Mittwoch, 6. Mai 2020

Violetta in Strapsen oder der Tod im Bahnhof


Am 6. Mai 1854 ist Verdis Oper La traviata im Teatro San Benedetto in Venedig mit großem Erfolg aufgeführt worden, ein Jahr zuvor war sie beim Publikum durchgefallen. Das italienische Verb traviare bedeutet vom Weg abkommen, und eine traviata ist eine vom rechten Weg abgekommene Frau. Sie heißt Violetta Valéry und ist eine Pariser Kurtisane. Die erste Version von Verdi hieß auch noch schlicht Violetta. In der Vorlage für die Oper, in Dumas' La dame aux camélias, heißt sie Marguerite Gautier.

Aber in Wirklichkeit hieß sie Marie Duplessis, hier können wir sie in einer Loge des Theaters sehen, das Aquarell von Camille Roqueplan ist kurz vor ihrem Tod entstanden. Sie war schon schwach, ihre Diener hatten sie in die Loge tragen müssen. Wahrscheinlich hat sie die ganze Zeit gehustet. Nach ihrem Tod erschien ein Nachruf von Amédée Achard, der aus Verehrung für den Baron Grimm dessen Namen als Pseudonym verwendete. Der Nachruf hob die Einzigartigkeit der Kokotte hervor, lange bevor die Verklärung der Marie Duplessis durch den Roman von Dumas erfolgte:

Une femme vient de mourir qui fut, un temps, l'une des plus emportées et des plus charmantes de ces vierges folles qui remplissent toute une capitale du bruit de leur tumulte et de leurs amours ... De cette femme, vous connaissez tout au moins le nom, sinon l'existence: elle s'appelait Marie Duplessis. Elle avait reçu de Dieu une élégance et une distinction naturelles qu'une grande dame eût enviées. La grâce lui était venue comme le parfum vient à la fleur. Ainsi faite et semblable à cette Diana Vernon de Rob-Roy, si svelte et si belle, Marie brûlait sa vie et semblait courir au-devant de la mort. 

Das Leben verbrennen und vor dem Tod weglaufen, aber niemand läuft vor dem Tod (der hier auf dem Bild Marie Duplessis seine Aufwartung macht) davon. Es gibt noch kein Gegenmittel gegen die Schwindsucht, so wie es heute noch kein Gegenmittel gegen Covid-19 gibt. Niemand denkt heute daran, diese Lungenerkrankung romantisch zu verklären. Aber im 19. Jahrhundert ist die Tuberkulose literaturfähig, von Verdis Violetta bis Puccinis Mimi. Wahrscheinlich stirbt auch Effi Briest nicht am gebrochenen Herzen, sondern an der Schwindsucht. Effi stirbt ganz still: Frau von Briest sah, daß Effi erschöpft war und zu schlafen schien oder schlafen wollte. Sie erhob sich leise von ihrem Platz und ging. Indessen, kaum daß sie fort war, erhob sich auch Effi und setzte sich an das offene Fenster, um noch einmal die kühle Nachtluft einzusaugen. Die Sterne flimmerten, und im Parke regte sich kein Blatt. Aber je länger sie hinaushorchte, je deutlicher hörte sie wieder, daß es wie ein feines Rieseln auf die Platanen niederfiel. Ein Gefühl der Befreiung überkam sie. 'Ruhe, Ruhe.'

Verdis Violetta stirbt nicht still. Sie fühlt noch einmal, dass das Leben zurückkommt: È strano! Cessarono gli spasimi del dolore. In me rinasce - m'agita insolito vigor! Ah! ma io ritorno a viver! Oh gioia! Die Melodie, die sie singt, kennen wir schon, wir haben sie schon am Anfang der Oper gehört, weil der Anfang der Oper musikalisch das Ende vorwegnimmt. Dieses ma io ritorno a viver! ist ein euphorisches Aufbäumen, aber in Wirklichkeit ist es ihr Tod.

Die Rückkehr des geliebten Alfredo hatte ihr die Hoffnung gegeben, da sang sie mit ihm noch einmal im Duett:

Parigi, o cara, noi lasceremo,
la vita uniti trascorreremo;
de' corsi affanni compenso avrai,
la tua salute rifiorirà.
Sospiro e luce tu mi sarai,
tutto il futuro ne arriderà.


In der Welt der Oper gibt es für Frauen nur drei Möglichkeiten für das Opernende: Hochzeit, Wahnsinn und Tod. Mit Hochzeiten enden Opern von Mozart, die Italiener haben es gerne dramatisch und bevorzugen Wahnsinn und Tod. Oder Wahnsinn und Tod, wie hier in Lucia di Lammermoor. Die Themen der englischen Gothic Novel des 18. Jahrhunderts reichen bis in die Libretti der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts hinein. Edgar Allan Poes Satz The death of a beautiful woman is, unquestionably, the most poetical topic in the world zeigt seine Wirkung.

Bei der Aufführung der Oper in Aix-en-Provence 2003 hatte man Mireille Delunsch in Marilyn Monroe verwandelt, das ist eine Interpretation, über die man reden kann. Über die Grazer Aufführung von Peter Konwitschny, der die Violetta als Supernutte beschrieb, vielleicht eher nicht. Der Sohn des Dirigenten Franz Konwitschny hat in vielen Inszenierungen gezeigt, wie weit man den Unsinn des Regietheaters treiben kann.

Bei ihm muss Marlis Petersen als ✺Violetta auf einem Stuhl balancieren, was einen Kommentator bei YouTube zu den Sätzen brachte: I feel for Ms. Petersen! She must be a gentle soul. I, in her place, would have clobbered that stage director to death. With the very chair he'd wanted me to fall off during this scene. What an idea! Imagine how any of the great Violettas of the past would have reacted to such ludicrous 'staging'. Und Ulrich Weinzierl schrieb in der Welt: Rühmenswert freilich der Einsatz von Marlis Petersen. Noch in der Schwäche dominiert sie, eine gebildete, selbstbewusste Frau, ihre Umgebung. Virtuos strauchelt sie, fällt tadellos vom Stuhl, beherrscht sämtliche stimmliche Nuancen. Diese Violetta ist auf ihre Weise eine faszinierende Gestalt, greift indes nicht ans Herz. Warum? Weil sie fast bis zum Schluss unheilbare Gesundheit und Stärke ausstrahlt. 

In einem anderen Regiekonzept und bei subtilerer Orchesterunterstützung als der ihr von Tecwyn Evans' zum Leierkastenhaften neigenden Dirigat gewährten wäre sie gewiss eine überwältigende Traviata. So fällt sie bloß aus dem sonst eindimensionalen, groben Rahmen. Das hier ist keine Leidende, das ist eine Power Frau. Ist das die wahre Violetta?

Verdis Oper steht und fällt mit der Besetzung der Violetta. Die wurde bei der Premiere 1853 ausgebuht, weil sie zu alt und zu fett war. 1854 sang im Teatro San Benedetto eine zwölf Jahre jüngere und viele Kilo schlankere Sopranistin die Rolle. Das machte den Unterschied zwischen Flop und Erfolg. Wenn man so ein Negligé trägt wie Sinéad Mulhern, hat man die Kritiker schon mal auf seiner Seite. Nach dem Mißerfolg in Venedig soll Verdi, der seine Oper ursprünglich Amore e morte nennen wollte, gesagt haben: Il tempo ci dirà. Er hat Recht gehabt, es wurde seine beliebteste und meistgespielte Oper.

Es hatte lange Zeit genügt, dass die Sängerin, die die Violetta singen sollte, singen konnte. Dann bekam sie noch ein weißes Kleid, das trotz ihres Lebenswandels für eine gewisse Unschuld steht, aber auf dem man auch die roten Flecke des Bluthustens sehen konnte. Und mit etwas Schminke bekam das Gesicht etwas Schwindsüchtiges. Was übrigens im viktorianischen England ein Schönheitsideal war, a sublime tubercular emaciation wurde angestrebt. Magersüchtige Kindfrauen sind das Ideal einer Epoche. Aber eine schlanke dahinleidende Schönheit reicht den Vertretern des Regietheaters heute nicht mehr. Da muss die Violetta schon wie Marlis Petersen auf einem Stuhl balancieren, oder wie Natalya Pavlova in einem Boot sitzen.

Hunderte von Sängerinnen haben die Violetta gesungen, und unzählige Regisseure haben ihre Version der Welt einer Pariser Kurtisane in der Mitte des 19. Jahrhunderts (oder ihre eigenen Obsessionen) auf die Bühne gebracht. Weshalb allerdings Violetta in diesem Boot sitzen und singen muss, ist nicht so ganz klar. Sie stirbt aber im ✺Bett und nicht im Boot. Die Kostüme der Bielefelder ✺Inszenierung sind auch gewöhnungsbedürftig. Am besten von all den seltsamen Dingen gefällt mir Liudmila Lokaichuk in Strapsen, ich habe ✺hier einen kleinen Ausschnitt. Sie kann übrigens auch singen. Und wenn Sie wissen wollen, wie Violetta im Züricher Hauptbahnhof stirbt (mit Krankenwagen und Blaulicht), müssen Sie ✺dies hier anklicken.

Ich hätte für Sie, da im Augenblick alle Opernhäuser dicht sind, hier eine schöne ✺Inszenierung mit Renee Fleming als Violetta. Und der Opernfilm von Franco Zeffirelli mit ✺Teresa Stratas darf natürlich nicht fehlen. Falls Sie das Libretto suchen sollten, das finden Sie hier. Einen ausführlichen La Traviata Post gab es vor acht Jahren schon einmal. In dem natürlich die sagenumwobene Aufführung in Lissabon mit der Callas und ✺Alfredo Kraus erwähnt ist, die ich die letzten Tage gehört habe, als ich dies schrieb. Marie Duplessis wird schon in dem Post Charles Chaplin erwähnt. Und wenn Sie mehr über das Leben der Kurtisanen in Paris im 19. Jahrhundert wissen wollen, sollten Sie die Posts Demimonde und Les grandes horizontales lesen.

Und dann gibt es noch zwei Kuriositäten: Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg serviert uns zur Zeit bei YouTube ein vierminütige Version der Oper aus der Küche als ✺La Traviata - The Hamburg Kitchen Opera mit Klopapierrollen als Dekoration. Mein Liebling ist aber dieser Flashmob aus einem Kaufhaus in Amsterdam. Ohne Berührungsängst, und ohne Klopapier.

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