ausgabe mit dem Umschlagentwurf von dem berühmten Georg Salter kostet heute richtiges Geld, aber man kann sehr preiswert an die Übersetzung kommen: der Kölner Parkland Verlag offeriert seit 2004 Der Weg zu Swann mit allen 604 Seiten für kleines Geld. Wenn Sie mehr über die Proust Übersetzung von Schottlaender wissen wollen, dann lesen Sie hier doch diesen informativen Artikel von Stephan Reimertz.

Un amour de Swann ist der Mittelteil des ersten Bandes der Recherche, es ist eine in sich abgeschlossene Erzählung, und es ist der einzige Teil des Romans, der nicht von einem Ich-Erzähler erzählt wird. Wenn man sich den Weg zu Prousts riesigem Werk leicht machen will und sich nicht mit einem abstract zufrieden gibt, dann lese man dieses Werk, alles aus der Recherche ist hier schon enthalten. Viele Motive, die später noch ausführlich ausgeführt werden, finden sich schon hier. Der Verlag Die Schmiede, der finanziell am Rande des Abgrunds stand, gab die Zusammenarbeit mit Schottlaender auf und ließ Im Schatten der jungen Mädchen von Walter Benjamin und Franz Hessel übersetzen (hier im Volltext). Danach verkaufte man die Rechte an Proust an den Piper Verlag. Dort erschien 1930 noch Die Herzogin von Guermantes von Walter Benjamin und Franz Hessel (hier im Volltext), und damit war der erste Versuch einer vollständigen deutschen Übersetzung der Recherche zu Ende gekommen. Die Übersetzungen von Benjamin und Hessel sind heute im Anaconda Verlag (Im Schatten der jungen 
Mädchen) und bei Suhrkamp (Die Herzogin von Guermantes) lieferbar. Beide Bände sind ein Lesevergnügen, man merkt den Autoren an, dass sie Frankreich lieben, große Teile der Romane haben sie in Paris übersetzt.

Der Suhrkamp Verlag hatte die Gesamtausgabe der Recherche in der Übersetzung von Rechel-Mertens bis 1982 mehr als 100.000 verkauft, es wurden noch viele Einzeltitel nachgedruckt, sodaß man insgesamt mit Lizenausgaben auf 400.000 verkaufte Exemplare kam. Von keinem anderen zeitgenösisschen französischen Autor waren in Deutschland so viele Bücher verkauft worden. Aber den neuen Verlagsherren reichte ein Urteil wie das von Rudolf Hartung nicht mehr aus: Die deutsche Übertragung von Eva Rechel-Mertens ist ausgezeichnet. Der reich gegliederte, oft labyrinthische Satz Prousts bleibt mit seiner herrlichen rhythmischen Bewegung erhalten: Erst jetzt wird die Sicherheit und Eleganz der Proustschen Diktion sichtbar. Man wollte für die neue Frankfurter Ausgabe einen neuen Proust, und wenn nicht ganz neu, dann doch wenigstens stark überarbeitet.

Was für Hartung Der reich gegliederte, oft labyrinthische Satz Prousts warwar für Walter Benjamin eine Syntax uferloser Sätze (dem Nil der Sprache, welcher hier befruchtend in die Breiten der Wahrheit hinübertritt) gewesen, das Übersetzen erschien ihm als eine elende Schinderei. Jetzt sollte der Schweizer Romanist Luzius Keller (von dem ich das hübsche Buch Proust im Engadin besitze) zusammen mit Sibylla Laemmel für Suhrkamp den Text überarbeiten. Das haben sie getan, mit leichten Revisionen und manchen Neuübersetzungen, es gab inzwischen neue Texte, die Eva Rechel-Mertens nicht hatte kennen können. Da sind das sogenannte Mauriac Typoskript 1987 (eine kürzende Überarbeitung von Albertine disparue) und die Neuausgabe der Recherche in der Bibliothèque de la Pléiade von Jean-Yves Tadié (1987-1989).

Nun könnte man meinen, jetzt sei es genug an Proust Übersetzungen, aber weit gefehlt. Der deutsche Schriftsteller Michael Kleeberg forderte vor Jahren, von diesem völlig in Sprache und Beschreibung gelösten Nichts an Handlung, endlich eine ungezuckerte Übersetzung zu erstellen, die den Fin-de-siècle-Firniss wegschlägt, der Prousts Härte und Eckigkeit, aber auch seine ganze Komik verbirgt. Der frischgegründete Liebeskind Verlag in München gab dem Autor mit der Veröffentlichung von Combray und Eine Liebe Swanns die Gelegenheit, eine Übersetzung ohne Zucker oder Süßstoff herzustellen. 

Der Verlag schrieb dazu: Michael Kleebergs Neuübersetzung tritt mit dem Anspruch an, zum ersten Mal die ganze Vielseitigkeit und den Anspielungsreichtum der Sprache Marcel Prousts zu erfassen. Auch die stilistischen Besonderheiten des Werkes werden genauer wiedergegeben als bisher. Dass dabei die deutsche Sprache bis an ihre Grenzen getrieben wird, so wie Proust es mit der französischen tat, ist die große Leistung. Diese lobhudelnde Werbesprache kommertierte die NZZ mit den Sätzen: Da wird jeder Bogen, den der Text beschreibt, zu einer Ecke, um die der Übersetzer gerade noch kommt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Höchstens noch: 'Bis an ihre Grenzen getrieben' wird jedenfalls die Sprache eines Verlegers, wenn er eine stümperhafte Arbeit - vielleicht ahnungslos, aber er sollte nicht ahnungslos sein - für ein Meisterwerk erklärt

Es war nicht irgendjemand, der Kleebergs Übersetzung, die die Welt eine beglückende Lektüre nannte, vernichtete. Es war der Schweizer Schriftsteller Hanno Helbling, der jahrzehntelang der Feuilletonchef der NZZ war. Vielleicht war die Rezension aber auch nur Konkurrenzneid, denn im Jahr davor hatte Helbling als Übersetzer Albertine: Ein Roman aus der 'Suche nach der verlorenen Zeit' auf den Markt gebracht und 1996 zusammen mit Christina Viragh Der gewendete Tag: Aus der "Suche nach der verlorenen Zeit" in den Vorabdrucken veröffentlicht. Wenn ich  an Keller, Laemmel, Helbling und Viragh denke, habe ich das Gefühl, dass es inzwischen so etwas wie eine Schweizer Proust Mafia gibt.

Für diesen signierten Horst Janssen muss man inzwischen 160 Euro ausgeben, als ich ihn vor Jahrzehnten kaufte, war er billiger. Aber Prousts Recherche ist preisgünstig geworden. Die beiden Bände von Kleeberg kosten zusammen 44€, für 49,95 kann man allerdings schon die ganze Frankfurter Ausgabe im Taschenbuchformat bekommen (98€ broschiert), soll man da für eine Neuübersetzung, über die die FAZ wenig Gutes sagte, soviel Geld ausgeben? Und da wir bei Preisen sind, muss ich den Reclam Verlag erwähnen, der seit vier Jahren den ganzen Proust (plus ein beinahe neunhundertseitiges Handbuch) zu einem Preis von 85€ offeriert. Und das alles in einer ganz neuen Übersetzung. 

Zehn Jahre hat Bernd-Jürgen Fischer an der neuen Übersetzung gearbeitet. Ich habe mir aus Neugier den Band Eine Liebe von Swann gekauft, vier Euro bei ebay, und begann zu lesen. Nach zwanzig Seiten hatte ich genug. Ich dachte mir: irgendwie ist das prollig (wenn ich den Rezensionen bei Perlentaucher glauben darf, bin ich nicht der einzige, dem das nicht gefiel). Ich holte den Band von Eva Rechel-Mertens, fing an zu lesen und war wieder zu Hause. Man merkte, dass Hartung Recht hatte, wenn er sagte: Der reich gegliederte, oft labyrinthische Satz Prousts bleibt mit seiner herrlichen rhythmischen Bewegung erhalten: Erst jetzt wird die Sicherheit und Eleganz der Proustschen Diktion sichtbar. 

Bernd-Jürgen Fischer hat über seine Übersetzung gesagt: mir fehlte ein ganz bestimmter Sprachklang, den ich aus der französischen Übersetzung gehört habe und in der deutschen eben so nicht gefunden hatte. Auf mich hatte Prousts Französisch nüchterner, schärfer konturiert gewirkt. Er nimmt auch keine Rücksicht auf den Leser, der Leser muss sich ihm anpassen und versuchen, ihm zu folgen, während Rechel-Mertens damals in den 50ern, als man dem Leser halt noch nicht so viel zumuten konnte, doch arg viel Öl in das syntaktische Getriebe geträufelt hat, damit er ein bisschen leichter runtergeht. Michael Kleeberg wollte eine ungezuckerte Übersetzung erstellen, die den Fin-de-siècle-Firniss wegschlägt, Fischer setzt auf den Sprachklang, das sagt er auch hier im Interview. Aber wie hört man den Sprachklang?

Er liest sich gut, der erste Band der 'Recherche' in der neuen Übersetzung, wenn man sich ihrem Duktus und Cursus anvertraut und sich auf ihre straff und markant zeichnende Sprache einlässt. Man darf gespannt sein auf die noch folgenden sechs Bände. Wie sich dieser ‚neue‘ Proust gegenüber der bewährten Übersetzung von Rechel-Mertens behaupten wird, wird die Zeit zeigen, und das heißt nicht zuletzt eine jüngere Leserschaft, urteilte Astrid Nettling 2014 im Deutschlandfunk. Da hat die junge Philosophin sicherlich Recht, die Sprache der Übersetzung ist eine Sprache der Generation der Übersetzer. Als Eva Rechel-Mertens bei Curtius promovierte, war Proust gerade drei Jahre tot. Ihr Deutsch ist das Deutsch der Hochsprache des gebildeten Bürgertums, das kann man heute nicht mehr unbedingt voraussetzen.

Der Band 1 der Reclam Ausgabe hat einen achtzigseitigen Kommentarteil, darin ist Fischer wirklich groß. Wenn man im Netz liest, was er zu Robert de Montesquiou (hier von Boldini gemalt) zu sagen weiß, dann kann man nur sagen: Chapeau. Martin Mosebach hebt das in seiner Rezension in der FAZ hervor: Mit Vergnügen und Neugier liest man hingegen Bernd-Jürgen Fischers reichen Anmerkungsteil, der das Umfeld der großen Erzählung weit verästelt erschließt; auf diese Abteilung der Neuübersetzung werden auch die Kenner ungern verzichten wollen, allein ihretwegen schon gehört das Buch in die Bibliothek der Proust-Leser. Das gilt auch für sein Handbuch zu Marcel Prousts 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit', das allerdings mehr etwas für Universitätsbibliotheken und Fachgelehrte als für den normalen Leser ist. Der wäre mit dem Kauf von Philippe Michel-Thiriet Das Marcel Proust Lexikon sicher besser bedient.

Die deutschen Proust Übersetzer haben sehr unterschiedliche Biographien. Schottlaender promovierte 1923 in Heidelberg mit einer Arbeit über die Nikomachische Ethik des Aristoteles. Er war noch nie in Frankreich gewesen, hatte aber einen guten Französischlehrer gehabt: Trotz Franzosenhaß wurde  Französisch nach alter Tradition in unserer Schule früh und ausgiebig gelehrt. Eva Rechel-Mertens war fünfundfünfzig, als sie bei Suhrkamp eingestellt wurde, da konnte sie auf eine Übersetzertätigkeit zurückblicken, die bis in die zwanziger Jahre zurückreichte. Michael Kleeberg war vierzig, als er Proust übersetzte. Da hatte er schon viele Texte aus dem Französischen und Englischen übersetzt, ein halbes Dutzend Romane geschrieben und zwölf Jahre in Frankreich gelebt. Bernd-Jürgen Fischer war siebzig als der erste Band seiner Übersetzung erschien. Er war dreizehn Jahre Dozent in der Germanistik, bevor er freier Autor wurde. Michael Kleeberg ist der einzige der Proust Übersetzer, der keinen Doktortitel hat. Vielleicht lieben ihn die Kritiker deshalb nicht:

Es muss irgendwann ein proustisches Konzil von Nicäa stattgefunden haben, bei dem postuliert wurde, dass alle deutsche Proust-Beschäftigung von Ernst Robert Curtius ausgehe, von ihm auf Eva Rechel-Mertens gekommen sei und exklusiv vom Hause Suhrkamp und der Proust-Gesellschaft verwaltet werde. Nun verstand ich, worauf sich das Gerede von 'Wagnis' und 'Nicht einverstanden' bezog. Aufs Prinzip. Nicht wie ich gearbeitet hatte, stand infrage, sondern dass ich mich ohne die Kaution eines der deutschen Starverlage und ohne Mentor aus dem deutschen Proust-Serail (Tadié, mit dem ich mich bei der Arbeit mehrmals ausgetauscht hatte, hätte hier wenig gezählt) an einem vermeintlichen Privateigentum vergriff.

Das hat Kleeberg in der TAZ geschrieben. Das hat mir sehr gut gefallen. Seine Übersetzung, die das Bureau du Livre der Französischen Botschaft in Berlin unterstützt hat, hat mir auch gefallen. Eine Liebe Swanns, die ich mir trotz der schlechten Rezensionen kaufte, hat mich als Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg fünf Euro bei Booklooker gekostet. Hardcover, noch eingeschweißt, mit einer rätselhaften Umschlaggestaltung von Ines von Ketelhodt, die viel schöner ist als der potthäßliche Umschlag der Originalausgabe. Gut gedruckt, und ein Lesebändchen gibt es auch.

Kleeberg macht Fehler, zum Teil dusselige Fehler, aber Fehler kann man in allen Übersetzungen finden. Kleeberg macht das alles wieder wett, weil er ein guter Erzähler ist. Es liest sich gut, sehr gut, weil alles fließt. Weil ich Fischers und Kleebergs Proust lesen musste, kam ich nicht dazu, Anna Karenina weiterzulesen. Und dann kam dies hier auch noch dazwischen, ein Buchtip von Janni. Alles von Julian Barnes lese ich ja sofort, sein geniales Buch Flaubert's Parrot habe ich schon in dem Post Gustave Flaubert erwähnt. Das Detail eines Gemäldes von John Singer Sargent auf dem Cover des Buches The Man in the Red Coat zeigt den berühmten Dr Samuel Jean Pozzi. Der unter dem Namen Dr Cottard auch in Eine Liebe Swanns vorkommt.

Michael Kleeberg hat seine Übersetzung komplex, hart, manchmal unelegant, aber eindringlich genannt. Er war in der Werbung tätig, er weiß, was Journalisten gerne hören wollen. Ein klein wenig hat er sich gerade an dem Curtius Kartell gerächt: die Neuauflage von Curtius' Essay Marcel Proust bei Schöffling enthält Übersetzungen von Kleeberg. Im Original von 1925 hielt es Curtius nicht für nötig, die zum Teil langen Zitate aus Prousts Werk zu übersetzen. Als Suhrkamp den Text 1952 als Band 28 der Bibliothek Suhrkamp veröffentlichte, waren die Proustschen Zitate von Eva Rechel-Mertens übersetzt worden. In der philologischen Luxusausgabe des Schöffling Verlags kommen Nachwort und die Übersetzungen von Michael Kleeberg. Irgendwann werden die Snobs der Marcel  Proust Gesellschaft ihn schon liebgewinnen.


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Freitag, 29. Januar 2021

The Beggar's Opera

Am 29. Januar 1728 wurde im Lincoln’s Inn Fields Theatre in London das Singspiel The Beggar’s Opera aufgeführt. Mit riesigem Erfolg. Der Text war von John Gay, die Musik, die aus bekannten englischen, irischen und schottischen Liedern bestand, war von Johann Christoph Pepusch. Häufg wird gesagt, dass dieses melodramatische Singspiel, dieses erste Musical, das ohne teure Dekorationen auskam, das Ende des Opernbetriebs von Händel bedeutete. Was nicht ganz richtig ist, aber es ist etwas dran. John Gays ballad opera ist eine Anti-Oper, eine Nummernrevue zum Mitsingen. Wenn Sie den Post Greensleeves lesen, wissen Sie mehr darüber.

Zweihundert Jahre nach John Gays Version des Lebens vom highwayman Jonathan Wild erscheint in Deutschland ein Stück, dessen Arbeitstitel Ein Stück mit Musik in einem Vorspiel mit 9 Bildern nach dem Englischen des John Gay. Übersetzung: Elisabeth Hauptmann. Bearbeitung: Bertolt Brecht. Musik von Kurt Weill lautet. Wir kennen es heute als Dreigroschenoper. Für die gibt es hier schon einen Post, der Seeräuber Jenny heißt. Und unser Jonathan Wilde kommt schon in dem Post Robert Walpole vor. Nichts Neues also heute? Ja doch, ein klein wenig kann ich Ihnen bieten. Nämlich eine Bearbeitung der Beggar's Opera von Benjamin Britten, die die BBC 1948 sendete. Mit Britten als Dirigent, klicken Sie hier. Und dann habe ich noch die Verfilmung von The Beggar's Opera mit Laurence Olivier aus dem Jahre 1953 in Technicolor. Peter Brooke führte hier zum erstenmal in einem Spielfilm Regie, und der Dramatiker Christopher Fry schrieb ein neues Drehbuch. Reclams Filmführer wußte 1973 über den Film zu sagen: Der Film ist vielerlei in einem: ‚große Oper‘ mit einer vorzüglichen Bearbeitung der Originalmusik (von 1728) Johann Christoph Pepuschs durch Arthur Bliss, temporeicher Abenteuerfilm mit einem ironisch-romantischen Helden (Olivier) in der Hauptrolle, intelligente Paraphrase über Dichtung und Wahrheit. (…) Insgesamt ist ‚The beggar‘s opera‘ eine der wenigen geglückten Opern-Verfilmungen.

Samstag, 23. Januar 2021

Orchideen


Ich lese natürlich Anna Karenina zu Ende, das habe ich in dem Post Oberrock schon gesagt. Aber ich habe die Lektüre erst einmal unterbrochen, weil ich mal eben Eine Liebe von Swann neu lesen musste. Nicht in dieser von Jean-Yves Tadié besorgten Ausgabe (Collection Folio classique (n° 6439) Gallimard), sondern in einer mir bis dato unbekannten Übersetzung. Ich suchte für den Anfang des Posts ein Bild von Un amour de Swann und fand dieses, eine stilisierte Blume, umgeben von einem Wirrwarr von Pfeilen. Ich betrachtete das Bild einen Augenblick lang und wusste, was es sein sollte. Die stilisierte Blume ist eine Cattleya, eine Orchideenart. Und diese nach dem britischen Orchideengärtner William Cattley benannte Pflanze hat eine besondere Bedeutung für den Roman, die es rechtfertigt, als Bild auf den Buchumschlag zu kommen.

Odette de Crécy, in die sich Charles Swann verliebt, trägt eine solche Blume im Ausschnitt ihres Kleides. Sie liebt an Blumen nur diese Cattleya (bei Proust catleya) und Chrysanthemen, ihre Wohnung ist voll davon. Die schöne Odette ist, das müssen wir vorausschicken, eine Halbweltdame. Also eine Frau, die uns auch in den Posts les grandes horizontales und Demimonde hätte begegnen können. Oder in dem Post über Marie Duplessis, das Vorbild für die Kameliendame Violetta Valéry in La Traviata

Von der weiß man ja, wieviel Geld sie für Blumen ausgegeben hat, weil man irgendwann nach ihrem Tod die Rechnungen der Floristen gefunden hat. Wenn man sich die Portraits der Damen der Belle Époque von Giovanni Boldini anschaut, dann wird man sehr häufig Blumen im Ausschnitt des Kleides finden. Wie hier bei der Prinzessin Radziwill, einer ersten Jugendliebe von Proust.

Diese Bilder von Prinzessinnen, Comtessen und Courtisanen, die heute wie eine Galerie von Pin Up Girls der Hautevolee des Fin de Siècle wirken, haben natürlich etwas Erotisches an sich. Die muet language des robes, von der Proust spricht, ist nicht wirklich stumm. Die Prinzessin Bibesco, die ihre Begegnung mit Marcel Proust niederschreiben wird (deutsch als Paperback im Insel Verlag), wird hier vom Maler mehr aus- als angezogen. Aber wenn sie auch beinahe nackt ist, die Blume im Ausschnitt des angedeuteten Kleides darf nicht fehlen.

Diese Dame hier auf dem Gemälde von Raimundo de Madrazo y Garreta trägt auch eine Orchidee im Ausschnitt. Sie heißt Laure Hayman und ist die Geliebte von Prousts Großonkel Louis (und vielleicht die auch seines Vaters). Als Louis Weil sie ihm 1888 vorstellt, ist Proust siebzehn Jahre alt, er ist von der zwanzig Jahre älteren Courtisane hingerissen. Drei Jahre später schenkt sie ihrem jugendlichen Verehrer die Erzählung Gladys Harvey von Paul Bourget (der auch einer ihrer Liebhaber war), eingebunden in die Seide eines ihrer Unterröcke. Und mit der Widmung Ne rencontrez jamais une Gladys Harvey versehen. Die Gladys Harvey in Bourgets Roman ist eine Courtisane, mit diesem Werk ist Laure Hayman in die Literatur gewandert. 

Dort wird sie bleiben, denn Proust macht sie zu Odette de Crécy. Der junge Proust ruiniert sich beinahe finanziell, weil er ihr immer Chrysanthemen schickt, ces fleurs fières et tristes comme vous. Wenn Laure Hayman (hier auf dem Gemälde von Federico de Madrazo y Ochoa nackt, aber mit Blumen im Haar) entdeckt, dass Proust sie in eine Romanfigur verwandelt hat, wird sie ihm einen wütenden Brief schreiben, in dem sie ihn anklagt, ein Monster zu sein. Eine Frau, die ich vor 30 Jahren geliebt habe, schreibt mir einen wütenden Brief um mir zu sagen, Odette sei sie, ich sei ein Scheusal. Solche Briefe (und die Antworten darauf) nehmen einem die Lust zur Arbeit, von der Freude an ihr ganz zu schweigen: auf sie habe ich seit langem verzichtet, schreibt Proust im Mai 1922 an seinen Verleger.

Die kreolische Schönheit, die Francis Hayman, den Lehrer von Thomas Gainsborough zu ihren Vorfahren zählt, hat zehn Jahre gebraucht, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass sie Odette sei. Das ist nun ein wenig lächerlich. Laure Hayman war auch nicht die einzige, die ein Vorbild für Odette ist. Die Dame auf diesem Bild mit den Chrysanthemen im Ausschnitt ist nicht Gladys Harvey, das ist Gladys Marie Deacon, über die Proust schrieb: Ich sah noch nie ein Mädchen mit einer solchen Schönheit, Intelligenz, sowie Güte und Charme. Wenn die den Duke of Marlborough heiratet, wird Proust ihr Gast bei der standesamtlichen Trauung sein. Wahrscheinlich trägt er dann wieder eine Orchidee im Knopfloch wie auf dem Portrait von Jacques-Emile Blanche.

Als Vorbild für Odette wird auch immer noch Méry Laurent genannt, Modell und Geliebte von Manet und Vorbild für Zolas Roman Nana. Und da ich bei Manet und Nana bin, muss ich diese junge Dame unbedingt abbilden. Diese Nana, blond wie Laure Hayman, heißt Henriette Hauser, sie ist auch eine Courtisane, die Geliebte des Prinzen Wilhelm von Oranien-Nassau. Sie ist gerade dabei sich für den Abend anzukleiden, der Herr im Frack, den Manet ein Jahr später auf das Bild gemalt hat, wartet darauf, dass sie ihr Abendkleid anzieht. Wahrscheinlich wird sie sich auch eine Orchidee in den Ausschnitt stecken, denn Orchideen sind jetzt chic.

Wo kommen die Orchideen plötzlich her? Ursula Voß sagt in ihrem Buch Kleider wie Kunstwerke: Marcel Proust und die ModeGauguin hatte mit seinen Gemälden von tierhaft sinnlichen Südseeinsulanerinnen den Blumenschmuck im Haar nach Paris gebracht. Die erste Frau mit Blumen im Haar, die Proust sieht, ist die Gräfin Greffulhe: Sie trug eine Frisur von polynesischer Anmut, und malvenfarbene Orchideen fielen ihr bis zum Nacken ... noch nie habe ich eine so schöne Frau gesehen. Die Gräfin Greffulhe, die für Proust das Vorbild der Herzogin von Guermantes wird, in die der Erzähler Marcel unsterblich verliebt ist, gehört natürlich nicht zur Demimonde. 

Auf diesem Photo von Nadar trägt sie keine Blumen im Haar und keine Orchideen im Ausschnitt, die Blumen sind alle auf dem Abendkleid von Charles Frederick Worth, das heute den Namen Robe aux Lys trägt und in einem Pariser Museum zu sehen ist. Sie trägt aber auch manchmal Orchideen, so schreibt Proust an Robert de Montesquiou über einen Ball im Jahre 1894: 

Die Gräfin Greffulhe, kostbar gekleidet: ein Kleid aus fliederrosa Seide, übersät mit Orchideen, bedeckt von Seidenmusselin im gleichen Farbton, der Hut mit Or­chideen geschmückt und ganz von lila Gaze umhüllt.
Kurz vor seinem Tod erbittet sich Proust von der Comtesse einen signierten Abzug des Photos von Nadar, damit er ihre vollendete Schönheit in der Einsamkeit seine Zimmers betrachten könne. Sie lehnt ab. Zwanzig Jahre später wird sie in einem Interview sagen, dass sie Proust kaum gekannt habe und keinerlei Briefe von ihm besitze.

Lassen Sie mich von den Blumen im Haar der schönsten Frau von Paris, die ihren größten Verehrer schnöde verleugnet, wieder zu der Demimonde zurückkehre. Und zu den Blumen im Ausschnitt der Abendkleider. Wie hier bei Marthe Régnier, einer Schauspielerin, die die Mätresse des Barons Henri de Rothschild ist. Ursula Voß weiß in ihrem Buch einiges über die Orchideen bei Proust zu sagen: Weibliches Begehren, die Triebhaftigkeit der Femme fatale, symbolisiert am sprechendsten eine florale Züchtung, ein letztes verfeinertes Produkt der wildwachsenen exotischen Orchidee von unverhohlenem Aufforderungscharakter. Dem Dichter wird sie zum Code für die weibliche Erotik, gleichsam ein Haute-Couture-Gewächs in komplizierter Form und Schnittraffinesse und fein abgestuftem Violett von Hell bis Tintendunkel die Cattleya trianae, ein Sexualorgan in den Augen der Proustologen.

Und damit sind wir beim Thema: Sex. Swann und Odette sitzen in einer Kutsche, die durch vor einem Hindernis scheuende Pferde ein wenig ins Wackeln gekommen ist. Und jetzt sagt Swann zu Odette: 'Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich die Blumen an Ihrem Ausschnitt wieder zurechtrücke, die durch den Stoß verrutscht sind? Ich habe Angst, daß Sie sie verlieren könnten, ich werde sie etwas tiefer hineinstecken.' Sie, die nicht gewohnt war, dass die Männer so viele Umstände mit ihr machten, antwortete lächelnd: 'Aber nein, das macht mir gar nichts aus.' Sie ahnen, was nun passiert.

In ihrem Proust-ABC sagt Ulrike Sprenger: unter dem Vorwand, das Gesteck in ihrem Ausschnitt wieder zurechtzurücken, liebkost Swann ihren Hals, ihre Schultern und ihre Brüste. Für beide ist diese Form der indirekten Annäherung etwas Besonderes: Für Swann, weil er auf diese Weise bis in die erotische Berührung hinein die begehrte Frau als Kunstwerk empfinden kann, die prächtigen, aber geruchlosen und künstlichen Blüten verleihen ihr den Charakter eines kostbaren Blumenarrangements, und für Odette, weil sie es nicht gewohnt ist, daß Männer viele Umstände machen. So bleibt die erste Berührung deswegen reizvoll, weil sie den Umweg »durch die Blume« nimmt, noch keinen endgültigen Besitz bedeutet - weil das Bild der Blume den individuellen Phantasien und Sehnsüchte der Liebenden eine Projektionsfläche bietet. Als die Liebe zwischen Swann und Odette erkaltet und Sex längst zur körperlichen Routine geworden ist, bewahren zwei Dinge die Erinnerung an eine einzigartige Leidenschaft: Das kleine Thema Vinteuils und der Ausdruck »Cattleya machen«, den Odette und Swann seit der ersten Berührung für die körperliche Liebe verwenden. 

Wir brauchen für die Szene in der Kutsche keine Bilder aus einem Film, wir bleiben im Roman. Und wir wissen jetzt, dass die französische Sprache für das faire l'amour jetzt noch einen anderen Begriff hinzugewonnen hat: la métaphore « faire catleya » devenue un simple vocable qu’ils employaient sans y penser quand ils voulaient signifier l’acte de la possession physique — où d’ailleurs l’on ne possède rien — survécut dans leur langage, où elle le commémorait, à cet usage oublié. Et peut-être cette manière particulière de dire « faire l’amour » ne signifiait-elle pas exactement la même chose que ses synonymes. On a beau être blasé sur les femmes, considérer la possession des plus différentes comme toujours la même et connue d’avance, elle devient au contraire un plaisir nouveau s’il s’agit de femmes assez difficiles — ou crues telles par nous — pour que nous soyons obligés de la faire naître de quelque épisode imprévu de nos relations avec elles, comme avait été la première fois pour Swann l’arrangement des catleyas.

Mittwoch, 20. Januar 2021

The Hill We Climb (2)


Heute Morgen konnte ich nur acht Zeilen aus dem Gedicht The Hill We Climb von Amanda Gorman zitieren, mehr gab das Internet nicht her. Aber jetzt ist die Inaugurationsfeier vorbei, Sie können die junge Dichterin hier sehen. Es gibt schon beinahe zweihundert Kommentare. Ich zitiere einmal einen davon: A nation that isn't broken / but simply unfinished. When you're 22 and the President asks you to stand in the shoes of Maya Angelou and Robert Frost and you absolutely nail it. Incredible. Und ein Transkript des Gedichts habe ich auch:

         Mr. President, Dr. Biden, Madam Vice President, Mr. Emhoff, Americans and the world, when day comes we ask ourselves where can we find light in this never-ending shade? The loss we carry a sea we must wade. We’ve braved the belly of the beast. We’ve learned that quiet isn’t always peace. In the norms and notions of what just is isn’t always justice. And yet, the dawn is ours before we knew it. Somehow we do it. Somehow we’ve weathered and witnessed a nation that isn’t broken, but simply unfinished. We, the successors of a country and a time where a skinny black girl descended from slaves and raised by a single mother can dream of becoming president only to find herself reciting for one:

And yes, we are far from polished, far from pristine, but that doesn’t mean we are striving to form a union that is perfect. We are striving to forge our union with purpose. To compose a country committed to all cultures, colors, characters, and conditions of man. And so we lift our gazes not to what stands between us, but what stands before us. We close the divide because we know to put our future first, we must first put our differences aside. We lay down our arms so we can reach out our arms to one another. We seek harm to none and harmony for all. Let the globe, if nothing else, say this is true. That even as we grieved, we grew. That even as we hurt, we hoped. That even as we tired, we tried that will forever be tied together victorious. Not because we will never again know defeat, but because we will never again sow division.

Scripture tells us to envision that everyone shall sit under their own vine and fig tree and no one shall make them afraid. If we’re to live up to her own time, then victory won’t lie in the blade, but in all the bridges we’ve made. That is the promise to glade, the hill we climb if only we dare. It’s because being American is more than a pride we inherit. It’s the past we step into and how we repair it. We’ve seen a forest that would shatter our nation rather than share it. Would destroy our country if it meant delaying democracy. This effort very nearly succeeded.

But while democracy can be periodically delayed, it can never be permanently defeated. In this truth, in this faith we trust for while we have our eyes on the future, history has its eyes on us. This is the era of just redemption. We feared it at its inception. We did not feel prepared to be the heirs of such a terrifying hour, but within it, we found the power to author a new chapter, to offer hope and laughter to ourselves so while once we asked, how could we possibly prevail over catastrophe? Now we assert, how could catastrophe possibly prevail over us?

We will not march back to what was, but move to what shall be a country that is bruised, but whole, benevolent, but bold, fierce, and free. We will not be turned around or interrupted by intimidation because we know our inaction and inertia will be the inheritance of the next generation. Our blunders become their burdens. But one thing is certain, if we merge mercy with might and might with right, then love becomes our legacy and change our children’s birthright.

So let us leave behind a country better than the one we were left with. Every breath from my bronze-pounded chest we will raise this wounded world into a wondrous one. We will rise from the gold-limbed hills of the West. We will rise from the wind-swept Northeast where our forefathers first realized revolution. We will rise from the Lake Rim cities of the Midwestern states. We will rise from the sun-baked South. We will rebuild, reconcile and recover in every known nook of our nation, in every corner called our country our people diverse and beautiful will emerge battered and beautiful. When day comes, we step out of the shade aflame and unafraid. The new dawn blooms as we free it. For there is always light. If only we’re brave enough to see it. If only we’re brave enough to be it.

Eine deutsche Übersetzung des Gedichts finden Sie hier.

The Hill We Climb


John F. Kennedy war der erste amerikanische Präsident, der einen Dichter einlud, bei der Inauguration ein Gedicht zu sprechen. Der 86-jährige Robert Frost hatte ein Gedicht mit dem Titel Dedication geschrieben, kam aber über die ersten Zeilen nicht hinaus:

Summoning artists to participate
In the august occasions of the state
Seems something artists ought to celebrate.
Today is for my cause a day of days.
And his be poetry’s old-fashioned praise
Who was the first to think of such a thing.

Er hatte in der Eiseskälte Tränen in den Augen, die Sonne blendete ihn, da gab er es auf, das gerade geschriebene Gedicht vorzulesen und trug stattdessen sein Gedicht The Gift Outright vor, das konnte er auswendig:

The land was ours before we were the land's.
She was our land more than a hundred years
Before we were her people. She was ours
In Massachusetts, in Virginia,
But we were England's, still colonials,
Possessing what we still were unpossessed by,
Possessed by what we now no more possessed.
Something we were withholding made us weak
Until we found out that it was ourselves
We were withholding from our land of living,
And forthwith found salvation in surrender.
Such as we were we gave ourselves outright
(The deed of gift was many deeds of war)
To the land vaguely realizing westward,
But still unstoried, artless, unenhanced,
Such as she was, such as she would become.

Bei der Inauguration von Joe Biden wird Amanda Gorman ihr Gedicht The Hill We Climb vortragen, sie ist mit zweiundzwanzig Jahren die jüngste Dichterin bei einer solchen Zeremonie. Sie hatte ihr Gedicht noch nicht ganz fertig, als sie im Fernsehen die Ereignisse vom 6. Januar sah. Da schrieb sie ihr Gedicht zuende: And then on the Wednesday in which we saw the insurrection at the Capitol, that was the day that the poem really came to life. And I really put pedal to the metal. Und sie schrieb den Tag mit in ihr Gedicht hinein:
 
We’ve seen a force that would shatter our nation rather than share it,
Would destroy our country if it meant delaying democracy.
And this effort very nearly succeeded.
But while democracy can be periodically delayed,
It can never be permanently defeated.
In this truth, in this faith we trust.
For while we have our eyes on the future,
History has its eyes on us.

Dienstag, 19. Januar 2021

Abgang


Die Süddeutsche brachte vorgestern in ihrem Artikel Schauriger Schlussakkord den römischen Kaiser Nero mit Donald Trump in Verbindung. Der Karikaturist, der in diesem Blog schon häufiger die Leser erfreut hat, hatte diese Idee schon vor der Süddeutschen. Er hat in seinem Cartoon den Vers Glory, Glory, Hallelujah aus der Battle Hymn of the Republic ein klein wenig verändert. Aber so schön jetzt der Einfall ist, Trump als römischen Kaiser zu sehen, es sind schon andere noch früher auf die Idee gekommen. Im März des letzten Jahres erschien ein Buch mit dem Titel American Nero. Das hatte den schönen Untertitel The History of the Destruction of the Rule of Law, and Why Trump Is the Worst Offender. Morgen ist der Fake President Geschichte, die Van Buren Brothers singen schon auf YouTube Bye, Bye, Donny. Wir wollen mal hoffen, dass er in den letzten Stunden seiner Amtszeit nicht auf dumme Gedanken kommt und zu Streichhölzern und Lyra greift.


Montag, 18. Januar 2021

røde pølser


Meine ersten røde pølser habe ich in den fünfziger Jahren in Dänemark gegessen. Die dänische Variante des Hot Dog, diese roten Würstchen mit Röstzwiebeln, süß-sauren Zwiebelscheibchen, Ketchup, Senf und Remoulade sind eine Art dänisches Nationalgericht. Heute vor hundert Jahren erhielten die ersten sechs Pølsevogn die Konzession, røde pølser (die damals noch röter waren als heute) in Kopenhagen auf der Straße zu verkaufen. Das sollte unbedingt in diesem Kulturblog erwähnt werden. Meine besten røde pølser habe ich nicht in dem berühmten Annies Kiosk, sondern in Sonderburg auf der Straße gegessen. Mein schönstes Erlebnis mit der dänischen Delikatesse hatte ich vor vielen Jahren bei einer Kieler Woche. Da hatte sich der FDP Politiker Wolfgang Kubicki, elegant in neuem blauen Anzug, weißem Hemd und gelber Krawatte, gerade an einem dänischen Würstchenstand auf dem Alten Markt vor der Nikolaikirche eine Portion røde pølser gekauft. Er konnte mit dem dänischen Nationalgericht nicht so richtig umgehen und kriegte es beim Esssen hin, dass ihm die ganzen Soßen und die Zwiebeln auf den schönen neuen Anzug und den gelben Schlips liefen. Es war ein wunderbarer Anblick. Immer, wenn ich den Kubicki im Fernsehen sehe, fällt mir diese Szene ein.

Sonntag, 17. Januar 2021

Gregory Corso


Heute vor zwanzig Jahren starb der amerikanische Dichter Gregory Nunzio Corso. Ein Dichter in einer wilden Zeit, als die amerikanische Literatur von Allen Ginsberg, Jack Kerouac und William S. Burroughs bestimmt wurde. Wenn er als Jugendlicher für drei Jahre ins Gefängnis wandert, ist das für ihn ein Bildungserlebnis. Der Italo-Amerikaner wurde von Mafia Gangstern beschützt, die den Kleinen für ein Genie hielten. Das Gefängnis wurde seine Universität, er las und las. Er hatte die Zelle von Lucky Luciano bekommen, der dem Gefängnis seine Bibliothek schenkte, als er Clinton Prison verließ. Lucky Lucianos Zelle besaß eine Lampe, die nachts nicht abgeschaltet wurde, so konnte Corso auch in der Nacht lesen. Seinen zweiten Gedichtband widmete Corso den angels of Clinton Prison who, in my seventeenth year, handed me, from all the cells surrounding me, books of illumination. Ein Kleinkrimineller, ein Mafiaboss und ein Bildungserlebnis, es ist eine erstaunliche Sache.

Im Gefängnis entdeckte das Werk von Percy Bysshe Shelley, das ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen wird. Als er das erste Mal in England ist, hat er in Oxford in Shelleys Zimmer den Fußboden geküsst. Und nach seinem Tod ist er auf dem protestantischen Friedhof von Rom beerdigt worden, zu Füßen des Grabes von Shelley. Das Gedicht, das auf seinem Grabstein steht, hat er selbst geschrieben:

Spirit
is Life
It flows thru
the death of me
endlessly 
like a river
unafraid
of becoming
the sea

Es hat in diesem Blog schon einen Post für Gregory Corso gegeben, der ein klein wenig verborgen ist. Weil er nicht den Namen des Dichters trägt, sondern Fahrkünste heißt. Der Post ist sehr häufig gelesen worden, ich rätsle noch immer, ob das wegen der bescheuerten BMW Fahrerin oder wegen Gregory Corso so ist.

Donnerstag, 14. Januar 2021

Schicht machen


Vor einem Jahr fragte mich ein Freund, was ich von dem übermäßigen Gebrauch des Wortes awesome hielte. Ich sagte: Nichts. Ich hasse es, wenn Wörter ihres Sinns und ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt werden. Also zum Beispiel dieses ubiquitäre vor Ort. Da, wo alle Reporter sind. Als ich das zum ersten Mal im Fernsehen hörte, dass der Reporter vor Ort sei, fragte ich mich: und wo ist das Bergwerk? Denn in die Welt der Bergleute (die neuerdings Bergmänner sind) gehört dieses vor Ort, und es ist auch das Ort, nicht der Ort. Und dann sind da noch die Feuerwehrmänner, die besser Feuerwehrleute sein sollten. Und, und, und. Das fängt morgens mit der Zeitung an und hört abends mit den Nachrichten auf. Vielleicht sollte man in alle Nachrichtenredaktionen einmal Schopenhauers Überlegungen über die Verhunzung der deutschen Sprache geben. Und dann packen wir die ganzen witzigen Bücher von Wolf Schneider noch dazu. Liest niemand diese Bücher mehr? Und da ich gerade dabei bin, Bücher zu empfehlen: Langenscheidt hat ein Lexikon Deutsch als Fremdsprache im Programm. Ist zwar nicht für Deutsche gedacht, kann denen heute aber sehr empfohlen werden. 

Das stand hier im Jahre 2016 in dem Post awesome, ich zitiere das gerne noch einmal. Eigentlich will ich nur auf dieses vor Ort zurückkommen, das aus der Bergmannssprache kommt. Wie die Schicht oder das Arschleder. Und um Bergwerke soll es heute einmal gehen. Ich beginne mal mit Goethe, der in seinem Gedicht über das Bergwerk Ilmenau schreibt:

Anmuthig Thal! du immergrüner Hain!
Mein Herz begrüßt euch wieder auf das beste;
Entfaltet mir die schwerbehangnen Äste,
Nehmt freundlich mich in eure Schatten ein,
Erquickt von euren Höhn, am Tag der Lieb’ und Lust, 
Mit frischer Luft und Balsam meine Brust!

Wie kehrt’ ich oft mit wechselndem Geschicke,
Erhabner Berg! an deinen Fuß zurücke.
O laß mich heut an deinen sachten Höhn
Ein jugendlich, ein neues Eden sehn!
Ich hab’ es wohl auch mit um euch verdienet:
Ich sorge still, indeß ihr ruhig grünet. 

Das geht noch so weiter, Ilmenau am 3. September 1783 ist ein Huldigungsgedicht an Goethes Freund und Landesherrn Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, das ihm Goethe an dessen achtundzwanzigsten Geburtstag überreichte. Sie können hier alles dazu lesen. Das Bergwerk in Ilmenau hat Goethe gut gekannt, seit 1776 war er achtundzwanzig Mal dort gewesen. Um ein Brandunglück aufzuklären, um die verfallenen Bergwerksanlagen zu inspizieren und zu sondieren, ob man den Bergbau wieder aufnehmen könne. Hier hat er auch Über allen Gipfeln ist Ruh geschrieben. Ein halbes Jahr nach der Überreichung des Gedichts erfolgt die feierliche Neueröffnung des Bergwerks, allein, es rentiert sich nicht. 1812 wird der letzte Schacht stillgelegt. Schicht im Schacht würden wir heute sagen, den Ausdruck kannte man damals allerdings noch nicht.

Das Wort Schicht und der Ausdruck Schicht machen sind dagegen schon sehr alt. Und dieses Schicht machen kommt auch in der letzten Zeile eines Bergwerksgedichts vor, das beinahe ein halbes Jahrhundert vor Goethes Ilmenau Gedicht geschrieben wurde. Es stammt von der Dichterin Sidonia Hedwig Zäunemann, die heute vor 310 Jahren in Erfurt geboren wurde. Es ist wie Goethes Gedicht ein Widmungsgedicht (hier im Volltext), dem Herzog Ernst August von Sachsen gewidmet; und es ist ein erstaunliches Gedicht von einer Frau, die am liebsten Männerkleidung trägt:

Man wendet zwar darwider ein:
Kein Weib soll Mannes-Kleider tragen:
(Wenn es gelegne Zeit wird seyn,
Will ich hierauf die Antwort sagen.)
Man wirft mir weiter vor: Dieß sey nicht mein Beruf.
Es sey von Gott der Weiber-Orden
Zum Haushalt nur erschaffen worden,
Man nimmt des Salomons sein Spruch-Buch zum Behuf.
Der König hat zwar recht; allein wer wills uns wehren,
Wenn wir darneben auch uns von dem Pöbel lehren.
Wer straft uns, wenn auch unser Geist

Ein Herz voll Muth und Feuer weist?

Sie weiß, wie es um den Beruf des Bergmanns steht:

Der Bergmann trägt den Lohn
Nach naßen Kitteln, Müh und Schrecken
Und Karren übern Arsch zu drecken,
Nach öftern Mord-Geschrey, an wenig Geld davon.
Von Noth und Kümmerniß, von Jammer-vollen Tagen,
Von Elend, Angst und Schmerz kan uns ein Bergmann sagen.


Aber die Dichterin muss hinein in das Bergwerk:

Des Bergwerks Schönheit nimt mich ein,
Ich will / ich muß ein Bergmann seyn.
Ich kan die Regung meiner Brust
Ohnmöglich länger unterdrücken:
Ich muß zu meiner Herzens-Lust
Mich mit dem Bergmanns-Kleide schmücken.
Der Schacht-Hut ziert mich schon, nun bin ich ganz verkleidt!
Mein Gruben-Licht hat auch sein Feuer.
Kein unterirdisch Ungeheuer,
Noch Fahrt, Gefahr noch Müh sezt mich in Bangigkeit.
Schweigt stille! denn mein Geist wagt alles durchzugehen.
Schweigt! lasset mich im Berg’ die Weisheit Gottes sehen.
Glaubt, daß ich iezt so lustig bin,
Das macht, mir liegt die Fahrt im Sinn.

Es ist ein erstaunliches Gedicht einer emanzipierten Frau, die in eine rein männliche Domäne eindringt. Die Universität Göttingen verleiht der Dichterin Anfang 1738 für ihr Bergwerksgedicht den Titel einer poeta laureata. Goethes Gedicht ist eine gebildete Lobhudelei für seinen Fürsten, das Gedicht der Sidonia Hedwig Zäunemann (bey Gelegenheit des gewöhnlichen Berg-Festes mit poetischer Feder uf Bergmännisch entworfen) ist ein einzigartiges Gedicht in der deutschen Literatur. Es endet mit den wunderbaren Zeilen: 

Ich schweige, denn die Feder bricht,
Ja heut’ ist Fest, ich mache Schicht!

Ich jetzt auch.