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Donnerstag, 30. April 2020

sphärendunst


Der Himmel schuppt sich
im September
und regnet Sterne
in der Nacht

         *
spät in der nacht
als du fort warst
schneite es
warmen schnee.
halte die zeit an
komm zurück.
            
           *
einen flüchtigen augenblick lang
ma belle
einen wimpernschlag lang
fand ich trost
in deinen augen
einen herzschlag lang
lächelten deine augen
unter dem schattenrand
der lärmenden finsternis
forget it


Drei Gedichte aus dem Band sphärendunst eines unbekannten Dichters, die dieser bei einer Autorenlesung in der Buchhandlung vorgetragen hat, in der die schöne Buchhändlerin arbeitet.

Mittwoch, 29. April 2020

Que reste-t-il de nos amours


Ich hatte eine kleine Liebesgeschichte geschrieben, also diese Sorte Geschichte, die Sie aus Posts wie Vergil oder Sommerkino kennen. Ich suchte noch ein ganz bestimmtes Chanson, das ich dem Ganzen voranstellen wollte. Zeilen aus französischen Chansons waren schon durch den ganzen Text gelaufen, also Dinge wie Et maintenant que vais-je faire?, Ne me quittez pas Dis, quand reviendras-tu?, Parlez-moi d'amour. Der Text wurde beim Schreiben immer länger, aber der Titel des gesuchten Chansons war mir immer noch nicht eingefallen. Ich wusste, worum es im dem Lied ging, das würde perfekt meinen Text abrunden. Alles, worüber ich schrieb, stand in diesem Chanson.

Auch wenn ich, wie Urs Widmer das so schön gesagt hat, ein Erinnerungselephant bin, der Kopf blieb leer. Ich machte mir keine Sorgen, ich schrieb nicht unter Zeitdruck. Irgendwann kommt alles wieder. Dann sah ich bei arte den schönen Film ✺ Un dimanche à la campagne von Tavernier, der schon in dem Post Bertrand Tavernier erwähnt wird. Den habe ich zwar auf einer DVD und die Romanvorlage Monsieur Ladmiral Va Bientot Mourir von Pierre Bost habe ich auch gelesen, aber ich schaute mir den Film noch einmal an, weil ich den wunderbaren Schluss sehen wollte, wo der alte Monsieur Ladmiral eine neue Leinwand auf die Staffelei stellt, und die Kamera durch die Balkontür in den Park hinausfährt. Und wir wissen, er wird jetzt dieses Bild malen, das er immer malen wollte. Oder sterben. Als die bezaubernde Sabine Azéma zum erstenmal im Film erschien, fragte ich mich, warum die eigentlich nie in einem Film von François Truffaut war. Und in dem Augenblick machte es in meinem Gehirn klick, und eine Stimme, die nur ich hören konnte, sagte: Baisers volés.

Das war es, ich hatte das Chanson gefunden. Am Anfang von Truffauts Film ✺ Baisers Volés (der hier schon erwähnt wird) wird es von Charles Trenet gesungen, der den Text auch geschrieben hat. Seine erste Aufnahme zu dem Lied, das Léo Chauliac komponiert hatte, stammt aus dem Jahre 1942. Chauliac begleitete Trenet damals bei seinen Auftritten am Klavier, und gemeinsam schrieben sie Les bruits de Paris (1941) und Trenets größten Erfolg La mer (1942). Aus Trenets Chanson Que reste-t-il de nos amours brauchte ich nur den Refrain, und der ist heute mein Gedicht des Tages:

Que reste-t-il de nos amours
Que reste-t-il de ces beaux jours
Une photo, vieille photo
De ma jeunesse
Que reste-t-il des billets doux
Des mois d' avril, des rendez-vous
Un souvenir qui me poursuit
Sans cesse
Bonheur fané, cheveux au vent
Baisers volés, rêves mouvants
Que reste-t-il de tout cela
Dites-le-moi

Trenet brauchte nur zwölf Zeilen, um das Liebesleid zu beschreiben. Ich brauchte für meine Liebesgeschichte, in der diese Frau die Hauptrolle sspielt, viel mehr. Ich weiß jetzt nicht, was ich mit der Geschichte mache, sie ist dreiundachtzig Seiten lang geworden. Das kann ich wohl kaum als Post einstellen. Bei irgendeinem Billigverlag wie LuLu drucken lassen? Aber dann höchsten in siebzehn Exemplaren, mehr hat Stendhal von De L'Amour zu Lebzeiten auch nicht verkauft. Das Chanson von Trenet kann man nach beinahe achtzig Jahren immer noch kaufen. Neuerdings gibt es auch eine Aufnahme von Ute Lemper, aber das ist nicht dasselbe. Es gibt auch eine wilde Jazznummer von Tiziana Ghiglioni, ist aber auch nicht dasselbe wie Trenet. Man kann aber auch Jacky Terrasson hören.

Dienstag, 28. April 2020

Dichterin gesucht


Am 28. April 1789 hat Fletcher Christian mit einigen anderen Besatzungsmitgliedern gegen seinen Kapitän William Bligh eine Meuterei auf der Bounty angezettelt. Und den Kapitän mit seinen Getreuen in einem Beiboot auf dem offenenen Meer ausgsetzt. William Bligh wird das überleben, er wird es im Dienst der Royal Navy noch bis zum Admiral bringen. Wir kennen die Geschichte, sie ist ja oft genug verfilmt worden. Mit Errol FlynnClark Gable oder Marlon Brando. Sie können die Filme hier sehen, Sie könnten allerdings auch den Post Bounty vom 27. Oktober 2010 lesen.

Ich brauchte ein Gedicht über die Meuterei. Ich fand sofort eins über die Meuterer, die auf der Pitcairn Insel, ihrem guilt-won Paradise, gestrandet sind. Es ist von keinem Geringeren als dem berühmten Lord Byron, denn der Enkel eines Admirals der Royal Navy, hat ein langes Gedicht über das Schicksal der Meuterer geschrieben. Wenn Sie es lesen wollen, habe ich hier bei Wikisource eine hervorragende Seite, auf der Sie The Island; or, Christian and his Comrades lesen können. Ich habe es gelesen, gab aber die Idee auf. Das Gedicht ist zu lang, zählt auch nicht zu den größten Werken Byrons, wahrscheinlich brauchte er Geld, wenn er sich 1823 dem offenbar immer noch sensationellen Stoff der Meuterei auf der Bounty zuwandte.

Ich hatte mittlerweile ein anderes Gedicht gefunden, das mir sehr gefiel. Ein hervorragendes Gedicht von einer jungen Autorin, poetischer als Byron. Es erschien 1999 im Boston Review, heißt The Mutiny on the Bounty und hatte den Untertitel: featuring a cemetery, a horizon where the sea lies, and exotic stones:

It came again tonight before I put my hand 
to the porthole, anticipating a long night plucked. 
My shiny new dream wondered patiently, its streamers 
wild, anticipating the dropping of my head to the side . . . 
As I'd put it now on not one of my best days, my ship 
had come in. I wasn't bossy, harsh, tyrannical. 
I was windy, a bit naive, and easily seduced. 
I came to be seduced. The atmosphere was lax, 
if anything. The days were sunny and damp. It was 
my ship, and it had come in.

In the moonlight footsteps huddle together-footsteps!- 
yet even delusions crush. This dream loves its dream 
and ripples under fingers. Listen, my first love began, 
it is the same addiction. It is the same addiction: 
a wheat field's chattering in the wind, the first birds in weeks. 
The sounds of birds is the same thing. It is the same song.

It came again. With no exceptions, I've wanted it. 
The wave dissolves into rays. The rays echo a moon song; 
they sing right through like bottlerockets. 
A carefully considered reply below me doubles 
and gains lightness-pumice stone, the body's surface, 
sad questions outside the window. They mouth themselves, 
obeying only the firmament and the storms of clouds 
dying in the places where clouds are stored.

Als Autor des Gedichtes wurde Karri Harrison angegeben, von der Frau hatte ich noch nie etwas gehört. Wie konnte das sein? Ein so gutes Gedicht und dann noch im Boston Review, wo die Crème de la Crème der amerikanischen Literatur erscheint? Und dann nichts über die Autorin? Kein Wikipedia Artikel, nix. Es wurde ein Problem, ich durchsuchte das Internet. Ich fügte kleinste Puzzleteile zusammen. Karri Harrison wuchs in Hendersonville, Tennessee, auf, besuchte die University von Tennessee in Chattanooga und war 1998 an der University von Iowa eingeschrieben. Wo auch im Iowa Journal of Cultural Studies 1998 ein Gedicht von ihr mit dem Titel The Suicide erschien. Danach fand sich nichts mehr über sie im Internet. Hatte der Gedichttitel etwas mit ihrem Leben zu tun? Ich bekam die Panik, ich hatte mit Hart Crane und Jonathan Tower schon zwei Selbstmörder in diesem Poetry Month, sollte das jetzt eine Serie werden?

Aber dann fand ich an einer ganz anderen Stelle noch ein Gedicht, das Monologue in a Laundromat hieß, die Autorin lebte also noch. Ich fand noch etwas ganz anderes, Karri Harrison hatte für ein Buch ein Photo von dem jungen Dichter Bradley Ormond Paul gemacht. Ich war inzwischen bei der dritten Pfeife angekommen, Sherlock Holmes hätte das Ganze a three pipe problem genannt. Karri Harrison war wie Bradley Paul im selben Iowa Writers' Workshop gewesen. Sollte sie ihn geheiratet haben? Ich tippte Karri Paul bei Google ein, und Heureka, da war sie. Inzwischen Künstlerin und richtig berühmt. Wow.

Da spendiere ich doch heute noch ein Gedicht von ihrem Ehemann, es heißt Anybody Can Write a Poem, und auf dieser Seite können wir mehr zu Bradley Paul und zu dem Gedicht lesen, das nicht jeder schreiben kann:

I am arguing with an idiot online.
He says anybody can write a poem.
I say some people are afraid to speak.
I say some people are ashamed to speak.
If they said the pronoun “I”
they would find themselves floating
in the black Atlantic
and a woman would swim by, completely
dry, in a rose chiffon shirt,
until the ashamed person says her name
and the woman becomes wet and drowns
and her face turns to flayed ragged pulp,
white in the black water.
He says that he’d still write
even if someone cut off both his hands.
As if it were the hands that make a poem,
I say. I say what if someone cut out
whatever brain or gut or loin or heart
that lets you say hey, over here, listen,
I have something to tell you all,
I’m different.
As an example I mention my mother
who loved that I write poems
and am such a wonderful genius.
And then I delete the comment
because my mother wanted no part of this or any
argument, because “Who am I
to say whatever?”
Once on a grade school form
I entered her job as hairwasher.
She saw the form and was embarrassed and mad.
“You should have put receptionist.”
But she didn’t change it.
The last word she ever said was No.
And now here she is in my poem,
so proud of her idiot son,
who presumes to speak for a woman
who wants to tell him to shut up, but can't

Montag, 27. April 2020

the low-level view of the Hollander


Der niederländische Maler Jan van Goyen ist am 27. April 1656 in Den Haag gestorben. Der deutsche Wikipedia Artikel zu van Goyen ist dürftig, dabei ist er einer der wichtigsten Vertreter dessen, was man das Goldene Zeitalter der holländischen Malerei nennt. Das hat nun im Gegensatz zu van Goyen einen sehr guten Artikel bei Wikipedia. Der Landschaftsmaler van Goyen war sehr produktiv, man schätzt, dass er mehr als tausend Bilder gemalt hat. Erstaunlicherweise hinterließ er bei seinem Tod einen Schuldenberg, das würde Malern wie Gerhard Richter oder Neo Rauch wohl nicht passieren.

Ein Bild von Richter ist vor Jahren bei Sotheby's für 21.3 Millionen Pfund verkauft worden, Bilder von Neo Rauch bringen auch anderthalb Millionen Euro. Einen van Goyen kann man dagegen schon für 100.000 Euro bekommen. Es ist eine seltsame Welt. Ich habe heute ein schönes kleines Gedicht, das Poem on Jan van Goyen's 'River Scene' heißt, aber ich weiß wenig über den Autor. Er heißt Jonathan Towers, und das Gedicht findet sich in seinem Gedichtband Westport Poems.

Dort findet sich auch einiges über sein Leben: 1948 in New York geboren, Studium von Literatur und Anthropologie an fünf verschiedenen Universitäten, hervorragende Studienleistungen, aber nie ein Examen. Am besten könnte man sein Leben mit der Figur des Robert Eroica Dupea beschreiben, den Jack Nicholson in dem Film Five Easy Pieces spielt. Der deutsche Filmtitel war ✺ Ein Mann auf der Suche nach sich selbst. Jonathan David Tower litt unter schweren Depressionen und hat sich 2005 umgebracht. Er hasste Autos und ging sein Leben lang zu Fuß. 1992 war er nach Westport in Connecticut gezogen, wo er jeden Tag die Küste entlang wanderte und in Westport, Darien, Bridgeport, Fairfield und Camden auftauchte. Man nannte ihn The Walker.

Was er auf seinen Wanderungen sah, schrieb er in seine Westport Poems. Jonathan Towers composed brief, emotionally evocative poems until his suicide in 2005 after years of struggle with mental illness. His work was fueled by reading and a rich inner life exploring the tarot, medieval history, courtly love and relationship, and the pre-Socratic philosophers. These poems beautifully evoke a sense of place, while also powerfully critiquing the forces of modern life that threaten it, hat sein Verlag auf das Buch geschrieben. Und das trifft es, dieses Heraufbeschwören eines sense of place findet sich ja immer wieder in der amerikanischen Literatur, ob wir FaulknerPadgett Powell oder Harry Crews nehmen. Und wenn man jeden Tag den Long Island Sound vor Augen hat, dann sind einem die Holländer vielleicht sehr nahe:

Poem on Jan van Goyen's 'River Scene'

sky equals
7/8 of the canvas 
but you don't see it 
at first 
because the eye 
is focused 
at water level 
and tilted upstream 
where it meets 
the full breadth 
of the river 
and the miniscule sails 
afloat beneath 
a cumulus-cloud sky
in the immediate foreground 
men are breaching a rowboat 
while in the near distance 
atop the low incline 
of the river bank 
a horse-drawn cart pulls away 
from a ramshackle tavern 
another draws up to the entrance 
and below 
rowboats and sailboats 
are docking or waiting 
upon the long strip of 
sandy shore 
here is the eye 
of a new science 
more aware 
of the curvature of space 
here is the low-level view 
of the Hollander 
rescuing his stranded land 
from water and sky

Sonntag, 26. April 2020

Hart Crane


Der amerikanische Dichter Harold Hart Crane ist am 26. April 1932 gestorben. Oder am 27. April, der deutsche und der englische Wikipedia Artikel widersprechen sich da. Er ist über Bord gefallen, oder über Bord gesprungen. Seine Leiche wurde nie gefunden. Der Kapitän des Dampfers Orizaba sagte der Presse, dass er wahrscheinlich von einem Haifisch gefressen worden sei. Hart Crane galt als einer der vielversprechendsten Dichter Amerikas, Kritiker haben sein Hauptwerk, das Langgedicht The Bridge, mit T.S. Eliots The Waste Land verglichen. Der Dichter Robert Lowell sagte in einem Interview mit dem Paris Review: I think Crane is the great poet of that generation … Not only is it the tremendous power there, but he somehow got New York City: he was at the center of things in the way that no other poet was. All the chaos of his life missed getting sidetracked the way other poets’ did, and he was less limited than any other poet of his generation. Lowell hat den unglücklichen Hart Crane auch in das Gedicht Words for Hart Crane hineingeschrieben.

Hart Crane war schon einmal in diesem Blog. In dem Post Brooklyn Bridge, der den deutschen Ingenieur Johann August Röbling zum Thema hat, ist das erste Gedicht aus The Bridge abgedruckt. Ich will Ihnen das Langgedicht (hier im Volltext) an diesem Sonntag nicht zumuten, ich habe heute ein nettes kleines Gedicht von Hart Crane, das Forgetfulness heißt.

Forgetfulness is like a song
That, freed from beat and measure, wanders.
Forgetfulness is like a bird whose wings are reconciled,
Outspread and motionless, --
A bird that coasts the wind unwearyingly.

Forgetfulness is rain at night,
Or an old house in a forest, -- or a child.
Forgetfulness is white, -- white as a blasted tree,
And it may stun the sybil into prophecy,
Or bury the Gods.

I can remember much forgetfulness.

Eine gewisse Sandra Danby empfiehlt, Cranes Gedicht in der Badwanne zu lesen. Ich habe noch nie ein Gedicht in der Badewanne gelesen, und irgendwie ist das auch ein klein wenig pervers, einen ertrunkenen Dichter in der Badewanne zu lesen.

Es gibt noch ein zweites amerikanisches Gedicht, das Forgetfulness heißt. Das ist von Billy Collins, einem Dichter, von dem Sie vielleicht noch nie gehört haben. Der Mann, dem seine Verlage sechstellige Vorschüsse zahlen, ist zur Zeit Amerikas beliebtester Dichter. John Updike hat über ihn gesagt: Billy Collins writes lovely poems... Limpid, gently and consistently startling, more serious than they seem, they describe all the worlds that are and were and some others besides. Man kann ihn leicht lesen, sogar in der Badewanne:

Forgetfulness

The name of the author is the first to go
followed obediently by the title, the plot,
the heartbreaking conclusion, the entire novel
which suddenly becomes one you have never read, never even heard of,

as if, one by one, the memories you used to harbor
decided to retire to the southern hemisphere of the brain,
to a little fishing village where there are no phones.

Long ago you kissed the names of the nine muses goodbye
and watched the quadratic equation pack its bag,
and even now as you memorize the order of the planets,

something else is slipping away, a state flower perhaps,
the address of an uncle, the capital of Paraguay.

Whatever it is you are struggling to remember,
it is not poised on the tip of your tongue
or even lurking in some obscure corner of your spleen.

It has floated away down a dark mythological river
whose name begins with an L as far as you can recall

well on your own way to oblivion where you will join those
who have even forgotten how to swim and how to ride a bicycle.

No wonder you rise in the middle of the night
to look up the date of a famous battle in a book on war.
No wonder the moon in the window seems to have drifted
out of a love poem that you used to know by heart.

Samstag, 25. April 2020

Seekrankheit


Am 25. April 1595 starb der italienische Dichter Torquato Tasso in Rom. Sie können sich sicher noch daran erinnern, dass er hier im letzten Monat in dem Post giftgrün die Hauptrolle spielte. Doch der Dichter wurde auch schon Jahre vorher in dem Post Das Wetter von morgen erwähnt, wo ich eine Dissertation mit dem Titel Der Einfluß der Seekrankheit auf Johann Wolfgang von Goethes Drama 'Torquato Tasso' unter besonderer Berücksichtigung der Umstände - wie Wetter, Schiffstyp und Seegebiet zitierte. Der Verfasser des Werks war ein deutscher Admiral, der sich mit Seekrankheiten auskannte. Er bewarb sich allerdings nicht um den Titel eines Dr phil, sondern um den eines Doktors humoris causa, das Ganze war eine Satire.

Würde aber durchaus einen Sinn machen, denn als Goethe an seinem Tasso schreibt, ist er seekrank: Ich hatte doch dieser herrlichen Aussichten nur Augenblicke genießen können, die Seekrankheit überfiel mich bald. Ich begab mich in meine Kammer, wählte die horizontale Lage, enthielt mich außer weißem Brot und rotem Wein aller Speisen und Getränke und fühlte mich ganz behaglich. Abgeschlossen von der äußern Welt, ließ ich die innere walten, und da eine langsame Fahrt vorauszusehen war, gab ich mir gleich zu bedeutender Unterhaltung ein starkes Pensum auf. Die zwei ersten Akte des 'Tasso', in poetischer Prosa geschrieben, hatte ich von allen Papieren allein mit über See genommen. Diese beiden Akte, in Absicht auf Plan und Gang ungefähr den gegenwärtigen gleich, aber schon vor zehn Jahren geschrieben, hatten etwas Weichliches, Nebelhaftes, welches sich bald verlor, als ich nach neueren Ansichten die Form vorwalten und den Rhythmus eintreten ließ.

Ich könnte nun heute ein Gedicht von Torquato Tasso präsentieren, lasse das aber mal und verweise auf die schöne Seite Europäische Liebeslyrik, wo es eine Vielzahl von Liebesgedichten von ihm gibt. Ich bleibe heute einmal bei dem Thema Seekrankheit, weil ich da ein wunderbares Gedicht von Heinrich Heine gefunden habe. Dass er die Nordsee kennt, das wissen wir, weil es in seinen Reisebildern einen ganzen Band gibt, der Nordsee heißt. Er hat auch einmal gesagt: Ich liebe das Meer wie meine Seele. Oft wird mir sogar zu Mute, als sei das Meer eigentlich meine Seele selbst. Und er dichtet:

Das Meer erstrahlt im Sonnenschein,
Als ob es golden wär.
Ihr Brüder, wenn ich sterbe,
Versenkt mich in das Meer.

Hab immer das Meer so liebgehabt, 
Es hat mit sanfter Flut
So oft mein Herz gekühlet;
Wir waren einander gut.


In einem Brief an seinen Hamburger Verleger Julius Campe, der ihm gerade mit einem Vorschuß einen sechswöchigen Urlaub an der Nordsee ermöglicht hat (wo er sich in Norderney überwindet und schwimmen lernt), schreibt er: Das Meer war so wild, dass ich oft zu versaufen glaubte. Aber dies wahlverwandte Element tut mir nichts Schlimmes. Es weiß recht gut, dass ich noch toller sein kann. Und dann, bin ich nicht der Hofdichter der Nordsee? Der Hofdichter der Nordsee ist allerdings nicht gegen die Seekrankheit gefeit. Er macht das Beste daraus und schreibt das Gedicht Seekrankheit:

Die grauen Nachmittagswolken
Senken sich tiefer hinab auf das Meer,
Das ihnen dunkel entgegensteigt,
Und zwischendurch jagt das Schiff.

Seekrank sitz ich noch immer am Mastbaum'
Und mache Betrachtungen über mich selber,
Uralte, aschgraue Betrachtungen,
Die schon der Vater Lot gemacht,
Als er des Guten zuviel genossen,
Und sich nachher so übel befand.
Mitunter denk ich auch alter Geschichten:
Wie kreuzbezeichnete Pilger der Vorzeit,
Auf stürmischer Meerfahrt, das trostreiche Bildnis
Der Heiligen Jungfrau gläubig küßten;
Wie kranke Ritter, in solcher Seenot,
Den lieben Handschuh ihrer Dame
An die Lippen preßten, gleich getröstet -
Ich aber sitze und kaue verdrießlich
Einen alten Hering, den salzigen Tröster
In Katzenjammer und Hundetrübsal!

Unterdessen kämpft das Schiff
Mit der wilden, wogenden Flut;
Wie'n bäumendes Schlachtroß, stellt es sich jetzt
Auf das Hinterteil, daß das Steuer kracht,
Jetzt stürzt es kopfüber wieder hinab
In den heulenden Wasserschlund,
Dann wieder, wie sorglos liebematt,
Denkt es sich hinzulegen
An den schwarzen Busen der Riesenwelle,
Die mächtig heranbraust,
Und plötzlich, ein wüster Meerwasserfall,
In weißem Gekräusel zusammenstürzt,
Und mich selbst mit Schaum bedeckt.

Dieses Schwanken und Schweben und Schaukeln
Ist unerträglich!
Vergebens späht mein Auge und sucht
Die deutsche Küste. Doch ach! nur Wasser,
Und abermals Wasser, bewegtes Wasser!

Wie der Winterwandrer des Abends sich sehnt
Nach einer warmen, innigen Tasse Tee,
So sehnt sich jetzt mein Herz nach dir,
Mein deutsches Vaterland!
Mag immerhin dein süßer Boden bedeckt sein
Mit Wahnsinn, Husaren, schlechten Versen
Und laulich dünnen Traktätchen;
Mögen immerhin deine Zebras
Mit Rosen sich mästen, statt mit Disteln;
Mögen immerhin deine noblen Affen
In müßigem Putz sich vornehm spreizen
Und sich besser dünken als all das andre
Banausisch schwerhinwandelnde Hornvieh;
Mag immerhin deine Schneckenversammlung
Sich für unsterblich halten,
Weil sie so langsam dahinkriecht,
Und mag sie täglich Stimmen sammeln,
Ob den Maden des Käses der Käse gehört?
Und noch lange Zeit in Beratung ziehn,
Wie man die ägyptischen Schafe veredle,
Damit ihre Wolle sich beßre
Und der Hirt sie scheren könne wie andre,
Ohn' Unterschied -
Immerhin, mag Torheit und Unrecht
Dich ganz bedecken, o Deutschland!
Ich sehne mich dennoch nach dir:
Denn wenigstens bist du doch festes Land.

Freitag, 24. April 2020

Stenka Rasin


In dem Post Washington Crossing the Delaware hatte ich ein Lied abgedruckt, das die Düsseldorfer Malerkollegen von der Künstlervereinigung Malkasten für Emanuel Leutze, der sich nach Amerika verabschiedete, gedichtet und gesungen haben:

Hört ihr Leute das Gedichte
von dem großen Wasserfluß
der in der Naturgeschichte
heisst der Delawarius.


Der Slavist Friedrich Hübner wies mich damals darauf hin, dass dieses Lied wohl nach der Melodie des russischen Volkslieds Stenka Rasin gesungen wurde. Ich kannte zwar den Text des russischen Liedes nicht, aber ich kannte die Melodie. Wir hatten das Lied vor Jahrzehnten einmal mit dem Text Unrasiert und fern der Heimat gesungen. Es hat, wie das Lied Katjuscha, eine leicht eingängige Melodie. Hören wir mal eben in das Lied hinein, gesungen von keinem Geringeren als Fjodor Schaljapin

Am 24. April des Jahre 1671 ist der Kosakenführer Stepan Timofejewitsch Rasin (den man Stenka Rasin nannte), der bei seinem Aufstand weite Teile Südrusslands beherrscht hatte, von seinen eigenen Leuten gefangengenommen und dem russischen Adel übergeben worden. Man bringt ihn nach Moskau, der Zar verhört ihn persönlich, er wird abgeurteilt und auf dem Roten Platz gevierteilt. Das ist das Ende des Bauernkriegs und der Auflehnung der Leibeigenen gegen die Bojaren und den Zaren. Zwei Jahre zuvor hatte Stepan Rasin, der mit einer Flotte von Booten die Donau beherrschte, eine Flotte des persischen Schahs geschlagen und eine persische Prinzessin geraubt. Er kehrt an den Don zurück, will sich dem Zaren unterwerfen, veranstaltet ein großes Gastmahl, um den Abschied vom Räuber- und Piratenleben zu feiern.

So wird die Geschichte erzählt. Seine Männer werfen ihm vor, er sei kein richtiger Donkosake mehr, seit er die Prinzessin entjungfert und sie immer an Bord seines Bootes habe, bei dem die Taue angeblich aus persischer Seide geflochten sind. Er sei ein Weib geworden, sagen sie. Rauben, morden und brandschatzen ist in Ordnung für einen Kosaken, aber mit einer persischen Prinzessin im Bett liegen, das geht definitiv nicht. Stenka Rasin, den Puschkin die einzige poetische Gestalt der russischen Geschichte genannt hat, versteht das Murren seiner Krieger. Und nach einer letzten Liebesnacht nimmt er die junge Prinzessin und wirft sie mit ihrem Geschmeide über Bord. Nimm, Mütterchen Wolga, ruft er. Viel Silber und Gold und Reichtum jeder Art hast du mir gegeben und Ehre und Ruhm mir zuteil werden lassen, ich aber habe dir noch nicht gedankt. So oder so ähnlich wird die Geschichte erzählt. Wenn man Prinzessinen in die Wolga wirft, und sie elendiglich ersaufen läßt, dann ist man ein russischer Held. Sie können das Ganze auch in dem russischen Film aus dem Jahre 1908 sehen, von dem auch das Plakat da oben stammt.

Und hier ist, als Gedicht des Tages, der Text von Stenka Rasin, der einige Probleme bietet. Im Internet findet sich eine Version, die sehr poetisch klingt, aber einen großen Teil des Originals weglässt. Ich zitiere daraus einmal die ersten Strophen:

In den Wellen hinter Inseln
Ziehen Kähne malerisch, -
Fangen leis an aufzuwachen,
Bang ist jedes Angesicht.

Stenka Rasin vorn als erster,
Selig in der Trunkenheit,
Hält im Arme die Prinzessin,
Die er eben erst befreit.

Aber der nächste Text macht mehr Sinn, weil er sich an das russische Original hält:

Hinter der Insel hervor auf den Strom,
auf die weite Fläche der Wogen
schwimmen bunt bemalte
Kähne mit spitzem Bug.

Auf dem ersten sitzt Stenka Rasin,
hält die Fürstin umarmt,
er feiert seine neue Hochzeit,
er ist fröhlich und berauscht.

Hinter ihnen hört man Gemurmel:
"Er hat uns mit dem Weib vertauscht!
Nur eine Nacht hat er mit ihr verbracht
und am Morgen ist er selbst zum Weib geworden!"

Dieses Gemurmel und Gespött
hört der grimmige Ataman,
und mit mächtigem Arme
umfasst er die Figur der Perserin.

Die schwarzen Augenbrauen ziehen sich zusammen,
ein Gewitter zieht herauf,
heisses Blut schiesst
dem Ataman in die Augen.

"Alles will ich geben, ich werde es nicht bedauern,
selbst mein wildes Haupt will ich hergeben!"
schallt seine mächtige Stimme
über die benachbarten Ufer.

Und sie, mit niedergeschlagenen Augen,
mehr tot als lebendig,
vernimmt schweigend die berauschten
Worte des Atamans:

"Wolga, Wolga, liebe Mutter,
Wolga, du russischer Strom,
du hast noch kein Geschenk gesehen
von einem Donkosaken!

Und damit keine Zwietracht herrsche
unter freien Menschen,
Wolga, Wolga, liebe Mutter,
wegen eines schönen Mädchens - nimm du es!"

Mit machtvollem Schwung hebt er
die schöne Fürstin hoch
und wirft sie über Bord
in die heraneilenden Wogen.

"Was lasst ihr Teufel den Kopf hängen?
He, du, Filka, los, tanze!
Singen wir, Brüder, was Verwegenes
zum Gedenken an ihre Seele!"

Hinter der Insel hervor auf den Strom,
auf die weite Fläche der Wogen
schwimmen die bunt bemalten
Kähne Stenka Rasins.

Es gibt unzählige Varianten, das russische Original auf dieser Seite, da gibt es auch eine englische Nachdichtung, die sehr gut klingt. Ich stelle die mal da unten ein. Günter Wewel singt etwas ganz anderes. Bei James Last heißt das Lied Irgendwo auf fremden Straßen, der unerträgliche André Rieu spielt es auf der Geige, und am Ende der Skala singen die Seekers The Carnival is Over. Hat nichts mehr mit dem Kosakenhauptmann zu tun, hat aber dieselbe Melodie.

From beyond the wooded island
To the river wide and free
Proudly sail the arrow-breasted
Ships of Cossack yeomanry.

On the first is Stenka Razin
With his princess by his side.
Drunk, he holds a marriage revel,
Clasping close his fair young bride

From behind there comes a murmur:
"He has left his sword to woo;
One short night and Stenka Razin
Has become a woman, too."

Stenka Razin hears the murmur
Of his discontented band
And the lovely Persian princess
He has circled with his hand.

His dark brows are drawn together
As the waves of anger rise,
And the blood comes rushing swiftly
To his piercing jet-black eyes.

"I will give you all you ask for,
Head and heart and life and hand!"
And his voice rolls out like thunder
Out across the distant land.

And she, lowering her eyes,
Not alive nor dead is she,
Silently listens to the cries
of the Ataman groggy.

"Volga, Volga, Mother Volga,
Wide and deep beneath the sun,
You have ne'er seen such a present
From the Cossacks of the Don!

"So that peace may reign for ever
In this band so free and brave,
Volga, Volga, Mother Volga,
Make this lovely girl a grave!"

Now, with one swift mighty motion
He has raised his bride on high
And has cast her where the waters
Of the Volga roll and sigh.

"Dance, you fools, and let's be merry.
What is this that's in your eyes?
Let us thunder out a chanty
To the place where beauty lies!"

From beyond the wooded island
To the river wide and free
Proudly sail the arrow-breasted
Ships of Cossack yeomanry.


Donnerstag, 23. April 2020

schöne Geschichten


William Turner wurde heute vor 245 Jahren geboren, er war schon häufig in diesem Blog (mein Lieblingspost ist William Turner in Kiel). Heute soll es einmal um Turner den Dichter gehen. Der Maler hat sich sehr für Dichtung interessiert, Zitate von John Milton und James Thomson waren titelgebend für manche seiner Gemälde, und durch den Lake District, den Wordsworth bedichtete, malte sich Turner auch hindurch. To see clearly is poetry, hat er einmal gesagt, und viele Kritiker haben seine Bilder als Gedichte bezeichnet. Für Turner stand fest: Painting and Poetry flowing from the same fount... reflect and refract each other’s beauties with reciprocity of splendorous allusions. Als er 1840 sein Bild The Slave Ship in der Royal Academy ausstellte, hing ein Gedicht von ihm daneben an der Wand, Zeilen aus einem unvollendeten Gedicht, das Fallacies of Hope heißt:

Aloft all hands, strike the top-masts and belay;
Yon angry setting sun and fierce-edged clouds
Declare the Typhoon’s coming.
Before it sweeps your decks, throw overboard
The dead and dying – ne’er heed their chains
Hope, Hope, fallacious Hope!
Where is thy market now?

Wenn man bei Google Turner und Poem eingibt, bekommt man den Text eines langen Gedichtes von Turner, das eine seltsame Geschichte hat. Die mit diesem Bild hier beginnt. Das schöne Bild vom Golf von Neapel im Mondlicht sieht aus wie ein Turner, ist aber keiner. Es wurde von dem russischen Maler Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski gemalt. Turner hat das Bild gesehen: 1842 begegnete Aivazovsky William Turner, der in jenem Jahr in Rom lebte. Der Engländer zeigte sich so tief beeindruckt vom Gemälde 'Golf von Neapel in einer Mondnacht', dass er es sich nicht nehmen ließ, auf Italienisch ein paar Worte der Hochschätzung für das Gemälde und seinen Schöpfer zu verfassen: 'Vergeben Sie mir, Verehrter Meister, wenn ich geirrt und Ihre Arbeit für die Wirklichkeit gehalten habe, doch das Bild hat mich in seinen Bann gezogen und vollkommen überwältigt. Ihre Kunst ist erhaben und eindringlich, weil sie von Ihrem Genie beseelt ist.' Die außerordentliche Wirklichkeitsnähe der Bilder Aivazovskys verblüffte demnach nicht nur den gemeinen Betrachter, sondern auch Kollegen. Das Zitat findet sich auf einer Seite des Wiener Auktionshauses Dorotheum. Es ist eine schöne Geschichte, sie hat nur einen kleinen Fehler.

Turner ist 1842 nicht in Rom. Er ist in Deutschland, malt die Eröffnung der Walhalla, ist in Konstanz, malt den Bodensee und macht einen Abstecher in die Schweiz. Aber nicht nach Rom. Und warum soll er seine Wertschätzung des Gemäldes des russischen Kollegen auf Italienisch verfassen? Er war Anfang und Ende der 1820er Jahre in Rom, ein wenig Italienisch kann er. Aber reicht das für dies lange Gedicht, das ich in seiner englischen Version präsentiere:

Like a curtain slowly drawn
It stops suddenly half open,
Or, like grief itself, filled with gentle hope,
It becomes lighter in the shore-less dark,
Thus the moon barely wanes
Winding her way above the storm-tossed sea.
Stand upon this hill and behold endlessly
This scene of a formidable sea,
And it will seem to thee a waking dream. 
That secret mind flowing in thee 
Which even the day cannot scatter, 
The serenity of thinking and the beating of the heart 
Will enchain thee in this vision; 
This golden-silver moon 
Standing lonely over the sea, 
All curtain the grief of even the hopeless. 
And it appears that through the tempest 
Moves a light caressing wind, 
While the sea swells up with a roar, 
Sometimes, like a battlefield it looks to me 
The tempestuous sea, 
Where the moon itself is a brilliant golden crown 
Of a great king. 
But even that moon is always beneath thee 
Oh Master most high, 
Oh forgive thou me 
If even this master was frightened for a moment 
Oh, noble moment, by art betrayed… 
And how may one not delight in thee, 
Oh thou young boy, but forgive thou me, 
If I shall bend my white head 
Before thy art divine 
Thy bliss-wrought genius…

Der Text findet sich im Internet bei Facebook und Pininterest, zwei Adressen, die nicht unbedingt für wissenschaftliche Zuverlässigkeit stehen. Der Text soll, und jetzt wird es ganz kurios, eine englische Übersetzung eines armenischen Gedichts von Howhannes Schiras sein, das auf einer russischen Übersetzung von Turners italienischem Text basiert, der in der Zeitschrift Russkaya Starina 1878 abgedruckt wurde.

Es gibt noch einen anderen Text, den Turner vielleicht geschrieben hat, als er Aiwasovsky in London traf. Diesen Text hat man beim Dorotheum offensichtlich gekannt, im Englischen lautet er:

In this your picture
I see the moon, all gold and silver.
Reflected in the sea below.
And on the surface of the sea
There plays a breeze which leaves a trail
Of trembling ripples, like a shower 
Of fiery sparks or else the gleaming headdress 
of a mighty king!
Forgive me if I err, great artist, 
Your picture has entranced me so,
Reality and art are one, 
And I am all amazement.
So noble, powerful is the art 
That only genius could inspire!

Man kann unschwer erkennen, dass dieser Text die Basis des langen Textes ist. Er findet sich so in zwei Büchern von Edward Strachan und Roy Bolton, die in London eine Galerie russischer Kunst betreiben. Wenn Turner überhaupt etwas für Iwan Aiwasowski geschrieben hat, dann sind es diese vierzehn Zeilen gewesen.

Mittwoch, 22. April 2020

ewiger Frieden


Hast Du in Deinem Blog je über Karl Kraus geschrieben? fragte mich ein Freund. Der Post Erwin Chargaff fiel mir sofort ein. Da steht auch die kleine Geschichte drin, die ich in dem Post Helmut Qualtinger erzählt habe. Heute, am Geburtstag von Immanuel Kant, gibt es hier ein Gedicht von Karl Kraus, das den Titel 'Zum ewigen Frieden' von Immanuel Kant! hat. Kraus stellt dem Gedicht ein Zitat von Kant als Motto voran: Bei dem traurigen Anblick nicht sowohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken, als vielmehr derjenigen, welche die Menschen sich untereinander selbst anthun, erheitert sich doch das Gemüth durch die Aussicht, es könne künftighin besser werden; und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein und die Früchte, die wir zum Teil selbst gesät haben, nicht einernten werden. Und dann folgt das Gedicht in gereimten Zweizeilern:

Nie las ein Blick, von Thränen übermannt,
ein Wort wie dieses von Immanuel Kant.

Bei Gott, kein Trost des Himmels übertrifft
die heilige Hoffnung dieser Grabesschrift.

Dies Grab ist ein erhabener Verzicht:
"Mir wird es finster, und es werde Licht!"

Für alles Werden, das am Menschsein krankt,
stirbt der Unsterbliche. Er glaubt und dankt.

Ihm hellt den Abschied von dem dunklen Tag,
daß dir noch einst die Sonne scheinen mag.

Durchs Höllentor des Heute und Hienieden
vertrauend träumt er hin zum ewigen Frieden.

Er sagt es, und die Welt ist wieder wahr,
und Gottes Herz erschließt sich mit "und zwar".

Urkundlich wird es; nimmt der Glaube Teil,
so widerfährt euch das verheißne Heil.

O rettet aus dem Unheil euch zum Geist,
der euch aus euch die guten Wege weist!

Welch eine Menschheit! Welch ein hehrer Hirt!
Weh dem, den der Entsager nicht beirrt!

Weh, wenn im deutschen Wahn die Welt verschlief
das letzte deutsche Wunder, das sie rief!

Bis an die Sterne reichte einst ein Zwerg.
Sein irdisch Reich war nur ein Königsberg.

Doch über jedes Königs Burg und Wahn
schritt eines Weltalls treuer Untertan.

Sein Wort gebietet über Schwert und macht
und seine Bürgschaft löst aus Schuld und Nacht.

Und seines Herzens heiliger Morgenröte
Blutschande weicht: daß Mensch den Menschen töte.

Im Weltbrand bleibt das Wort ihr eingebrannt:
Zum ewigen Frieden von Immanuel Kant!

Dienstag, 21. April 2020

Pennsylvania


Ich wollte heute nichts schreiben, wollte mal eine kleine Pause einlegen. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, jeden Tag einen Post zu veröffentlichen. Aber dann sah ich, dass Charles Follen Adams heute Geburtstag hat, ein amerikanischer Mundartdichter, der Gedichte in einer Sprache schreibt, die man Pennsylvania Dutch nennt. Eine Sprache, in der wir Sätze finden wie: und dann sind die pigs übern fence gehoppt und haben die potatoes gedamaged. Die Sprache kann auch noch sehr lebendig sein, wie der Country Sänger John Schmid beweist. Wie das Alphabet von diesem deitsch aussieht, können Sie hier sehen.

Man kann das Ganze leicht verstehen. Auch die Geschichte vom kleinen Yawcob Strauss aus Yawcob Strauss, and Other Poems.

I haf von funny leedle poy
Vot comes schust to mine knee;
Der queerest schap, der createst rogue,
As ever you dit see.
He runs und schumps and schmashes dings
In all barts off der house:
But vot off dot? He vas mine son,
Mine leedle Yawcob Strauss.


Das Gedicht ist natürlich noch länger, Sie können den Rest hier lesen. Vor sechs Jahren gab es hier schon einmal einen Post zu Charles Follen Adams. Der natürlich nicht der berühmteste Dichter von Pennsylvania ist. Denn das ist eindeutig John Updike. Und vom dem nehme ich heute noch einmal ein Gedicht. Hat nichts mit dem Hopper hier zu tun, der ist nur da, weil das Bild in Pennsylvanien gemalt worden. Das Gedicht ist aus der Sammlung Endpoint, es ist kurz vor seinem Tod geschrieben worden:

Beverly Farms, April 14, 2008

A lightened life: last novel proofs FedExed—
the final go-through, back-and-forthing till
all adjectives seemed wrong, inferior to
an almost glimpsed unreal alternative
spoken perhaps on Mars—and taxes, state
and federal, mailed. They were much more this year,
thanks to the last novel’s mild success,
wry fruit of terror-fear and author’s tours.

Checks mailed, I stopped for gas, and plumb forgot
how to release the gas-cap door. True,
I’d been driving a rented car for weeks. But, too,
this morning I couldn’t do the computer code
for the accent grave in fin-de-siècle, one
of my favorite words. What’s up? What’s left of me?

Das Manuskript eines letzten Romans zur Post gegeben, Klagen über die Einkommenssteuer, das Auto auftanken, Schwierigkeiten mit dem Computer. Das leise Resignieren eines Erfolgsautors, What’s up? What’s left of me? Es ist irgendwie traurig, genauso traurig wie Hoppers Bild Pennsylvania Coal Town.


Montag, 20. April 2020

der Heckeraufstand


Der Herr hier ist Franz Sigel, er ist im Jahre 1848 der Anführer der Konstanzer Bürgerwehr, er kommandiert eine Truppe von 500 Mann und ist auf dem Weg, sich mit dem badischen Revolutionsführer Friedrich Hecker zu vereinigen. Aber aus dem Heckeraufstand wird nichts, die Revolutionstruppen werden am 20. April 1848 im Schwarzwald von den Regierungstruppen geschlagen. Damit ist der Heckeraufstand zuende, der Aufstand in Baden wird noch bis zum Jahre 1849 weitergehen. Sigel und Hecker fliehen nach Amerika. Beide werden im Bürgerkrieg Offiziere in der Armee der Nordstaaten sein. Sigel (er wird schon in dem Post Landkarten erwähnt) wird General, wie man hier auf dem Photo sehen kann. Hecker bringt es zum Oberstleutnant. Er hat hier schon einen eigenen Post und wird in Deutsche Helden erwähnt, weil er in der Schlacht von Chancellorsville schwer verwundet wird.

Abraham Lincoln hat den General Sigel nicht geliebt, aber er brauchte diese politischen Generäle wie Sigel und Schurz für die deutschen Stimmen im Wahlkampf. Er hat die untergeordnete Rolle von Franz Sigel mit Those not skinning can hold a leg sehr nett beschrieben. Aber den Feind an den Hammelbeinen festhalten, das kann der ehemalige Kriegsminister der provisorischen badischen Regierung unter Lorenz Brentano auch nicht so richtig, sodass die Generäle Halleck und Grant seine Abberufung forden: Sigel will do nothing but run, he never did anything else. Sigel ist kein großer Stratege aber ein Meister des geordneten Rückzugs. Deshalb lieben ihn seine Soldaten, wenn es keine Schlacht gibt, kann man auch nicht in einer Schlacht sterben.

Das Gefecht auf dem Scheideckpass fordert erstaunlich wenige Tote, wenn man bedenkt, dass auf beiden Seiten tausend Mann unterwegs sind. Die Verluste sind nicht vergleichbar mit dem Blutbad, das der Kartätschenprinz in Berlin anrichtet. Die badischen Truppen verlieren allerdings ihren Anführer, den General Friedrich von Gagern. Der steht eigentlich in holländischen Diensten, mit dem Prinz von Oranien war er in Waterloo dabei gewesen. Er hat am Vortag den dringenden Befehl erhalten, sofort nach Holland zurückzukehren, tut das aber nicht. Wird dann gleich zu Beginn des Gefechts unter ungeklärten Umständen vom Pferd geschossen. Die Rückreise nach Holland wäre besser gewesen.

Ich könnte ja nun heute als Gedicht das Heckerlied hier hinstellen, oder die Version des Heckerlieds von Hannes Wader, aber ich habe da noch einen anderen 1848er. Und der dichtet. Bei dem Gefecht im Schwarzwald war er nicht dabei, da war er schon auf der Flucht vor den Behörden. Als alles in Baden vorüber ist, und auch Carl Schurz (der in Amerika noch General und Innenminister wird) geflohen ist, dichtet Ludwig Pfau:

Achtzehnhundertneunundvierzig

Das Recht erlag, der Freiheitskampf ist aus,
Die Sonn' erlosch, die unserm Bund geschienen;
Das Wetter schlug in unsrer Liebe Haus,
Und unser Glück liegt unter den Ruinen.

Ein Flüchtling bin ich ohne Dach und Land,
Zum fernen Westen ziehst du mit den Deinen;
Weit übers Weltmeer reich' ich dir die Hand -
Wird eine Heimat je uns wieder einen?

Seine Waffe im Kampf für die Freiheit ist nicht das Gewehr oder der Säbel, seine Waffe ist die Feder. Und er schreibt eine Vielzahl von politischen Gedichten: König HumbugHerr Biedermeier, Die deutschen Flüchtlinge, Zum 18. März 1848, Lied vom Gottesgnadenfritz, Badisches Wiegenlied und das 1849 da oben. Man kann das alles auf dieser Seite lesen. Er ist nicht so berühmt geworden wie Heinrich Heine, aber vergessen hat man ihn nicht.

Er hat aber auch eine Vielzahl von Liebesgedichten geschrieben, und von denen nehme ich mir heute mal eins:

Zum letzten Mal

Nun muß ich dich, du Teure, lassen,
Und blieb mir keine andre Wahl,
So laß noch einmal dich umfassen -
O einmal noch, zum letzten Mal!

In deinen Armen laß mich liegen
Und, wie der Kelch im Sonnenstrahl,
In deinem holden Blick mich wiegen -
O einmal noch, zum letzten Mal!

An deinen Busen laß mich sinken
Und durst'ge Küsse ohne Zahl
Von deinen süßen Lippen trinken -
O einmal noch, zum letzten Mal!

Laß mich ins tiefste Herz dich drücken,
Mit dieser Stunde sel'ger Qual
Will ich mein ganzes Leben schmücken -
O einmal noch, zum letzten Male!


Einen Post Ludwig Pfau gab es in diesem Blog auch schon einmal, habe ich erst gemerkt, als ich angefangen hatte, dies hier zu schreiben.

Sonntag, 19. April 2020

The cure for loneliness is solitude


Es gibt von Edward Hopper nur ein einziges Bild, das Solitude heißt, eigentlich könnte das Wort Solitude auf einem kleinen vergoldeten Messingschildchen an vielen Bildern von ihm festgeschraubt werden, denn Einsamkeit ist das große Thema des Malers. Und das macht ihn heute in den Zeiten der Corona Krise offenbar aktueller als zuvor, der Begriff Einsamkeit hat Konjunktur. Das Thema der Einsamkeit hat schon die Philosophen der Antike beschäftigt, Michel de Montaigne schrieb einen Essay De la solitude, Johann Georg Zimmermann schrieb 1785 das Buch Von der Einsamkeit, und die Beatles sangen in Eleanor Rigby: All the lonely people where do they all come from?

Der Titel des heutigen Posts stammt von der amerikanischen Dichterin Marianne Moore. Er findet sich 1958 in einem Artikel der Zeitschrift World Week, der If I Were Sixteen Today heißt. Die Redaktion versprach sich offensichtlich von der einundsiebzigjährigen Dichterin kluge Ratschläge für die Jugend. Marianne Moore offerierte fünf Weisheiten, von denen mir Nummer drei am besten gefällt: Don't look on art as effeminate and museums as 'the most tiring form of recreation'.

Der fünfte Punkt hatte es in sich: One should above all, learn to be silent, to listen; to make possible promptings from on high. Suppose you 'don’t believe in God.' Talk to someone very wise, who believed in God, did not, and then found that he did. The cure for loneliness is solitude. Think about this say by Martin Buber: 'The free man believes in destiny and that it has need of him.' Destiny, not fate. And lastly, ponder Solomon's wish: when God appeared to him in a dream and asked, 'What wouldst thou that I give unto thee?' Solomon did not say fame, power, riches but an understanding mind, and the rest was added. Das sind schöne Weisheiten, aber ich weiß nicht, ob sie in den Tagen von Elvis Presley und Rock Around The Clock bei den amerikanischen Teenies so gut ankamen.

Als Grace Shulman ein Teenager war, hat sie Marianne Moore kennengelernt, sie hat ihr ihre ersten Gedichte zugeschickt, und die Dichterin hat ihren Lebensweg begleitet. Als Shulman vor der Wahl stand, eine Universitätskarriere zu ergreifen oder Dichterin zu sein, sagte ihr Marianne Moore: Well, I don’t know, Grace. I never got a PhD. And T.S. Eliot never had a PhD. And Ezra Pound never had one, either. And yet you persist.

Grace Shulman hat beides gemacht, sie wurde Dichterin und Professorin. Sie hat das Buch Marianne Moore: The Poetry of Engagement geschrieben und die Poems of Marianne Moore herausgegeben. Und der Satz The cure for loneliness is solitude ist bei ihr als Zusatz in den Gedichttitel von American Solitude gewandert (bei der Erstveröffentlichung im Paris Review 1995 gab es diesen Zusatz noch nicht), einem Gedicht, in dem Hopper auch vorkommt:

American Solitude

Hopper never painted this, but here
on a snaky path his vision lingers:

three white tombs, robots with glassed-in faces
and meters for eyes, grim mouths, flat noses,

lean forward on a platform, like strangers
with identical frowns scanning a blur,

far off, that might be their train.
Gas tanks broken for decades face Parson’s

smithy, planked shut now. Both relics must stay.
The pumps have roots in gas pools, and the smithy

stores memories of hammers forging scythes
to cut spartina grass for dry salt hay.

The tanks have the remove of local clammers
who sink buckets and stand, never in pairs,

but one and one and one, blank-eyed, alone,
more serene than lonely. Today a woman

rakes in the shallows, then bends to receive
last rays in shimmering water, her long shadow

knifing the bay. She slides into her truck
to watch the sky flame over sand flats, a hawk’s

wind arabesque, an island risen, brown
Atlantis, at low tide; she probes the shoreline

and beyond grassy dunes for where the land
might slope off into night. Hers is no common

emptiness, but a vaster silence filled
with terns’ cries, an abundant solitude.

Nearby, the three dry gas pumps, worn
survivors of clam-digging generations,

are luminous, and have an exile’s grandeur
that says: In perfect solitude, there’s fire.

One day I approached the vessels
and wanted to drive on, the road ablaze

with dogwood in full bloom, but the contraptions
outdazzled the road’s white, even outshone

a bleached shirt flapping alone
on a laundry line, arms pointed down.

High noon. Three urns, ironic in their outcast
dignity—as though, like some pine chests,

they might be prized in disuse—cast rays,
spun leaf—covered numbers, clanked, then wheezed

and stopped again. Shadows cut the road
before I drove off into the dark woods.

Ich weiß jetzt nicht, ob der Satz The cure for loneliness is solitude wirklich ein bedeutender Satz ist. Das Oxford English Dictionary definiert solitude als: 1. The state of being or living alone; loneliness, seclusion, solitariness (of persons). b. The fact of being sole or unique. Obs. rare. 2. Loneliness (of places); remoteness from habitations; absence of life or stir. 3. A lonely, unfrequented, or uninhabited place. 4. A complete absence or lack. rare. Die Begriffe loneliness und solitude können Synonyme sein und können auch (schon in der Antike und in der Zeit der Aufklärung) positive Konnotationen haben.

Die Einsamkeit gibt Freiheit und Gemütsruhe. Jede Gesellschaft erfordert notwendig eine gegenseitige Akkommodation. Ganz er selbst sein darf Jeder nur so lange er allein ist. Wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit; denn nur wenn man allein ist, ist man frei, sagt uns Arthur Schopenhauer. Sartre sagt Ähnliches: La solitude est un condition necessaire de la liberte. Der Franzose hat aber auch Si vous vous sentez seul quand vous êtes seul, vous êtes en mauvaise compagnie gesagt, das finde ich einen wunderbaren Satz. Dieses Bild von Hopper hat Gail Levin in ihrem Buch The Poetry of Solitude: A Tribute to Edward Hopper neben das Gedicht von Shulman gedruckt. Und damit höre ich mit Hopper und Hopper Gedichten in diesem Poetry Month erst einmal auf.

Samstag, 18. April 2020

Hopper is saying, I am Vermeer


John Updike ist als Romanautor berühmt geworden, genauer als er hat niemand das Leben der amerikanischen middle class in Neuengland beschrieben, höchstens vielleicht Richard Yates. Aber Updike ist nicht nur der Autor von dreißig Romanen und einem dutzend Bänden von Kurzgeschichten, er hat auch viel über Kunst geschrieben. Wenn Sie den Post Dänische Kunst lesen, werden Sie feststellen, dass der mit einem langen Updike Zitat beginnt. 1995 hat Updike im New York Review of Books die Ausstellung Edward Hopper and the American Imagination im Whitney Museum besprochen, und diese Besprechung ist in ein langes Hopper Kapitel seines Buches Still Looking: Essays on American Art (das es auch auf deutsch gibt) hineingewandert.

John Updike hat auch Gedichte geschrieben, eins habe ich in dem Post Nationalstolz interpretiert. Da steht eine witzige kleine Geschichte am Ende, die ich heute noch einmal hier hinstelle: Updike ist lieber unauffällig. Eine Studentin hat mir einmal erzählt, dass sie in den Semesterferien in einem kleinen Hotel an der Nordseeküste gejobbt hat. An ihrem ersten Arbeitstag sagte die Wirtin zu ihr: Und jetzt bringst du Herrn Uppdieke seinen Tee auf die Veranda. Sie hat den Tee beinahe verschüttet, als sie auf der Veranda erkannte, wer der Herr Uppdieke wirklich war. Er fällt eben nicht auf.

Das Bild Girl at a Sewing Machine aus dem Jahre 1921, das in der Sammlung Museo Thyssen-Bornemisza hängt, ist eins der frühen Ölbilder Hoppers. 1920 hatte er im Whitney Studio Club eine erste Ausstellung seiner Gemälde gehabt. In der Zeit davor war er hauptsächlich Werbegraphiker und Plakatkünstler gewesen (wir lassen einmal die Bilder aus seiner Pariser Zeit weg). Sein Freund Martin Lewis hatte ihm 1915 die Technik der Radierung beigebracht, die für Hopper der Grundstein für seine Gemälde wurde, das muss man hervorheben.

Er hat es auch selbst zugegeben: After I took up my etching, my painting seemed to crystallize. Diese Radierung hier könnte man für ein Werk von Hopper halten, es gibt ähnliche Bilder von ihm, aber sie ist von Martin Lewis. Man kann an dem Bild sehen, wie groß der Einfluß von Lewis auf Hopper ist. Ich habe auf dieser Seite noch eine Vielzahl von Radierungen von dem zu Unrecht vergessenen Lehrmeister von Edward Hopper, bei denen man immer das Gefühl hat, dass hier Hoppers Nachtwelt eingefangen ist.

John Updike, der über Hoppers Bilder gesagt hat, sie seien calm, silent, stoic, luminous, and classic, hat das Bild von dem Mädchen an der Nähmaschine und das Bild Hotel Room in sein Gedicht Two Hoppers hineingeschrieben. Er hatte beide Bilder in der Sammlung Thyssen-Bornemisza in Madrid gesehen. Die Bildersammlung von Heinrich Thyssen hatte der spanische Staat 1993 nach Thyssens Tod für 350 Millionen Dollar erworben. Sie ist heute eins der größten Kunstmuseen von Madrid.

Es lenkte jetzt sicher etwas von der Interpretation des Gedichtes von Updike ab, aber ich muss mal eben erzählen, dass mir Thyssen, der auf der Vulkan Werft in Vegesack nur Baron Heini hieß, mal die Hand geschüttelt hatte. Die Werft gehörte ihm, er besuchte sie regelmäßig. Der Werftdirektor war unsere Nachbar, und als wir uns vorm Haus trafen, hat er mich Herrn Thyssen vorgestellt. Immer, wenn ich den Namen Museo Thyssen-Bornemisza lesen, muss ich an Baron Heini in seinem eleganten weißen Burberry Regenmantel denken. Aber nun zu Updikes Gedicht:

Two Hoppers

The smaller, older Girl at a Sewing Machine
shows her, pale profile obscured by her hair,
at work beneath an orange wall while

sky in pure blue pillars stands in a window bay. 
She is alone and silent. The heroine 
of Hotel Room, down to her slip, gazes

at a letter unfolded upon her naked knees.
Her eyes and face are in shadow. The day 
rumbles with invisible traffic outside 

this room where a wall is yellow, where a
bureau blocks our way with brown and luggage 
stands in wait of its unpacking near 

a green armchair: sun-wearied Thirties plush. 
We have been here before. The slanting light,
the woman alone and held amid the planes 

of paint by some mysterious witness we're 
invited to breathe beside. The sewing girl,
the letter: Hopper is saying, I am Vermeer

Zuerst haben wir nur eine Beschreibung, sparsam, beinahe oberflächlich. Nicht zu vergleichen mit dem Gedicht, in dem Horace Walpole ein Gemälde von George Stubbs beschreibt. Ungereimte Strophen mit je drei Versen, ein unregelmäßiges Vermaß. Es gibt in dem Gedicht Dinge, die wir nicht sehen und nur ahnen können, wie The day rumbles with invisible traffic outside this room. Denn Hoppers Bilder sind ja nicht ein Beispiel für den Realismus, sie haben immer ein Geheimnis. Der Bildhauer George Segal hat einmal gesagt: What I like about Hopper is how far poetically he went, away from the real world.  Die Realität bei der Entstehung des Bildes hat nichts Geheimnisvolles. Hoppers Frau Jo schreibt in ihrem Tagebuch: I posing in a pink shimmy shirt far from the fire place (in a bitter cold room) because E. needed the light on the surface of the bed & top of my head, or whatever — & I must endure.

Hoppers Bilder laden dazu ein, Geschichten zu erfinden. Was liest die kaum bekleidete junge Frau in dem Brief, den sie in den Händen hält? 'Hotel Room' presents a concise and intense drama in the night. The tall, slender, pensive woman sits on a bed, head downward, pondering the letter she has just read. Whatever she has learned in the letter confuses and upsets her, as Hopper conveys by the clothing strewn about the room. Schreibt Gail Levin 1980 in Edward Hopper: The Art and the Artist.

Und das ist nun vollständiger Unsinn. Gail Levin hätte mal etwas genauer auf das Bild schauen sollen. Es ist ja ziemlich groß, 152 mal 165 Zentimeter. Updike schreibt The heroine of Hotel Room, down to her slip, gazes at a letter unfolded upon her naked knees. Die junge Frau hält einen Brief in der Hand? Das ist kein Brief, das ist ein Fahrplan der Eisenbahn. Das hat Hoppers Frau Josephine, die ja das Modell des Bildes war, notiert. Und auf ihre lebenslang geführten Notizen ist Verlaß, sonst hätte Gail Levin ihre Biographie Hooper: An Intimate Biography nicht schreiben können. Wir lassen Updike die Sache mit dem Brief mal durchgehen. Und sehen darüber hinweg, dass down to her slip auch nicht stimmt, ein pink shimmy shirt ist mehr als ein Slip. Aber diese letzte Zeile des Gedichts, Hopper is saying, I am Vermeer, die haut dichterisch alles raus.

Lesen Sie auch: John Updike. Ein anderes Gedicht zu dem Bild Hotel Room finden Sie in dem Post Jo Hopper (und Eddie).