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Donnerstag, 30. März 2023

Himalaya


Nein, ich war noch nicht im Himalaya. Ich habe nur einen hübschen Titel gesucht, weil ich über die Certina DS schreiben wollte, die ich am Arm trage. Es ist eine knuffige Uhr. Das DS steht nicht für Déesse wie bei Citroën (lesen Sie mehr in dem Post Göttin), das DS steht für Doppelte Sicherheit oder double security. Man wollte bei dieser Sportuhr das Uhrwerk vom Gehäuse entkoppeln, um es vor Schlägen zu schützen. Normalerweise wird bei Uhren das Uhrwerk auf das Zifferblatt geschraubt und das Ganze in das Gehäuse eingesetzt. Jeder Stoß auf das Gehäuse überträgt sich auf das Werk, dass wollte der Ingenieur Philipp Kurth verhindern. Er wählte dafür einen dicken Weichkunststoffring, der das Werk sozusagen schwimmend im Gehäuse hielt.

Zuerst waren diese Ringe schwarz, wie auf diesem Bild, später waren sie quietschegelb. Meine Certina DS hat noch nicht das, was das Erfolgsmodell Certina DS immer wieder auf dem Gehäuseboden zeigte: das Symbol einer Schildkröte. Das Gehäuse der Certina DS wurde von der Firma Huguenin Freres hergestellt, meins hat noch keine Patentnummer, sondern den eingravierten Zusatz Swiss Patent Pending. Im Archiv von Ranfft Uhren kann man genau solch ein Exemplar sehen.

Auf einer Seite für Certina Sammler kann man lesen: Trotz der klassischen Formgebung mit den Bombay-Bandanstößen war die Uhr also sehr robust. Sie hielt Stöße bis zu sechs Metern aus und war bis zu 200 Metern wasserdicht. Die ersten Exemplare, die 1959 auf den Markt kamen, hatten Dauphine-Zeiger, einen glatten Gehäuseboden, noch ohne das Schildkrötenlogo .... Ganz frühe Exemplare hatten noch einen Hinweis auf die Patentanmeldung anstelle der Patentnummer auf der Innenseite des Bodens eingeprägt. Dieses Patent (346825) bezog sich auf die elastische Halterung des Werks und wurde am 8. Mai 1958 vom Gehäusehersteller Huguenin Frères aus Le Locle angemeldet. Das mit den Bombay Bandanstößen ist völliger Quatsch, aber es hat sich eingebürgert. Eigentlich sollte bmbé da stehen, denn die Bandanstöße waren (wie bei vielen Sportuhren) bombiert.

Im Jahre 1888 hatten die Brüder Adolf und Alfred Kurth in Grenchen das Unternehmen Kurth Frères gegründet, damals hatten sie drei Angestellte, die in einem Anbau neben ihrem Elternhaus arbeiteten. 1972 hatte die Firma neunhundert Mitarbeiter und stellte 600.000 Uhren im Jahr her. Damals ging es der Firma noch gut, da hatten sie einen Großautrag der schwedischen Firma Volvo, die zum fünfzjährigen Bestehen jedem iher Mitarbeiter weltweit eine Certina Blue Ribbon mit dunkelblauem Zifferblatt schenkte. Die Certina DS war der große Erfolg der Firma Certina gewesen, von 1959 bis 1968 wurden 300.000 Uhren verkauft. Jetzt war die Blue Ribbon das Topmodell. Und Certina brachte, und das ist ein wenig freaky, die Certina Biostar auf den Markt, die dem Träger angeblich seine Biorhythmen anzeigte.

Der Name Certina, vom lateinischen certus (sicher) abgeleitet, kam erst zum 50jährigen Jubiläum 1938 auf die Zifferblätter der Uhren. Davor hatten die den Namen Grana auf dem Zifferblatt, häufig mit dem Zusatz Kurth Frères. Dieses Grana leitete sich von einer latinisierten Form des Ortsnamens Grenchen ab, einen Fussballclub FC Grana hatte die Fabrik auch. Die Brüder Kurth hatten auch schon 1906 eine eigene Krankenversicherung für ihre Mitarbeiter, das gab es nicht überall in der Schweizer Uhrenwelt. Und man sollte noch erwähnten, dass die Firma Kurth Frères eine Manufaktur war, sie bauten ihre eigenen Uhrwerke (ab 1951 auch eigene Automatikwerke). Das hat eine Firma wie Rolex das ganze 20. Jahrhundert nicht geschafft, sie wurden erst eine Manufaktur, als sie ihren Werklieferanten Aegler aufkauften. 

Hier ist der Gehäuseboden mit der Schildkröte, den meine Certina aus dem Jahre 1959 nicht hatte. Die Schildkröte sollte ein Symbol für die Widerstandfähigkeit der Uhr sein. Und widerstandsfähig waren diese wasserdichten Uhren wirklich. Man hat sie zu Werbezwecken aus einem Helikopter abgeworfen und in einen Eishockey Puck, den der Natonalspieler Rolle Stoltz mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h ins Tor befördert. Die ganze schwedische Eishockey Nationalmannschaft erhielt dann auch eine Certina DS. Es war auch werbewirksam, dass Certina die Mitglieder des Schweizer Teams unter Leitung von Max Eiselin mit den DS Uhren ausgestattet hatten; die Bergsteiger haben nämlich 1960 den Dhaulagiri (8167m) bezwungen. Meine Uhr war bei der Expedition dabei, allerdings nicht auf dem Gipfel, sondern in einer Kiste für Ersatzteile. Das hat mir der nette ältere Herr erzählt, der mir die Uhr verkauft hat. Er hatte sogar ein Photo von sich und den anderen Bersteigern. Ich glaube ihm das mal, und deshalb heißt der Post heute Himalaya

Wenn man sich 1960 eine Certina DS mit Edelstahlband gekauft hatte, dann ist das Band heute mehr wert als die Uhr. Es stammt von der Firma Gay Frères, die die besten Bänder in der Schweiz machten (lesen Sie mehr in Armbänder). Händler verlangen heute für dieses Band achthundert Euro. Die Edelstahlarmbänder von Gay Frères waren auch an den Sportuhren Zenith Defy, IWC Yacht Club, Tissot PR 516 GL und EternaMatic KonTiki. Die mit Ausnahme der KonTiki alle ein abgefedertes Werk hatten, das gab es nicht nur bei Certina. In Deutschland hatten Zentra mit dem Modell Zentra Schwebering und Junghans mit der Trilastic auch Systeme zur Abfederung des Werkes, aber diese Uhren gab es nie mit einem Gay Frères Armaband.

Eine Uhr fehlt mir in meiner Certina Sammlung, und das ist die Certina Labora aus den vierziger Jahren, die die Firma mit Pour l'Homme Actif und Die Uhr des Werktätigen bewarb. Die Werbebilder zeigten Menschen im Arbeitsalltag, für eins der Plakate bediente man sich bei Ferdinand Hodlers Bild Holzfäller. In gewisser Weise war die Labora ein Vorläufer der Certina DS. Die kostete 1960 etwa 220 Mark, eine Junghans konnte man für die Hälfte bekommen. Aber die hielt nicht solange wie eine Certina. In der großen Uhrenkrise der Schweiz ging die Certina unter wie viele andere Firmen, sie ist heute Teil der Swatch Group. Sie sind auch nicht mehr in Grenchen in der Bahnhofstraße zu Hause, sie sitzen jetzt in Le Locle. Seit dem Jahr 2013 gibt es wieder Modelle mit einer Schildkröte auf dem Gehäuseboden. Aber das ist nicht mehr dasselbe. Heute sehen alle Uhren gleich aus. Und überall ist ein ETA Werk aus Grenchen drin. In den Rolex Tudors auch. 

Montag, 27. März 2023

Blow out the candles of your cake


In dem Geburtstagspaket von der Daniela war neben den schönen Büchern (von denen dies wahrscheinlich hier noch einmal auftauchen wird) auch eine Geburtstagskarte mit einem handgeschriebenen Gedicht. Den Dichter Richard Wilbur kannte ich, aber das Gedicht hatte ich noch nie gelesen:

Blow out the candles of your cake.
They will not leave you in the dark,
Who round with grace this dusky arc
Of the grand tour which souls must take.

You who have sounded William Blake,
And the still pool, to Plato’s mark,
Blow out the candles of your cake.
They will not leave you in the dark.

Yet, for your friend’s benighted sake,
Detain your upward-flying spark;
Get us that wish, though like the lark
You whet your wings till dawn shall break:
Blow out the candles of your cake.

Aber das schöne Geburtstagsgedicht hatte einen Untertitel, der mich rätseln ließ: For K. R. on Her Sixtieth Birthday. Wer war K.R.? Wilbur hat das Jahrzehnte später in einem Interview beantwortet:

That’s a sort of funny story. I had known briefly the English poet Kathleen Raine, who, as the poem sort of mentions, was not only a poet but was devoted to William Blake, and there were certain people she liked to expound. She was having a birthday; somebody wrote me from England saying that Kathleen’s having a sixtieth birthday, and we want to give her a party and we want to have lots of poems of greeting and celebration, of congratulation, and so will you write one? I remember that it came to me in the middle of the night that I ought to write something to her in the form of a rondeau, but perhaps the initial line that occurred to me proposed that. In any case, I was pleased to wake up and write a poem in the middle of the night, which doesn’t usually happen to me. And before I sent it off to this fellow in England, I got a letter from Kathleen Raine saying so-and-so has been a terrible busy-body, and he’s making people write poems for my birthday and I don’t want you to bother. But I sent it to him and said, “I think I’ve written a good poem and so I’m not going to suppress it."

Ich wollte das Gedicht eigentlich im April in meinem Blog verwenden. Sie wissen ja, dass es hier im Poetry Month April seit 2010 immer Gedichte gibt. Aber dann fiel mir ein, dass der Yogi am 27. März Geburtstag hat. Den Yogi habe ich schon mehrfach erwähnt, zuletzt wohl in dem Post Print On Demand. Ich beschloß, das mir geschenkte Gedicht an Yogi weiterzureichen, und so geht das heute mit meinen Geburtstagswünschen nach Northfield, Minnesota. Wenn ich mein Exemplar der Collected Poems von Wilbur wiederfinde, gibt es im April vielleicht noch mehr von ihm. Und da ich heute spendabel bin, habe ich für das Geburtstagskind noch ein zweites Gedicht von Richard Wilbur. Der hatte das Geburtstagsgedicht für die englische Dichterin Kathleen Jessie Raine am 22. August 1968 im New York Review veröffentlicht. Zusammen mit einem Gedicht, das Playboy heißt. Um das gleichnamige Magazin geht es in diesem Gedicht. Es ist übrigens das zweite Playboy Gedicht in diesem Blog, es gab hier schon mal eins. Im Internet bietet ein Händler ein von Wilbur signiertes Exemplar des Gedichts für 198 Dollar an, bei mir bekommen Sie das Gedicht umsonst:

High on his stockroom ladder like a dunce
The stock-boy sits, and studies like a sage
The subject matter of one glossy page,
As lost in curves as Archimedes once.

Sometimes, without a glance, he feeds himself.
The left hand, like a mother-bird in flight,
Brings him a sandwich for a sidelong bite,
And then returns it to a dusty shelf.

What so engrosses him? The wild decor
Of this pink-papered alcove into which
A naked girl has stumbled, with its rich
Welter of pelts and pillows on the floor,

Amidst which, kneeling in a supple pose,
She lifts a goblet in her farther hand,
As if about to toast a flower-stand
Above which hovers an exploding rose

Fired from a long-necked crystal vase that rests
Upon a tasseled and vermilion cloth
One taste of which would shrivel up a moth?
Or is he pondering her perfect breasts?

Nothing escapes him of her body’s grace
Or of her floodlit skin, so sleek and warm
And yet so strangely like a uniform,
But what now grips his fancy is her face,

And how the cunning picture holds her still
At just that smiling instant when her soul,
Grown sweetly faint, and swept beyond control,
Consents to his inexorable will.


Richard Wilbur hat das Gedicht am 7. März 1973 vorgelesen. Er begann seinen Vortrag mit den Worten: I seem to be somewhat out of touch with the feelings of the women's lib movement because I understand that this poem has not pleased all women. Er kann ja nur froh sein, dass es der siebte März war und nicht der achte, das wäre der Weltfrauentag gewesen. Da achtet das women's lib movement schon darauf, was gesagt wird.

Sonntag, 26. März 2023

Benjamin Thompson


Thomas Gainsborough hat dieses Bild von Benjamin Thompson gemalt, ein Jahr bevor der englische König den Mann aus Amerika zum Ritter schlug. Thompson wurde heute vor 270 Jahren in der Nähe von Boston geboren, und ich nutze mal diese Gelegenheit, ihn meinen Lesern vorzustellen. Er ist irgendwie mein Liebling. Der self-made man hat ein Leben, aus dem man ein Dutzend Romane (oder Filme) machen könnte. If the life of the American-born scientist Count Rumford had been created in a novel, nobody would believe it, schrieb der Rezensent des Kirkus Review über eine neue Rumford Biographie. Und ich kann nur hoffen, dass man ihn in Bayern heute noch kennt. Denn wenn Bayern in der Zeit der Aufklärung zu einem modernen Staat geworden ist (was Norddeutsche vielleicht bezweifeln), dann ist das sein Verdienst.

Es ist ein langer Weg aus einem kleinen Kaff in Hamphire namens Rumford (heute Concord) über London und München bis Paris. Dort liegt er auf dem Friedhof von Auteuil begraben. Und was hat der Mann, der als Geheimagent  für die Engländer seine Laufbahn begann (wo er eine unsichtbare Tinte erfand), nicht alles an Titeln angehäuft! Um einmal nur im militärischen Bereich zu bleiben: Major in der amerikanischen Miliz, Oberst im englischen Heer, General in der bayrischen Armee. Und dabei ist das eigentlich gar nicht sein Metier, seine Verdienste liegen auf einem ganz anderen Feld. Und wenn Sie sich jetzt fragen, was dieser Kamin hier soll, so habe ich natürlich dafür auch eine Erklärung.

In Bayern macht der ehemalige Unterstaatssekretär für Amerika Sir Benjamin Thompson, der über keine abgeschlossene Schulbildung verfügt, eine erstaunliche Karriere. Man macht ihn zum Generalmajor, Generalleutnant, Oberkommandierenden der Armee, Kriegsminister und Polizeichef. Und der bayrische Kurfürst erhebt Thompson als Graf von Rumford in den Reichsgrafenstand. Sein einziger Karriereknick ist seine Ernennung zum kurfürstlichen Gesandten am Hofe von St James. Es wird ihm auf vielerlei Wegen mitgeteilt, dass der König diese Akkreditierung nicht wünscht; jemand, der einmal englischer Staatsbürger (und Under-Secretary in the American Office) war, könne nicht Botschafter einer fremden Macht sein. Das sind die offiziellen Gründe, dahinter steckt aber, dass man ein wenig Angst hat, weil Rumford inzwischen enge Bindungen an Frankreich hat. Über seine Mission in London kann man mehr in dem Aufsatz Benjamin Thompson, Reichsgraf Rumford, seine Londoner Mission 1798 von dem Historiker Wolf D. Gruner lesen.

Sir Benjamin Thompson wird niemals mehr nach Rumford zurückkehren (aber sein Titel wird ihn immer an den Heimatort erinnern), er ist überall und nirgends zu Hause, in London, München und Paris. Der Gründer der Royal Institution war solch ein Weltbürger - er wurde zum Kosmopoliten mehr durch die Macht der Umstände und durch seine eigene innere Entwicklung als durch Herkunft und Ehrgeiz: ein Mann, der auszog, um Ruhm und und Reichtum mit allen Mitteln zu erringen, und der zum Wohltäter der Menschheit wurde; ein skrupelloser Streber, der als Sozialreformer in die Geschichte einging; ein Anbeter militärischer und politischer Macht, der in den Annalen der Wissenschaft einen Ehrenplatz erhielt, schreibt Egon Larsen in seinem schönen Buch Graf Rumford: Ein Amerikaner in München (1961 bei Prestel erschienen). 1999 erschien das hervorragende Buch Scientist, Soldier, Statesman, Spy. Count Rumford: The Extraordinary Life of a Scientific Genius von George Ingham Brown, das es 2002 in deutscher Übersetzung bei dtv gab.

Treffender, als Larsen es formulierte, kann man Benjamin Thompson in dieser Kürze wohl nicht beschreiben. Er ist eine widersprüchliche Figur, manche halten ihn für einen Scharlatan. Die Grenzen der Wissenschaft sind noch nicht so eng gesteckt wie heute, es gibt noch so viel zu entdecken. Es sind ja auch zu viele Alchemisten unterwegs. Hätte jemand wie der Graf von Saint-Germain in einem anderen Jahrhundert Karriere machen können? Johann Friedrich Böttger produziert ja immerhin weißes Gold. Der Chemiker Justus von Liebig sagt ein Jahrhundert später: Unter den Alchimisten befand sich stets ein Kern echter Naturforscher, die sich in ihren theoretischen Ansichten häufig selbst täuschten, während die fahrenden Goldköche sich und andere betrogen. Und bezogen auf Glauber (dem wir das Glaubersalz verdanken), Böttger und Kunckel fährt er fort: Was Glauber, Böttger, Kunckel in diese Richtung leisteten, kann kühn den größten Entdeckungen unseres Jahrhunderts an die Seite gestellt werden. Was hätte er erst über Rumford gesagt?

Die von Rumford gegründete Royal Institution gibt es immer noch, die Rumford Medaille wird immer noch verliehen. Kamine nach seiner Erfindung (nicht zu verwechseln mit dem Rumfordofen zur Herstellung von Branntkalk) werden heute immer noch hergestellt. Und in alten Kochbüchern findet sich auch noch die von ihm erfundene Rumfordsuppe, die für die Armenspeisung gedacht war. Und falls Sie jetzt bei dem miesen Wetter im Englischen Garten in München spazierengehen sollten: den Park verdankt München auch dem Grafen Rumford.

Der Post über Benjamin Thompson stand hier schon einmal im Blog, aber man kann eigentlich nicht genug über diesen Mann wissen. Ich bin vor fünfzig Jahren auf ihn gestoßen, als ich die Festschrift für John W.P. Bourke las (in der auch der Aufsatz von Gruner abgedruckt ist). Festschriften sind im universitären Bereich etwas für Professoren, aber Bourke war lediglich ein englischer Lektor an der Universität München. Aber er war ein besonderer Mann, der einen Doktortitel von Heidelberg und einen Magistertitel von Oxford hatte. Er hat Bücher wie The Sea as a Symbol in English Poetry und Baroque Churches of Central Europe geschrieben, und ein kleines Buch über den englischen Humor. Seine Studenten haben ihn geliebt. Es war nur berechtigt, dass er am Ende seiner Laufbahn diese siebenhundertseitige Festschrift erhielt. 

Freitag, 24. März 2023

heute vor 175 Jahren

Die überraschende Nachricht von der in Paris ausgebrochenen Revolution. Louis Philippe ist geflüchtet und die Republik proklamiert. Ich glaube, wir sehen jetzt einer ebenso interessanten als ernsten Zeit entgegen, die auch hemmend in mein innerstes Privatleben eingreifen kann! schreibt der Kieler Jurist Carl Rathlev am 29. Februar 1848 in sein Tagebuch. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu erkennen, dass die Zeit jetzt ebenso interessant als ernst sein wird.

Was Rathlev wahrscheinlich nicht gewusst hat: Louis Philippe war schon einmal auf der Flucht gewesen. Damals ging er allerdings nicht ins Exil nach England, da war er in Schleswig-Holstein. Nicht mehr unter dem Namen Louis Philippe d'Orléans oder Louis Philippe Égalité. 1796 lebte er unter dem Namen Ludwig Philippe de Vries in Friedrichstadt (das Neberhaus, in dem er wohnte, steht immer noch) und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer. Und Tanzlehrer. Dazu fällt mir jetzt nur Mozarts Arie aus Figaros Hochzeit ein:

Se vuol ballare, signor contino,
il chitarrino le suonerò, sì,
se vuol venire nella mia scuola,
la capriola le insegnerò, sì.


Es wäre übertrieben zu sagen, dass der halbe französische Adel während der Französischen Revolution in Schleswig-Holstein war, aber es sind doch sehr viele hier: Dieses reitzende Ländchen zog angesehene Familien an, [...] von ermüdendem Herumirren und Vertreiben einen Ruhesiz zu finden. Das monarchische Dänemark bot damals eine Sicherheit an, welche die republicanische Schweiz nicht gewährt hat, schreibt August Adolph von Hennings, den man den eigentlichen Apostel der Aufklärung in den Herzogtümern genannt hat. Louis Philippes ehemaliger Vorgesetzer, der General Charles Francois Dumouriez, ist auch in Schleswig-Holstein. Der berühmte Lafayette auch für einige Zeit. Charles Francois Dumouriez, der im englischen Exil sterben wird, konnte dem Exil durchaus etwas Positives abgewinnen:

L'exil, ainsi que toutes les autres positions de la vie humaine, a ses avantages: il nous présente des objets de comparaison, dont nous n'avions jamais eu l'idée; il nous donne des lumières; il développe notre énergie par des privations; il nous rend indulgens et sociables; il établit entre nous et nos hôtes une expansion de sensibilité et de la bienfaisance. L'homme droit, sage et réfléchi rapporte de ce pèlerinage forcé une somme de vertus mâles et douces, qui le rendent plus propre à servir sa patrie, et le conduisent à une philanthropie universelle, qui diminue les terribles effets de l'égoïsme national.

Auf so etwas wie das Exil müssen sich diese Herren auch einstellen, die am frühen Morgen des 24. März in Kiel als Provisorische Regierung die Macht übernehmen. Vierunddreißig Jahre nach dem Kieler Frieden blickt Europa wieder einmal für einen Augenblick auf Kiel. Dies Bild stammt nicht aus dem Jahre 1848, es wurde von dem Maler Hans Olde begonnen und dann von dem Kieler Maler Julius Fürst (von dem das Landesmuseum eine bezaubernde kleine Mondnacht im Kieler Hafen besitzt) fertiggestellt. Ein halbes Jahrhundert nach dem Ereignis von 1848 gemalt, sagt das Monumentalgemälde (318 x 468 cm) wahrscheinlich mehr über den wilhelminischen Geist als über den Geist von 1848.

Das Bild fälscht auch ein klein wenig die Wirklichkeit, man hat die Herren Theodor Olshausen und Hans Reimer Clausen auf das Bild gemalt, die damals gar nicht in Kiel waren, weil sie in Kopenhagen mit dem dänischen König verhandelten. Genauer gesagt feilscht Olshausen mit Orla Lehmann, dem mächtigen Anführer der sogenannten Eiderdänen um die Frage, ob die Eider oder die Königsau die Grenze Dänemarks sein soll. Es gibt von Hans Olde noch eine zweite Version des Bildes, bei der wieder Hartwig Beseler vor dem Rathaus die Proklamation der Provisorischen Regierung verliest.

Ernstes Schweigen lag über der vielhundertköpfigen Menge, die sich der bedeutsamen Stunde wohl bewusst war... Ihrem Gefühl Ausdruck gab die Menge im Absingen des als Gebet durch die stille Nacht zum Himmel aufsteigenden Lied ’Schleswig-Holstein meerumschlungen’. Und als wir zu der Strophe kamen, wo es heißt ’Gott ist stark auch mit den Schwachen, wenn sie gläubig ihm vertraun’, entblößten alle ihre Häupter, hat der Chirurg Friedrich von Esmarch geschrieben. Die Erfahrungen auf den Kriegsschauplätzen werden ihn zu einem der berühmtesten Chirurgen des 19. Jahrhunderts machen. Im Krieg können Chirurgen immer lernen, das bestätigt wieder einmal den Satz, dass der Krieg der Vater aller Dinge ist.

Sie können die Proklamation hier lesen. Der Name Olshausen fehlt noch auf der Proklamation, er ist noch kein Mitglied der Regierung. Weil er, wie gesagt, noch in Kopenhagen ist, wo sein Status von Tag zu Tag zwischen Gast und Geisel wechselt. Aber dann lässt man ihn doch das Schiff nach Kiel nehmen. Der Name F. Reventlou auf der Proklamation täuscht ein klein wenig, es ist natürlich ein Friedrich Graf von Reventlou. Aber man gibt sich in diesen Tagen gerne bürgerlich. Friedrich Prinz zu Schleswig-Holstein, der neue Kriegsminister, verzichtet allerdings nicht auf seinen Titel. Der fährt gleich mit einer kleinen Truppe von Lauenburgischen Jägern, organisierten Turnern und Studenten (verstärkt durch sechzig Bauernburschen aus Segeberg, bewaffnet mit jungeichenen Knüppeln) von Neumünster mit der Eisenbahn nach Rendsburg und nimmt am frühen Morgen des 24. März die dänische Festung ein.

Es ist wirklich unheimlich praktisch, dass die Eisenbahnlinie direkt zur Festung führt. Ich glaube, dass dies das erste Mal ist, dass die Eisenbahn - also noch vor dem Krimkrieg und dem amerikanischen Bürgerkrieg - eine militärische Bedeutung im Krieg bekommt. Der Prinz zu Schleswig-Holstein ist schon einmal Gegenstand eines Posts in diesem Blog gewesen (und nein, ich habe die Geschichte mit den dänischen Pisspötten da natürlich nicht ausgelassen), deshalb belassen wir es hier einmal bei der kurzen Schilderung dieses Überraschungscoups, der keine Toten oder Verletzten fordert. Die Mannschaften schließen sich nach einer flammenden Rede des Prinzen der schleswig-holsteinischen Sache an, manche Offiziere schließen sich dem Prinzen an. Aber die meisten fühlen sich durch ihren Fahneneid gebunden und treten die Reise nach Kopenhagen an.

Aber glaubt man am 24. März 1848 in Kiel wirklich, dass Dänemark das so hinnimmt? Glaubte man 2014 in Kiew, dass Putin bei all dem ruhig zuschaut? Wenige Wochen nach der Proklamation der Provisorischen Regierung ist Krieg. Die deutsche Revolution von 1848 hat kein gutes Ende: Das war ’ne heiße Märzenzeit, Trotz Regen, Schnee und alledem! Nun aber, da es Blüthen schneit, Nun ist es kalt, trotz alledem! Wenn Sie Freiligraths Lied gesungen hören wollen, klicken Sie hier einmal Hannes Wader an. Das Bild zeigt den dänischen Dampfer Hekla, der 1848 Theodor Olshausen von Kopenhagen nach Kiel zurückbrachte, jetzt taucht er als dänisches Kriegsschiff wieder vor Kiel auf.

Der Krieg findet, wie wir daraus schließen können, auch auf dem Wasser statt. Vor Eckernförde verlieren die Dänen die Gefion und die Christian VIII, das war selbst der Londoner Times einen Artikel wert. Und die kleine Flotte des Deutschen Bundes unter Kapitän Brommy liefert sich vor Helgoland ein Seegefecht mit den Dänen. Das Seegefecht, das unentschieden ausgeht, wird durch die englischen Kanonen auf Helgoland beendet. Man teilt den Deutschen mit, dass sie unter einer Piratenflagge segeln. In der Euphorie des Flottenaufbaus hatte die Frankfurter Bundesregierung vergessen, den Engländern mitzuteilen, dass man jetzt mit Schwarz-Rot-Gold eine neue Flagge besitzt. Brommy wird zum Admiral befördert, aber entschieden ist nichts. Der Krieg schleppt sich weiter dahin.

1850 verliert Schleswig-Holstein die Von der Tann, das einzige dampfgetriebene Kanonenboot der Flotte. Bei diesem Gefecht ist die Hekla wieder dabei gewesen. Aber auf See wird auch nichts entschieden, die Thesen von Admiral Mahan (die Wilhelm II zum Aufbau der deutschen Flotte bringen) über die Verbindung von Land- und Seestreitkräften, gelten nicht für diesen Krieg. Was der Clausewitz der See aus dem Zusammenspiel zwischen Royal Navy und Wellington in Portugal und Spanien abgeleitet hatte, funktioniert in Schleswig-Holstein nicht. Erst die Schlacht von Idstedt entscheidet alles zugunsten Dänemarks. Aber die Schleswig-Holsteinische Frage, zu der Lord Palmerston gesagt hatte: Only three people... have ever really understood the Schleswig-Holstein business—the Prince Consort, who is dead—a German professor, who has gone mad—and I, who have forgotten all about it, bleibt weiter unbeantwortet. Erst Preußen wird im Zweiten Schleswigschen Krieg bei den Düppeler Schanzen die Antwort finden. Man kann alle Fragen mit Waffengewalt beenden.

Soldaten aus aller Herren Länder finden sich in diesem seltsamen Krieg. Wie der Schotte Hugh von Halkett (der hier schon erwähnt wird), der Held von Waterloo. Der ist jetzt hannöverscher General, er wird die dänische Nachhut nach der Schlacht von Schleswig bei Oeversee schlagen. Er kennt sich in Schleswig-Holstein inzwischen aus, denn im Kosackenwinter (lesen Sie hier mehr dazu) war er fünfunddreißig Jahre zuvor schon einmal hier. Die Herrschaft der Provisorischen Regierung in Kiel ist kurz gewesen. Mit dem Vertrag von Malmö löst sie sich auf. Danach gibt es eine Gemeinsame Regierung. Aber der Krieg geht weiter. Nach der Schlacht von Idstedt (in der ein junger Mann aus meinem Heimatort zum Leutnant befördert wird) werden viele Bewohner der Herzogtümer Schleswig und Holstein auswandern, wie zum Beispiel Olshausens Gefährte Hans Reimer Clausen, der nach Amerika geht.

Karl Friedrich Lucian Samwer, der als Leutnant an der Einnahme der Festung Rendsburg teilgenommen hatte, und danach Adjutant des Prinzen von Noer war, musste 1852 nach der Restaurierung der dänischen Herrschaft Schleswig-Holstein verlassen. Nach Samwer heißt heute noch eine Straße in Kiel. Die mündet in die Bremerstraße und die Olshausenstraße. Die Olshausenstraße wiederum mündet in die Beselerallee, die wiederum in die Reventlouallee. Da sind sie in den Straßennamen alle wieder vereint. Wir haben auch für die Fregatte Gefion eine Straße. Und für den Unteroffizier Preußer, der sie in Brand schoß, natürlich auch. Die Kieler, die bei Aldi in der Preußerstraße einkaufen, werden wahrscheinlich nicht wissen, warum die Straße so heißt.

Nur der Prinz von Noer hat keine Straße. Aber dafür ziert er mit seinem Bruder in Dänemark die Böden der Pisspötte. Den Kieler Juristen Carl Rathlev kenne ich durch das Buch von Martin RackwitzKieler Tagebücher aus dem Vormärz und der schleswig-holsteinischen Erhebung. Martin Rackwitz, der mal mein Student war (es ist immer schön zu sehen, dass aus denen etwas geworden ist), hat noch ein zweites Buch zu dem Thema 1848 geschrieben: Märzrevolution in Kiel 1848: Erhebung gegen Dänemark und Aufbruch zur DemokratieMehrere Bücher von Martin Rackwitz sind in der Reihe der Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte erschienen, und gestern Nacht hat er einen Vortrag gehalten. Weil die ganzen Verhandlungen ja in der Nacht vom 23. zum 24. März stattfanden.

Die schleswig-holsteinische Erhebung ist Teil der 1848er Revolution in Deutschland. Die provisorische Regierung wird die Presse-, Meinung-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit festschreiben. Aber das wird nicht lange halten, drei Jahre später ist das Land wieder Teil des dänischen Gesamtstaates. Treårskrigen (Drei Jahres Krieg) haben die Dänen den Krieg genannt. Der nächste Krieg 1864 wird noch kürzer, der dauert nur ein halbes Jahr.

Montag, 20. März 2023

Das Raubschloß


Der deutsche Schriftsteller H. Clauren (ein Anagramm für Carl Heun) wurde am 20. März 1771 geboren, seinen größten Romanerfolg Mimili bietet der Reclam Verlag nach zweihundert Jahren immer noch an. Man hat dem Roman die Kontrovers-Predigt über H. Clauren von Wilhelm Hauff beigegeben, der einer der schärfsten Kritiker Claurens war. Claurens erotischer Liebesroman aus der Biedermeierzeit war ein riesiger Erfolg, Heinrich Heine sagte über den Roman: Clauren ist jetzt in Deutschland so berühmt, daß man in keinem Bordell eingelassen wird, wenn man ihn nicht gelesen hat. Für Heine war Clauren, wie er im 14. Kapitel von Das Buch le Grand schrieb: der Sänger der Korallenlippen, Schwanenhälse, hüpfenden Schneehügelchen, Dingelchen, Wädchen, Mimilichen, Küßchen und Assessorchen. 

Das Publikum liebte den Roman, es liebte Sätze wie Mimili, das lieblichste Alpenkind des ganzen Erdenrundes, öffnet dir Thüre, Herz und Mieder. Die Kritiker liebten das Buch nicht. Erst in der dritten Fassung des Romans erfahren wir, wie die Liebesgeschichte zwischen dem deutschen Offizier und der Schweizer Sennerin ausgeht. Da wacht der Offizier, den man schon tot geglaubt hat, in der Nacht in der Schlacht von Belle-Alliance unter seinem Pferd liegend auf, und es heißt: vor ihm Paris, hinter ihm Deutschland und die Lazarethe; links die Schweiz. Die rechte Hand vom Sturze gelähmt, in der Brust eine Kugel, im Kopfe eine Hiebwunde, im Herzen Mimili. Das sind Sätze, die muss man erst mal hinkriegen.

Aber es gibt da noch etwas anderes von Clauren, das viel berühmter geworden ist, allerdings unter einem anderen Titel und Namen. Und das ist seine Erzählung Das Raubschloß aus dem Jahre 1812. Ein bisschen eine verspätete Gothic Novel, aber ein Thema, das man immer verkaufen kann. Auch heute noch. Die Geschichte erscheint ohne Claurens Namen 1828 unter dem Titel The Robber's Tower: A True Adventure in Blackwood's Edinburgh Magazine, einer der führenden Literaturzeitschriften der Zeit. Der Übersetzer war ein gewisser Joseph Hardman, der ständig für die Zeitschrift schrieb. Seine Beiträge sind, wie er schreibt: drawn chiefly from German and Danish sources and consisted of romantic and piquant tales, freely altered from the originals and adapted to British taste and feeling. Es ist eine sehr, sehr freie Übersetzung, bei Schauergeschichten kommt es offenbar auf die Originaltreue nicht an. Es war nicht so ganz klar, dass Hardman der Verfasser der Übersetzung war, ein Jahrhundert später nimmt der amerikanische Literaturprofessor John H. Collins an, der Übersetzer sei William Mudford gewesen. 

So weit, so gut, die Geschichte könnte in der Versenkung verschwinden, wenn nicht ein gewisser Edgar Allan Poe sie gelesen hätte. Der liest die Zeitschrift immer, er wird eines Tages auch den satirischen Artikel How to Write a Blackwood Article schreiben. Und er bedient sich für seine Erzählung The Fall of the House of Usher reichhaltig bei The Robber's Tower. Dass Poe für seine Geschichte Elemente von E.T.A. Hoffmanns Das Majorat benutzt hatte, das wusste man seit langem, aber auf Heinrich Clauren war man nicht gekommen. 

Arno Schmidt, der die erste deutsche Übersetzung von Der Untergang des Hauses Usher 1945 in englischer Kriegsgefangenschaft gelesen hatte, legte 1966 die Neuübersetzung unter dem Titel Der Fall des Hauses Ascher vor. Für ihn war der geistige Diebstahl offenbar: Ergebnis: die Identität der Fabel & des Details ist geradezu niederknüppelnd; die für den stillen Umbildner typischen psychischen Mechanismen sind nachweisbar. ( Ei verflucht, schreibt sich das schwer, daß POE ein Dieb sey!).... Ob schon das Primat einwandfrei CLAUREN gehört, und es sich bei POE nicht um ein bloßes kryptomnetisches Versehen handeln kann – vielmehr um ein sich deutlich & mehrfach wiederholendes , asymptotisches Heranschlängeln an eine Vorlage; jedesmal, wie billig, gefolgt von einem schroffen Ausbrechen (wenn's gar zu ähnlich zu geraten drohte) so sei doch eines ausdrücklich betont, nämlich daß hier nur ein immer, und zu Recht wiederkehrender Vorgang vorliegt. Der Text von Das Raubschloß ist auch auf der Seite der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser zu finden. Und nicht nur das, hier findet sich auch The Robber’s Tower: A True Adventure im Volltext. Das Raubschloß: Eine buchstäblich wahre Geschichte ist vor zehn Jahren wieder neu aufgelegt worden. Das Nachwort zu dem Band schrieb Heiko Postma

Heinrich Clauren, Träger des Eisernen Kreuzes, wie sein Held in Mimili, war ein Vielschreiber. Ich lasse für die Beschreibung seines Werkes mal eben dem Germanistikprofssor Karl Richter das Wort, der in der Deutschen Biographie über den literarischen Edelkitsch schreibt: Nach dem Erfolg des für seine Arbeitsweise charakteristischen Romans „Mimili“ (1816, ⁴1824, zuletzt 1916 und 1919, übersetzt ins Dänische, Englische, Ungarische, Polnische) veröffentlichte C. bei größter Beliebtheit in allen Ständen 1818 6 Bände Erzählungen und bis 1834 alljährlich erscheinend seine Taschenbücher „Vergißmeinnicht“ (26 Bände) und die Sammlung „Scherz und Ernst“ (40 Bände). 

Mit bunter Erfindung bei ständig sich wiederholenden Motiven und Formgesetzen nützte C. raffiniert die zeitlosen Effektmittel des Kitsches: sentimentale Religiosität und Empfindsamkeit (Gustav Adolf, Leipzig 1791), Grausamkeit und Geheimnis des Abenteuers (Das Raubschloß, 1812) und zum Schlüpfrigen neigende Erotik. Begierde durch Eheschließung zu legalisieren, das Abenteuerliche im Traum zu entwirklichen, somit biedermeierlich Erlebnishunger auszuleben und gleichzeitig zu entschärfen, waren dabei die wirkungssicheren Methoden, die seiner restaurativen Zeit besonders entsprachen. Ein füllender Aufputz mit lexikalischem Wissen und patriotischen Tendenzen verbürgten dabei die geforderte Wohlanständigkeit aufgeklärter Bürgerbildung. W. Hauffs entwaffnende Parodie „Der Mann im Mond“ (1826, unter dem Namen C.s geschrieben) demonstriert den Einfluß C.s selbst auf den Stil seiner Kritiker und verschaffte ihm darüber hinaus durch den sich ergebenden Prozeß (vergleiche W. Hauff, Kontroverspredigt) Eingang in die Literaturgeschichte. Seine Theaterstücke bevorzugen simple Situationskomik. 

Hundert Jahre zuvor las sich der Artikel in derselben Quelle so: Clauren’s litterarische Thätigkeit bewegt sich hauptsächlich auf novellistischem Gebiet und zwar mit mehr Glück als Verdienst. Er fand ein sehr dankbares Publicum, wußte dessen Gelüste mit wahrer Virtuosität zu befriedigen, beging aber dabei den großen, von Hauff in einer vernichtenden Satire gegeißelten Fehler, daß er, statt erzieherisch und veredlend auf seine Leser zu wirken, durch theils seichte, theils schlüpfrige und frivole Waare den Geschmack derselben verderbte, ihre niedrigsten Sinne kitzelte und jede Spur eines idealen Bedürfnisses vollends ausrottete. Die Mittel, mit welchen dieser gewandte Novellenfabrikant seine Waare herstellt, sind immer die gleichen und immer gleich ordinär, der Verfasser macht auch keine Ansprüche darauf, ein „höheres“ Bedürfniß und ein feineres Publicum zu befriedigen oder gar seinen Zwecken ein täuschendes idealeres Gewand umzuhängen: er schreibt ohne alles Gefühl für die Würde des Schriftstellers, ohne Ahnung für dessen höheren Beruf, er „liefert“ seine „Waare“ ab „nach Wunsch“, wie ein anderer Lieferant auch, und hat seinen Zweck erreicht, wenn er gelesen und – bezahlt wird. Das ist auch die Beschreibung einer Zauberformel, denn mit schlüpfriger und frivolen Waare kann man immer noch den Geschmack des Publikums verderben.

Donnerstag, 16. März 2023

the finest Woman of her Age


16. März 1660: Nachdem König Karl II. den englischen Thron bestiegen und die Rechte des Parlaments beschworen hat, wird das seit 1640 tagende 'Lange Parlament' formell aufgelöst. So steht es in dem Wikipedia Internetlexikon. Das ist allerdings nicht ganz richtig. Das 'Lange Parlament' löst sich zwar am 16. März 1660 auf, aber Charles hat noch nicht den Thron bestiegen, er ist am 16. März noch gar nicht in England. Am 23. Mai 1660 hatte er Dover erreicht, wo ihm der General George Monck auf den Knien huldigte. Monck war der Feldherr von Oliver Cromwell gewesen, jetzt wechselt er die Seiten. Charles macht ihn wenig später zum Herzog und zum captain general der Armee. Das Bild hat Benjamin West hundertzwanzig Jahre später gemalt, es ist historisch nicht ganz richtig, Monck war ohne Gefolge gekommen. 

England hat einen neuen König, die Zeit der freudlosen Puritaner, die als erstes die Theater geschlossen hatten, ist vorbei. Unter dem Merrie Monarch ist Sinnenfreude angesagt, was zuerst einmal eine Maitressenwirtschaft am Hof bedeutet. Schon die Zeitgenossen sprechen unverhohlen von einer Herrschaft der Unterröcke. Die Bordelle, die während der Zeit der Puritaner in den Untergrund verschwunden waren, sind wieder da. Covent Garden, wo auch Emma Hamilton ihre Karriere beginnen wird, blüht auf.

Was die Maitressen betrifft, so macht Charles da weiter, wo er vor zehn Jahren mit Lucy Walters in Den Haag aufgehört hat. John Evelyn, Tagebuchautor wie der berühmte Samuel Pepys, wird sie a beautifull strumpet nennen, Pepys bezeichnet sie als common whore. Sie hat einen Sohn von Charles, den er anerkennt und zum Herzog von Monmouth macht. Wenn die beiden heimlich geheiratet hätten (was Charles bis zu seinem Tod bestreiten wird), wäre James Scott der nächste auf dem englischen Thron. Fontane hat ein Gedicht über ihn geschrieben, das und einiges mehr können Sie in dem Post Stuarts lesen. In seinem europäischen Exil kann Charles die Finger nicht von den Frauen lassen, wir sollten neben der schönen Lucy Walters noch Elizabeth Killigrew und Catherine Pegge erwähnen, die ihm Kinder schenken.

Wenn Charles gekrönt wird, hat er noch keine Gemahlin, es laufen Verhandlungen mit dem König von Portugal. Charles möchte die Infantin heiraten, obgleich er die potthässlich findet. My god, they've brought me a bat to marry, soll er gesagt haben. Eine Frau hat Charles aber schon an seiner Seite, dazu kommen wir gleich. Die Regierungszeit von Charles beginnt nicht glücklich. Erst kommt die Pest (worüber Daniel Defoe: A journal of the plague year schreiben wird), dann brennt die halbe Stadt ab. Während der Pest ist Charles mit seinem Hofstaat in Oxford, während des Brandes versucht er zu helfen. Er ist sogar ein kleiner Held in der Katastrophe. John Evelyn wird schreiben: It is not indeed imaginable how extraordinary the vigilance and the activity of the King and Duke was, even labouring in person, and being present, to command, order, and reward, and encourage workmen; by which he showed his affection, to his people, and gained theirs. London wird ihm das nicht vergessen, 1674 wird die Stadt dem König die Freedom of the City of London verleihen. Er ist der einzige Monarch, der so geehrt wird.

Wenn Charles 1660 in den Palast von Whitehall einzieht, zieht seine  Geliebte, die aus einer alten Adelsfamilie kommt, mit ihm dort ein. In der Nacht seiner Krönung soll er die Zwanzigjährige zum erstenmal im Bett gehabt haben. Die maîtresse-en-titre wird ihm in den nächsten zehn Jahren fünf Kinder schenken, die er alle anerkennen wird. Sie bekommen den Namen FitzRoy (Sohn des Königs) und werden Herzöge und Gräfinnen werden. Die Geliebte des Königs heißt Barbara Villiers, wir kennen sie auch unter den Namen Barbara Palmer, Lady Castlemaine und Duchess of Cleveland. Sie sei eine viel schönere Frau als die zuküftige Königin, versichert uns Sir John Reresby: Now it was that the King went to re|ceive the Infante of Portugalat Portsmouth, attended by the greatest Court I ever saw in any Progress. But though, upon this Occaision, every thing was gay and splendid, and profusely joyful, it was easy to discern that the King was not excessively charmed with his new Bride, who was a very little Woman with a pretty tolerable Face; she, neither in Person nor Manners, had any one Article to stand in Competition with the Charms of the Countess of Castlemain the finest Woman of her Age.

Samuel Pepys ist begeistert von ihrer Schönheit: saw the finest smocks and linnen petticoats of my Lady Castlemaine’s, laced with rich lace at the bottom, that ever I saw; and did me good to look upon them. Aber er notiert auch ganz trocken: I know well enough she is a whore. Das ist das Wunderbare an Pepys' Tagebüchern, diese platte Ehrlichkeit. Leider gibt Pepys seine Tagebücher auf, wenn seine Frau ihn in flagranti mit dem Dienstmädchen Deborah Willet erwischt: coming up suddenly, did find me imbracing the girl con [with] my hand sub [under] su [her] coats; and endeed I was with my main [hand] in her cunny. I was at a wonderful loss upon it and the girl also... Pepys schwört Besserung, my amours to Deb are past ist einer der letzten Sätze seines Tagebuchs.

Barbara Villiers (hier von Sir Peter Lely als Heilige Catherina von Alexandria gemalt), ist eine mächtige Frau, sie hat den König völlig unter Kontrolle. Das gefällt Samuel Pepys nun gar nicht. Am 15. Mai 1663 schreibt er: the King do mind nothing but pleasures, and hates the very sight or thoughts of business; that my Lady Castlemaine rules him, who, he says, hath all the tricks of Aretin that are to be practised to give pleasure. In which he is too able … , but what is the unhappiness in that, as the Italian proverb says, 'lazzo dritto non vuolt consiglio.' If any of the sober counsellors give him good advice, and move him in anything that is to his good and honour, the other part, which are his counsellers of pleasure, take him when he is with my Lady Castlemaine, and in a humour of delight, and then persuade him that he ought not to hear nor listen to the advice of those old dotards or counsellors that were heretofore his enemies: when, God knows! it is they that now-a-days do most study his honour. 

Der König kauft ihr Juwelen (ihre Ohrringe werden ihn zehntausend Pfund kosten), teure Kleider, zahlt ihre Spielschulden und schenkt ihr den Nonsuch Palace. Sie ist die heimliche Königin Englands. Sie hat mehr Macht und mehr Geld als all die Damen, die wir in den Posts Demimonde und les grandes horizontales finden. Der Bischof Gilbert Burnet hält sie für A woman of great beauty, but more enormously vicious and ravenous, foolish but imperious, und John Evelyn nennt sie a vulgar mannered, arrogant slut. Und noch schlimmer: the curse of our nation. Dass sie das Objekt einer Satire wird, der Poor-Whores Petition, gefällt ihr ganz und gar nicht. Außer Samuel Pepys und dem König sagt eigentlich niemand etwas Nettes über diese Frau.

Charles liegt viermal die Woche in ihrem Bett und sagt über seine Geliebte: she hath all the tricks of Ariten that are to be practised to give pleasure. Das hier erwähnte Ariten ist ein Sexhandbuch, das angeblich von Aristoteles stammt. Wenn die junge Frances Stuart an den Hof kommt, in die sich der König sofort verknallt, inszeniert Barbara für ihn einen flotten Dreier, eine lesbische Hochzeitszeremonie. Das ist natürlich Samuel Pepys nicht verborgen geblieben: Another story was how my Lady Castlemaine, a few days since, had Mrs. Stuart to an entertainment, and at night began a frolique that they two must be married, and married they were, with ring and all other ceremonies of church service, and ribbands and a sack posset in bed [. . .] But in the close, it is said that my Lady Castlemaine, who was the bridegroom, rose, and the King came and took her place with pretty Mrs. Stuart. This is said to be very true.

Frances Stuart sieht auf diesem Bild von Peter Lely wie eine geklonte Barbara Villiers aus. Für Samuel Pepys war Frances the prettiest girl in all the world. Sie war wohl nicht sehr helle, da sind sich die Zeitgenossen einig. Der Graf Philibert de Gramont sagte über sie: it would be difficult to imagine less brain combined with more beauty. Sie ist aber intelligent genug einzusehen, dass sie keine Zukunft in dem Nuttenzoo des Königs hat.  Sie brennt mit einem jungen Herzog durch, der sie auch heiratet. Ihr Bild wandert 1670 für die nächsten dreihundert Jahre auf Münzen und Medaillen, da ist sie die Britannia. Da kann sie der König in der Hand halten und befummeln.

Kaum eine Frau des 17. Jahrhunderts ist so häufig gemalt worden wie Barbara Villiers. Ich habe hier 19 Portraits und hier eine schöne Seite mit ebenso viel Abbildungen. Wir sehen sie als Heilige Catherina (was wahrscheinlich eine Attacke auf Charles Ehefrau Catherine of Braganza war), sie ist Diana, Minerva, eine Schäferin und Maria mit dem Kind. Hier auf dem Bild von John Michael Wright ist sie eine Schäferin. Nicht draußen bei den Schafen, sondern eine Schäferin in einer masque, die bei Hof aufgeführt wird. Samuel Pepys mochte das Bild nicht, für ihn kam als Maler dieser Frau nur Sir Peter Lely in Frage: Thence to Mr. Wright's, the painter; but Lord! the difference that is between their two works!’ Wenn wir den Worten von Pepys trauen können, dann war Lely so hingerissen von der Maitresse des Königs, dass er sich kaum instande sah, ihre Schönheit in Bildern festzuhalten: it was beyond the compass of art to give this lady her due, as to her sweetness and exquisite beauty. Wright hat über seine Bilder gesagt: I have begun diverse ladyes who are all sufficiently satisfied and judge me moderate comparatively to Mr. Lilly. Moderat? Wie sie hier hingebettet ist? Das ist doch beinahe schon Pornographie.

Hier ist sie von John Greenhill gemalt. Achten wir einmal auf ihre Augen, die die Zeitgenossen als violett beschreiben. Da fällt uns doch nur das Wort Schlafzimmeraugen ein. Diese Augen hat Peter Lely erfunden, er malt dann alle Frauen der High Society so: Sir Peter Lely when he had painted the Duchess of Cleveland's picture, he put something of Cleveland's face her Languishing Eyes into every one Picture, so that all his pictures had an air one of another, all the Eyes were Sleepy alike. So that Mr. Walker ye Painter swore Lilly's Pictures was all Brothers & Sisters. Und seine Kollegen machen ihm das nach. Ob das John Michael Wright oder John Greenhill ist, immer bekommt unsere Barbara diese sleepy eyes.

1673 geht die Liebesgeschichte von Barbara Villiers und dem König zuende. Er wird neue Maitressen haben: Restless he rolls about from whore to whore, a Merrie Monarch, scandalous and poor, schreibt sein Saufkumpan der Earl of Rochester. Der ihm auch einen vierzeiligen Nachruf schreibt: Here lies our Sovereign Lord the King whose word no one relies on, who never said a foolish thing nor ever did a wise one

Dies ist das letzte Bild, das wir von ihr haben, gemalt von Gottfried Kniller aus Lübeck, der jetzt in England Sir Godfrey Kneller heißt und Hofmaler ist, aber er ist kein guter Maler. Kein Peter Lely. Der König schreibt ihr zum Abschied: Madam, all that I ask of you … is live so for the future as to make the least noise you can, and I care not who you love. Kurz vor seinem Tod versöhnen sich Charles und Barbara wieder. Dass sie an seinem Totenbett seine Hand gehalten hätte, ist eine Erfindung der Schriftsteller. Barbara wird den Nonsuch Palace abreissen lassen und das Inventar und die Einzelteile verkaufen, sie hat hohe Spielschulden. Den Titel einer Baroness Nonsuch wird sie aber behalten, auch wenn sie den Palast nicht mehr besitzt. 

Wenn ihre Kinder heiraten, wird der König die Hochzeiten bezahlen. Sie hat jetzt viele neue Liebhaber, der berühmteste heißt John Churchill, den wir auch als Herzog von Marlborough kennen. Churchill, ihr zehn Jahre jüngerer Cousin, bekommt Geld von ihr, das er gut anlegt, es ist der Grundstock seines Vermögens. Charles Sackville, einer der Wüstlinge aus der Rochester Clique (der schon vor dem König Nelly Gwynn als Maitresse hatte), schreibt sie in sein schmutziges Gedicht A Faithful Catalogue of our most Eminent Ninnies, aus dem ich mal eben zitiere:

Oh Barbara! thy execrable name 
Is sure embalm'd with everlasting shame. 
Could not that num'rous host thy lust suffice, 
Which in lascivious shoals ador'd thy eyes; 
When their bright beams were through our orb display'd, 
And kings each morn their Persian homage paid? 
Now Churchill! Dover! see how they are sunk 
Into her loathsome, sapless, aged trunk. 
And yet remains her cunt's insatiate itch, 
And there's a devil yet can hug the witch. 
Pardon me, Bab, if I mistake his race, 
Which is infernal sure, for tho' he has 
No cloven foot, he has a cloven face
.

Ich habe zum Schluss noch ein kleines Gedicht von Patrick Davidson Roberts aus dem Jahr 2018, das Barbara Villiers heißt. Es ist netter als das Gedicht von Sackville:

Worked on by the Portuguese Bat, he has been absent 
these rampart weeks. I 
know that I am no longer young. 
When, instead of the king, 
I take this young man to bed, he 
approaches my works, frets along my stockade front
and turns on me as linstock the fire breaking 
over our heads in far-away Europe. Sometimes 
I catch him mouthing the orders to Hold 
and to Advance until the enemy is utterly crushed. 
Then the bit lip cold of mouth bursting 
and shameful retreat broken casement. 
Somewhere in this palace, a Catholic plots his own exile. 
His brother counts the childless years. 
Asleep, beside me, Mr John Churchill marches deep 
into the heart of Europe. When I die no one will know 
that even at the greatest moment of Blenheim 
he will remember my love my coin for his commission 
I stroke his childish forehead and do not bear his children.

Die Nachkommen von Barbara und Charles gibt es heute immer noch. Ein Lord Charles FitzRoy hat vor sechs Jahren eine Biographie über Charles II geschrieben: Return of the King: The Restoration of Charles II. Und dann gibt es da noch Henry Oliver Charles FitzRoy, den 12. Duke of Grafton, den seine Freunde vom Red Rooster Festival nur als Harry Grafton kennen. Barbara Villiers wäre stolz auf ihn.