Samstag, 2. Mai 2020

eine seltsame Geschichte


Sein Vater war Pastor in einem kleinen Kaff außerhalb unserer Stadtgrenze. Es gab da eine schöne kleine Kirche aus dem 12. Jahrhundert, die man im Dorf beharrlich Nygenkerke nannte, weil es davor schon einmal eine ältere Kirche gegeben hatte. Der Helmut war älter als ich, war ein interessanter Typ. Wir waren keine richtigen Freunde, aber ich habe ihn manchmal da draußen besucht. Musste den Postbus nehmen, die Bremer Busse fuhren nicht so weit raus. Wir redeten über Gott und die Welt und was wir mit dem Leben vorhatten. Das hübsche Pfarrhaus lag neben der Kirche, es war sehr alt, frühes 18. Jahrhundert. Mir gefielen alte Häuser, das Haus, in dem ich aufwuchs, war aus dem Jahre 1830. Als der Helmut Abitur machte, verschwand er erst einmal aus meinem Blickfeld. Ich habe seinen Vater einmal bei uns im Ort getroffen und mich nach seinem Sohn erkundigt. Ich erfuhr, dass er zur Bundeswehr gegangen sei und jetzt Berufsoffizier sei. Seltsam, über die Bundeswehr hatten wir in all unseren Gesprächen niemals geredet. Aber dort habe ich ihn nach Jahren wiedergetroffen.

Ich war auf dem Unteroffizierslehrgang in einem fremden Ort, und da sah ich ihn plötzlich in der Kaserne. Er war inzwischen Oberleutnant geworden. Ich ging zu ihm hin, um ihn zu begrüßen und ein wenig mit ihm zu schnacken. Und da brüllte er mich an, ich solle gefälligst Haltung annehmen. Wie käme ich überhaupt dazu, einen Vorgesetzten zu duzen? Ich war für einen Augenblick sprachlos. Ich nahm keine Haltung an und sagte: Du weißt genau, wer ich bin, bist Du jetzt total bescheuert? Ließ ihn stehen und ging, ohne militärisch zu grüßen. Was war nur aus dem Kerl geworden? Ich habe ihn während des Lehrgangs nicht wiedergesehen, aber ich zog vorsichtig Erkundigungen über ihn ein. Ich erfuhr, dass seine Untergebenen ihn hassten, dass er soff und nachts betrunken mit seinem Motorrad durch die Korridore der Kaserne fuhr.

Ich erfuhr noch mehr über ihn, weil die Tochter des Kommandeurs seines Bataillons die beste Freundin von der Anne war. Mein Oberleutnant war das schwarze Schaf des Bataillons, seine Karriereaussichten waren sehr schlecht, beim Kompaniecheflehrgang war er durchgefallen. Der Kommandeur des Panzerbatillons war übrigens wenige Monate später tot, sein Jeep war in einem Manöver nachts von einem Panzer überrollt worden. Das war eins der ersten Großmanöver der Bundeswehr, mehr als dreißigtausend Mann waren im Einsatz. Das Manöver wurde nach fünf Tagen abgebrochen, da hatten wir zweiunddreißig Tote. Alles Verkehrsunfälle, kein Schuß war gefallen. Es gab noch einen Feldgottesdienst in der Mitte der Lüneburger Heide, das war ein schöner, warmer Septembertag. Der Feldgeistliche stand oben auf dem Hügel, ich habe kein Wort von seiner Rede verstanden. Ich lag unten in der Heide und dachte über den Unsinn der Bundeswehr nach. Das mit dem Oberstleutnant von dem Panzerbataillon war natürlich traurig, aber wer stellt schon in einem Manöver seinen Jeep nachts unbeleuchtet in einer Kurve ab und legt sich schlafen?

Den Sohn des Pastors hatte ich vollkommen vergessen, aber ich habe ihn, als ich gerade Leutnant und Adjutant des Kommandeurs geworden war, noch einmal wiedergetroffen. Das war in dem kalten Winter in Bergen-Hohne, wir hatten am frühen Nachmittag unser Quartier bezogen, ich teilte mir ein Zimmer mit einem Oberleutnant von den Panzeraufklärern, der sehr nett war. Niedersächsicher Kleinadel, die Offiziere der Truppe mit den gelben Kragenspiegeln waren damals ja beinahe alle adlig. Weil sie die Nachfolger der Kavallerie waren. Manche trugen gelbe Seidenwesten unter der Uniformjacke. War zwar verboten, aber die Kavallerie war eben etwas Besonderes.

Ich sollte mich am Abend bei dem Colonel des englischen Regiments melden, weil mein Kommandeur mich zum Verbindungsoffizier ernannt hatte. Draußen hatte es angefangen zu schneien. Es war noch Zeit, vorher zu duschen und dann die gute Uniform anzuziehen. Der Trakt der Kaserne, in dem der Duschraum war, war völlig verlassen. Ich musste erst das Licht anmachen, ging eine Treppe hoch, an großformatigen Photos von toten Generälen vorbei. Auch der Korridor des ersten Stocks war voller Photos. Viele der Abgebildeten trugen das Ritterkreuz. Waren Widerständler dabei? Oder berühmte Nazis? Ich weiß es nicht, dies war nicht meine Kaserne. Ich wollte hier ja nur duschen.

Das habe ich auch getan. Als ich wieder auf dem Korridor war, hörte ich laute Motorengeräusche. Ich ging zum nächsten Fester und schaute nach draußen in die Dunkelheit. Ein halbes Dutzend M48 Panzer war beim Einrangieren auf dem Kasernenhof. Und da sah ich ihn, im Turm des Panzers direkt unter mir. Ich erkannte ihn sofort wieder. Ein Schäferhund war an den Geschützturm gekettet und kläffte und heulte ganz jämmerlich. Mein Oberleutnant kletterte vom Panzer und gab einem Untergebenen irgendwelche Befehle, ein Unteroffizier brachte ihm eine Tasche. Er nahm sie in Empfang und ging zum Eingang der Kaserne. Er wollte offenbar auch duschen. Der Schäferhund blieb weiterhin angekettet. Und heulte weiterhin. Ich wollte dem Typ nicht unbedingt begegnen, ich verschwand erst einmal in dem nächsten offenen Zimmer, einem leeren Schlafsaal. Er ging in den Waschraum zu den Duschen. Ich wollte gerade gehen, da sah ich, dass der Schlüssel zu dem Duschraum von außen steckte. Und in diesem Augenblick ritt mich der Teufel. Ich ging zu der Tür des Duschraums und schloß sie ab. Zweimal. Dann drehte ich am Sicherungskasten neben dem Feuerlöscher die Sicherung raus, sodaß in diesem Gebäude garantiert kein Licht mehr brannte.

Ich ging hinunter zu seinem Panzer und redete ruhig auf den heulenden Schäferhund ein, der dreihundert Kilometer in der Kälte auf dem Panzer angekettet gewesen war. Ich kann gut mit Hunden umgehen, wir hatten immer Hunde gehabt, seit ich klein war. Ich kletterte auf den Panzer und machte den Hund von der Kette los. Er sprang vom Panzer und jachterte über den leeren Kasernenhof davon. Ein kleiner schwarzer Fleck auf der großen weißen Fläche. Immer kleiner werdend. Den Oberleutnant habe ich nie wiedergesehen. Er seinen Hund auch nicht.

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