Falls Sie sich jetzt an dem Wort Pinkel im Titel stoßen sollten, in Bremen heißt das Bremer Nationalgericht wirklich so. Und da es heute Mittag bei mir Grünkohl gibt, habe ich mich entschlossen, meinen Lesern noch einmal diesen Post aufzutischen, der schon häufig hier stand. Wenn Sie den Post lesen, wissen Sie alles über Kohl und Pinkel. Ein Gericht, das in Norddeutschland traditionell zwischen Buß- und Bettag und Gründonnertag gegessen wird, und das schon mal in der Diskussion war, zum immateriellen Kulturerbe erklärt zu werden.
Aber Grünkohl haben wir da nie gegessen, den isst man am besten bei Muttern zu Hause oder auf einem Grünkohlausflug. Der führt uns immer mit den Familien der Skatklubgruppe nach Bookholzberg am Rande des Hasbruch. Und da sitzen dann fünf Familien mit Kind und Kegel an langen Tischen und essen Kohl und Pinkel. Letzteres verwirrt Nicht-Bremer immer sehr. Laut dem Bremisches Koch- und Wirthschaftsbuch von der Pädagogin Betty Gleim mit dem barocken Untertitel: enthaltend eine sehr deutliche Anweisung wie man Speisen und Backwerk für alle Stände Gut zubereitet. Für junge Frauenzimmer, welche ihre Küche und Haushaltung selbst besorgen und ihre Geschäfte mit Nutzen betreiben enthält die Pinkelwurst Hafergrütze, Nierenfett, Zwiebeln, Pfeffer und Salz. Diese Masse wird in den Pinkeldarm (den Mastdarm des Rindes) gefüllt und (mit dem Kohl gekocht) als Beilage zum Grünkohl serviert. Zusätzlich zu Kassler Rippenspeer, durchwachsenem Speck und Kochwurst. Die Fleischbeilagen können in Norddeutschland regional etwas anders ausfallen, in Emden kriegt man keinen Pinkel zum Kohl. Die Kartoffeln, die dazu gereicht werden, sind häufig in Zucker glasiert oder Röstkartoffeln. Meine Mutter wirft beim Kochen immer noch einen Esslöffel Zucker in den Kohl, ich einen kleinen Löffel von Händelmeiers süßem bayrischen Senf.
Dazu muß man natürlich Bier (in Bremen trank man gerne ein Remmer) und Doppelkorn trinken, etwas anderes geht nicht. Für ständigen Nachschub an Kohl, Kartoffeln und Fleisch sorgen die Kellner, die immer wieder ungefragt Schüsseln auf den Tisch stellen. Kohl und Pinkel satt heißt es in den Werbeanzeigen, die man jetzt in jeder Zeitung lesen kann (die erste ist 1843 in den Bremer Nachrichten belegt). Dennoch, die Fleischbeilagen können so satt sein wie sie wollen, wenn es mit dem Kohl nicht stimmt, dann fährt man da im nächsten Jahr nicht wieder hin. Wer am meisten essen kann, wird Kohlkönig. Manche Vereine auf Kohl- und Pinkelfahrt bringen eine Waage mit, auf der die Vereinsmitglieder vor und nach dem Essen gewogen werden. Das ist alles schon streng ritualisiert. Diese Kohl- und Pinkelfahrten gibt es in Norddeutschland (sprich Bremen, Oldenburg und Ostfriesland) seit dem frühen 19. Jahrhundert. Aus einer solchen Fahrt ist 1829 die Bremer Eiswette hervorgegangen. Anfänglich hatten sie auch den Namen Langkohlpartien und waren eine reine Herrengesellschaft der besseren Gesellschaft. Der Schriftsteller Eduard Beurmann (der Bremen wegen einer Liebesaffaire verlassen musste) schreibt 1836 etwas boshaft über die Bremer:
Gott! Ein bremischer Tabak- oder Weinreisender würde er nicht an den Quellen des Nils, in Is-und Lappland als Bremer zu erkennen seyn? Er würde dem Vicekönig von Egypten die Bremer Cigarren vor dem türkischen Rauchtabak anempfehlen, dem Isländer würde er 'Pinkeln' und Braunkohl anpreisen, dem Lappen würde er den Bremer Wallfischthran rekommandieren ... wie er im Winter, beim Anblick der Schweizer Gletscher, ausrufen möchte: 'Es flimmert und glänzt wie Silber, aber der Braunkohl von Bremen wächst nicht unter dem Schnee der Gletscher, und wenn ich jetzt in Bremen wäre, ich würde eine 'Langkohlparthie' nach Horn mitmachen.'
Aus den Langkohlpartien werden die Kohl- und Pinkelfahrten, raus aus Bremen, rein in die Landgasthöfe der Umgebung. Die haben im Januar und Februar Hochsaison. Diese Fahrten werden von Kegelklubs, Schützenvereinen, Fußballvereinen, Lehrerkollegien und Betrieben gemacht und sind aus dem Bremer Leben im Januar und Februar (wenn der Kohl schön knackig angefroren ist) nicht mehr wegzudenken. Sogar die Wissenschaft hat sich schon auf sie gestürzt. Seit dem Jahre 1988 gibt es eine Doktorarbeit mit dem schönen Titel Kohl- und Pinkelfahrten: Geschichte und Struktur einer Festzeit in Norddeutschland, die soziologisch volkskundlich alles über diesen Brauch enthält. Einschließlich ausgewerteter Fragebögen von hunderten von Teilnehmern. Ich weiß nicht, ob der Verfasser Martin Westphal an der Uni Münster zum Dr. phil. promoviert wurde oder ob er Dr. kohl ist. Die Arbeit hat seiner Karriere nicht geschadet, er ist heute der Leiter des Historischen Museums in Rendsburg. Sein Buch gehört zu den am häufigsten angefragten Titeln in der Bibliothek der Oldenburger Grünkohl-Akademie. Auch so was gibt es, die Nordddeutschen nehmen ihren Grünkohl schon sehr ernst.
Auch bei uns am Tisch ist das Essen eine ernste Sache, alle Teile des Gerichtes werden sachkundig kommentiert und mit anderen Kohl-und Pinkelgerichten verglichen, die man irgendwann irgendwo gegessen hat oder selbst gekocht hat. Jedes Jahr werden wieder Rezepte ausgetauscht, an die sich aber niemand hält. Butenbremer, die jetzt schon studieren, bekommen von ihren Eltern Pinkelwurst an den Studienort nachgeschickt, außerhalb Bremens kriegt man vielleicht Kohl, aber keinen Pinkel. Nach dem Essen gehen wir erstmal stundenlang im Hasbruch spazieren, das ist besonders schön, wenn der Boden gefroren ist und Schnee liegt. Wenn der Boden vom Regen naß und matschig ist, kann man den Hasbruch vergessen. Das ist nämlich ein echter Urwald. Tausendjährige Eichen. Die vierhundertjährigen Franzosenbuchen mussten gerade gefällt werden, weil sie eine Gefahr für Spaziergänger darstellten. Nach dem Verdauungsspaziergang geht es wieder zurück in den Gasthof für Kaffee und Kuchen, es ist eigentlich unglaublich, dass der Magen schon wieder aufnahmefähig ist. Wenn die Kegelbahn frei ist, kegeln wir vorher alle noch eine Runde.
Mittlerweile sind die Tische umgestellt worden, eine Tanzfläche wurde freigeräumt. Eine Kapelle ist erschienen und spielt langsame Tanzmusik. Dicke Bäuerinnen mit Strickjacken überm Kleid tanzen miteinander, ihren Kerl kriegen die jetzt nicht mehr vom Tisch hoch. Nachdem der Kaffee und Kuchen und fett Sahne intus hat, fängt er an Konjäckchen zu schnasseln. Den Asbach lass’ mal gleich hier auf dem Tisch stehen, sagt er gönnerhaft zur Serviererin. Danach wird es bei den meisten Festivitäten gemischt, wie man so schön sagt. Auch das hat Dr. Westphal untersucht. Wir bekommen davon aber nichts mit, weil wir alle wieder in unsere Limousinen gestiegen sind und auf dem Weg nach Bremen sind. Aber für viele ist das jetzt der Ersatz für Karneval. Geben auf dem Fragebogen von Westphal viele an. Es gibt auch einen Fragebogen für das Personal, wo auch Fragen nach alkoholisierten Übergriffen der Gäste auf weibliche Bedienstete drinstehen. Der Doktor, der seinen Titel den Kohl- und Pinkelfahrten (KPF) verdankt, hat an alles gedacht. Ist natürlich scheinwissenschaftlicher Tüddelkram. Wenn man einmal eine KPF bis zum bitteren Ende mitgemacht hat, dann weiß man, wie das läuft.
Die Gattin in Jägersbergs Theaterstück, die die Geschichte mit dem Hotel Graf Anton Günther in Oldenburg, mit dem besten Grünkohl aller Zeiten und dem Frost, den der Kohl braucht, um knackig zu werden, schon tausendmal gehört hat, hat diesmal im sanften Ehekrieg etwas Neues. Grünkohlflöhe. Hat ihr der Gemüsehändler gesagt, der Kohl braucht den Frost, damit die Grünkohlflöhe absterben. Grünkohlflöhe, ich werde wahnsinnig, sagt der Mann. Die Dialoge werden lauter. Sie schreit Wenn Du immer mit Deinem Grünkohl anfängst, und Dein blöder Grünkohl. Am Ende, nach ein paar gehässigen Bemerkungen über die Langsamkeit der Holländer scheinen sie wieder versöhnt. Es könnte jetzt aber auch ein Mord passieren.