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Dienstag, 31. Dezember 2019

prezzies


Der kleine Pip hat in der Tiefe des Ozeans die Füße Gottes gesehen, wie sie den Webstuhl der Welt treten. Und er hat davon erzählt, deshalb hält man ihn für verrückt: So man's sanity is heaven's sense; and wandering from all mortal reason, man comes at last to that celestial thought, which, to reason, is absurd and frantic; and weal or woe, feels then uncompromised, indifferent as his God. Melville hat seltsame Dinge aus der Bibel herausgelesen. Das hat seine wenigen zeitgenössischen Leser wahrscheinlich mehr verstört als seine komplizierte Syntax.

Das schrieb ein in der Welt der Blogosphere unerfahrener Blogger Anfang Januar 2010. Er war da gerade mal zwei Tage im Netz. Melvilles komplizierte Syntax begegnete mir gerade wieder beim Auspacken der Weihnachtsgeschenke. Eins der Geschenke war ein Buch, das schlicht Semicolon hieß und den Untertitel The Past, Present, and Future of a Misunderstood Mark hatte. Ich schlug den schmalen Band auf und landete bei einem Kapitel, das Blubber and Blather hieß, das war das Kapitel über das Semikolon bei Herman Melville. Viele Schriftsteller mögen das Semikolon, das sich im 15. Jahrhundert in die Literatur geschlichen hat, überhaupt nicht. Aber Melville, der liebte dieses Satzzeichen, allein zwei davon finden sich in dem oben zitierten Satz. Und in Moby-Dick sind es mehr als viertausend. Ich ahne schon, dass da mal ein Post über das Semikolon geschrieben werden muss. Einen Post über Ausrufezeichen, vulgo Brüllstangen, gibt es hier ja schon.

Die schönen Geschenke bringen immer Arbeit mit sich, weil sie mehr oder weniger schnell in den Blog geschrieben werden. Als ich Jens Rostecks Jeanne Moreau Biographie auspackte, wusste ich, dass ich den Post Jeanne Moreau überarbeiten musste. Und massenhaft Links einbauen musste, die zu den Filmen führen. Das hatte ich ja in Les Films de ma Vie versprochen, aber fertig ist das Ganze leider noch nicht. Zu viele Posts. Was auch leider noch nicht fertig ist, ist die Fortsetzung der Geschichte mit der schönen Buchhändlerin. Die hatte im Februar ihr Leben in dem Post Sommerurlaub gewonnen, war dann im März in Rendezvous schon wieder da und tauchte zuletzt in dem Post Autorenlesung auf. Viele Leser haben sich nach ihrem Befinden erkundigt. Ich glaube sie wird demnächst zu einem Klassenfest gehen. Wo alle, die bisher keinen Mann abgekriegt haben, sich betrinken und über das Leben nachdenken werden.

Und da ich gerade beim Thema Frauen bin, muss ich noch etwas zu Christine sagen. Nicht zu Christine Keeler, die längst einen Post hat, sondern zu der Frau, die ich in dem Post Vergessen erwähnt habe: Worüber ich eigentlich schreiben wollte, das war ein altes schwarzes Schulheft aus den sechziger Jahren, das ich beim Aufräumen fand. Christine stand vorne drauf, und in dem Heft waren Skizzen zu einer Erzählung über eine Frau, die ich Christine genannt hatte. Ich erinnere mich an sie, sie war blond und hatte kleine Strähnchen im Haar, sie legte den Kopf immer etwas schief. Sie sprach sehr leise, man musste nahe an sie heranrücken. Das alles weiß ich noch. Aber alles andere, das in diesem Heft stand, das hatte ich vergessen. Nicht vergessen habe ich, dass ich geschrieben habe: Und irgendwann schreibe ich über diese blonde Frau, die ich Christine genannt habe. Das werde ich nicht vergessen. Angefangen habe ich schon.

Man muss sich ja auch etwas für das neue Jahr aufbewahren. Der Herr hier, den der Ihnen schon bekannte Cartoonist gezeichnet hat, wird im neuen Jahr wahrscheinlich häufiger hier auftauchen. Es wird ihm bestimmt gelingen, Great Britain in Little Britain zu verwandeln. Ob das Buch über William Shakespeare, das er angeblich seit Jahren schreibt, je erscheinen wird, dass weiß ich allerdings nicht.

Ein Weihnachtsgeschenk muss ich noch erwähnen, das etwas überraschend kam. Meine Leser haben es mir gemacht, weil sie mich an den Feiertagen häufiger angeklickt haben als je zuvor. Wenn mich heute so viele lesen wie gestern, dann schaffen wir es vor Mitternacht leicht, dass da unten auf der Seite 4.400.000 Leser stehen werden.

Ich wünsche all meinen Lesern alles Gute für das neue Jahr. Und zitiere zum Ende des Fontane Jahrs noch einmal Theodor Fontane:

Ein neues Buch, ein neues Jahr
Was werden die Tage bringen?!
Wird's werden, wie es immer war,
Halb scheitern, halb gelingen?

Ich möchte leben, bis all dies Glühn
Rücklässt einen leuchtenden Funken.
Und nicht vergeht, wie die Flamm' im Kamin,
Die eben zu Asche gesunken.


Montag, 30. Dezember 2019

Fonty


Heute vor zweihundert Jahren wurde der Schriftsteller Theodor Fontane geboren. Das sogenannte Fontane Jahr ist sehr ruhig verlaufen, der Schriftsteller war nicht unbedingt in den Medien ständig präsent. Das ZDF sendet heute einen Krimi namens ✺Unterm Birnbaum, der etwas mit Fontanes Roman zu tun haben soll. Es gab am Anfang des Fontane Jahres hier den Post Fontane.200, und natürlich hat es hier mal einen Post mit seinem berühmten Gedicht zu seinem 75. Geburtstag gegeben. Man konnte im Fernsehen am 6. Dezember Thea Dorn über Effi Briest reden hören. Sie erwähnte da einen Major. Wir wissen, dass in dem Roman ein Major vorkommt, er heißt von Crampas. Thea Dorn betonte den Dienstgrad des Herrn von Crampas auf der ersten Silbe, ich habe selten so gelacht. Nach sieben Minuten war man mit Fontane fertig. Hat er das verdient? Interessanter war da schon die Sendung Effi Briest oder die Elastizität des Herzens bei 3sat, die kann man hier noch bis zum Mai 2020 sehen.

Auch die Bundesregierung hatte zu Fontane im Jahre 2019 etwas mitzuteilen. So sagte die Staatsministerin Monika Grütters: Das Fontanejahr bietet die Möglichkeit, Theodor Fontane abseits vertrauter Darstellungen neu zu entdecken. Er gilt als literarischer Spiegel Preußens und als bedeutendster deutscher Vertreter des Realismus. Theodor Fontane begleitet uns, seine Leser, als Romancier, Dichter, Journalist, Theaterkritiker, Kriegsberichterstatter und literarischer Wanderer. Es sind seine Gedichte, seine Hauptwerke und da vor allem seine markanten Frauenfiguren, die seinen Werken eine geradezu aufregende Aktualität bescheren. Faszinierend sind Theodor Fontanes präzise Charakterstudien, seine Fähigkeit, die gesellschaftlichen Umbrüche seiner Zeit zu schildern und sich in die Zeitgeschichte einzumischen. Auch seine Natur- und Gesellschaftsbeschreibungen setzen bis heute literarische Maßstäbe. Fontanes zeitlose Literatur bereichert die eigene Lebens- und Vorstellungswelt in jeder Zeitepoche wieder aufs Neue. Den Veranstaltungen zum Fontanejahr wünsche ich viele neugierige und lesefreudige Gäste aus ganz Deutschland und rufe ihnen zu: Lest mehr Fontane!

Freitag, 27. Dezember 2019

Peter Schreier ✝


Der deutsche Tenor Peter Schreier ist Weihnachten im Alter von vierundachtzig Jahren in seiner Heimat Dresden gestorben. Mir würde etwas fehlen, wenn ich nicht in Dresden leben könnte, hat er gesagt, als man ihn fragte, warum er die DDR nie verlassen hätte. Aber er durfte ja auch immer für Konzerte ausreisen, so dass die ganze Welt seine Stimme hören konnte. Der Sänger ist immer wieder in diesem Blog erwähnt worden, zu seinem Geburtstag im Jahre 2013 gab es hier einen Post für ihn. Den stelle ich heute noch einmal ein, ich habe ihn vorsichtig überarbeitet, indem ich alle verloren gegangenen Links ergänzt habe. Damals schrieb ich über Schuberts Schöne Müllerin: Ich merke gerade, dass ich noch niemals einen langen Post über Schuberts 'Schöne Müllerin' geschrieben habe. Es gibt hier zwar schon den Post Lindenbäume, aber noch nicht so etwas wie eine Sammelbesprechung der vielen Aufnahmen. Kommt noch, wenn ich mal Zeit habe. Das Versprechen Kommt noch, wenn ich mal Zeit habe, habe ich inzwischen wahrgemacht. Es gibt zur Schönen Müllerin inzwischen die Posts Die schöne Müllerin: Helle Stimmen, Tränenregen, Hans Peter Blochwitz und Die schöne Müllerin (Prolegomena), alles Posts, in denen Peter Schreier auch immer wieder erwähnt wird.

Peter Schreier wird heute [29.7.2013] achtundsiebzig, und da möchte ich doch ganz herzlich gratulieren. Er ist einer der wenigen lyrischen Tenöre, die wir in Deutschland hatten. Im letzten Monat hat er in Leipzig die Bach Medaille erhalten. Das war im Frühjahr noch gar nicht so sicher. Nicht, dass er die Bach Medaille nicht verdient hätte, sondern ob er sie überhaupt hätte in Empfang nehmen können. Erst eine Lungenentzündung zu Anfang des Jahres, dann zwei Schlaganfälle. Er ist aber dem Tod noch mal von der Schippe gehüpft, wie man auf diesem Photo von der Verleihung der Bach Medaille sehen kann.

Das Weihnachtsoratorium von Bach in Prag im Jahre 2005 war sein letzter öffentlicher Auftritt, da war er über siebzig Jahre auf der Bühne - wenn man seinen ersten Auftritt im Dresdner Kreuzchor mitzählt. Der Kantor des Kreuzchors Rudolf Mauersberger hatte schon schnell sein Talent erkannt und ihm erste Soloparts als Knabenalt gegeben. Von da an bestimmen Bach Kantaten und Oratorien sein Leben. An dieser Stelle muss ich ein Geständnis machen: es ist nicht meine Welt. Zwar habe ich CDs von Bachs wichtigsten Passionen, Oratorien und Messen - und die werden auch zu Weihnachten und Ostern aufgelegt - aber die Musik interessiert mich nicht wirklich. Natürlich bin ich früher für Bach in den Bremer Dom gegangen, aber nur weil meine Freundin im Chor mitsang. Manchmal spiele ich auf dem Klavier Jesu bleibet meine Freude in der Klavierbearbeitung von Myra Hess (aus der Kantate BWV 147), das ist sehr schön. Bachs Choralwerke sind sicherlich auch sehr schön, aber irgendwie zu viel für mich. Kurt Masur hat über Peter Schreier gesagt: Er singt immer so, wie es gesungen werden muss, und wenn man es anders singt, ist es falsch. Wenn er die 'Matthäus-Passion' singt, dann glaubt man ihm.

Neben dem Bachsänger Peter Schreier gibt es aber noch den Opernsänger und den Liedsänger Peter Schreier. Der gefällt mir sehr viel besser. Ich habe ihn schon in dem Post Winterreise erwähnt. Musste da aber einschränkend sagen, dass mir seine Aufnahme der ✺Winterreise mit Swjatoslaw Richter nicht so gefällt (liegt aber am russischen Liedbegleiter). Seine beiden Aufnahmen der Schönen Müllerin - einmal mit Walter Olbertz und die Gitarrenversion mit ✺Konrad Ragossnig - finde ich sehr schön (Walter Olbertz kam hier schon einmal in dem Post Haydn: Klaviersonaten vor). Und es gibt auch noch eine interessante Aufnahme, wo er von Steven Zehr (Hammerklavier) begleitet wird. Ich merke gerade, dass ich noch niemals einen langen Post über Schuberts Schöne Müllerin geschrieben habe. Es gibt hier zwar schon den Post Lindenbäume, aber noch nicht so etwas wie eine Sammelbesprechung der vielen Aufnahmen. Kommt noch, wenn ich mal Zeit habe. Und die Leser wieder da sind, die scheinen im Augenblick alle im Urlaub zu sein. Aber bis dahin habe ich für Sie Die Schöne Müllerin mit Peter Schreier in ganzer Länge. Klicken Sie hier.

Auf der Opernbühne stand Peter Schreier 1959, gleich als er mit seinem Studium von Gesang (und Dirigieren) fertig war. Sang einen der Gefangenen in Beethovens Fidelio. Aber wenig später kam der Tamino aus der Zauberflöte, eine Rolle, die er hunderte von Malen gesungen hatte. Zuletzt im Jahre 2000, aber er wusste schon vorher, dass das nicht ewig geht: Irgendwann bin ich kein junger Prinz mehr. Und so war das damals auch sein Abschied von der Opernbühne. Er hat die Bühnen der Welt gesehen, er war in Bayreuth (wo er 1966 den jungen Seemann in Tristan und Isolde unter Karl Böhms Dirigat sang), und seit den sechziger Jahren war er ständiger Gast der Wiener Staatsoper. Er war das, was in der DDR so schön Reisekader hieß, er konnte nach Mailand, Buenos Aires und New York reisen. Davon träumten viele. Er hat nie rübergemacht, obgleich die Gelegenheit dazu immer da war. Aber er genoss als Exportschlager der DDR auch in der Republik eine Sonderstellung. Ich wurde fast wie ein rohes Ei behandelt, hat er einmal gesagt. Seit 1945 wohnt er in Dresden, irgendwie ist er sehr bodenständig. Er ist ein Weltstar gewesen, aber einer von der bescheidenen, sympathischen Art.

Nomen non est omen, hat Karl Böhm einmal in Anspielung auf seinen Namen gesagt (sehen Sie hier ein Interview mit August Everding). Nein, Peter Schreier schreit nicht, er war ein lyrischer Tenor. Als er anfing, Opern zu singen, sangen Rudolf Schock und Fritz Wunderlich noch. Drei deutsche Tenöre von Weltklasse, das kam bei uns in Deutschland nicht wieder. Und auch solche Sänger wie auf diesem Photo wird man so schnell nicht wieder finden: (von links) Hermann Prey als Guglielmo, Dietrich Fischer-Dieskau als Don Alfonso und Peter Schreier als Ferrando in Cosi fan Tutte im Jahr 1972. FiDi musste natürlich wieder in der Mitte sein, das geht nicht anders.

Aber hier habe ich Schreier mal in der Mitte (mit dem Bass Harry Peeters, Christa Ludwig, Edda Moser und Dietrich Fischer-Dieskau 1986 in Salzburg). Fischer-Dieskau muss auch wieder auffallen: er trägt eine schwarze Weste zum Frack. Peter Schreier und Fritz Wunderlich haben sich nur einmal getroffen, Hermann Prey, der mit beiden befreundet war, hatte sie miteinander bekannt gemacht. Schreier hatte den größten Respekt vor seinem Kollegen: Mir hat ja Fritz Wunderlich immer etwas im Nacken geschwebt von vielen Institutionen und von vielen Medien wurde ich ja als sein Nachfolger, manchmal gar als der legitime Nachfolger Wunderlichs hingestellt. Und das war für mich nicht einfach. Weil ich zunächst mal glaube, daß wir zwei ganz verschiedene Sänger sind, daß er zwar auch Mozart gesungen hat und ich Mozart gesungen habe und noch singe, daß er aber von seiner ganzen Veranlagung, von seinem Timbre und seiner Ausdrucksweise, auch von seinem Temperament her ein ganz anderer Mensch war als ich. Und er weiß auch mit Hochachtung zu berichten: Ich weiß, daß er mich protegiert hat, daß er mich damals für die Entführung in Salzburg sehr empfohlen hat... und gesagt hat: Jetzt nehmt's doch mal den Schreier und lasst mich in Ruhe!' Das fand ich ganz uneigennützig, ja toll von ihm; wer macht das schon unter Kollegen?

Peter Schreier hat seinen Abschied von der Bühne angeblich lange geplant, er singe nicht mal mehr im Bad, versicherte er Zeitungsreportern. Aber er dirigiert noch und gibt Meisterkurse. Und mutet sich offensichtlich zu viel zu, die Herzoperation vor drei Jahren, die Operation an der Halsschlagader im letzten Jahr und die Schlaganfälle in diesem Jahr kommen sicher nicht von ungefähr. Ich glaube, Dietrich Fischer-Dieskau hatte sein Leben nach den öffentlichen Auftritten besser organisiert. Ich kann da keine Ratschläge geben, aber ich wünsche ihm alles Gute. Und womit kann man einem Sänger gratulieren? Am besten mit Albert Stadlers Kantate zum Geburtstag des Sängers Johann Michael Vogl:

Sänger, der von Herzen singet 
Und das Wort zum Herzen bringet, 
Bei den Tönen deiner Lieder 
Fällt's wie sanfter Regen nieder, 
Den der Herr vom Himmel schickt, 
Und die dürre Flur erquickt!

Donnerstag, 26. Dezember 2019

Domino


Ich fand es eine schöne Geste von One HD, dass sie Weihnachten Terence Youngs Film Triple Cross (Spion zwischen zwei Fronten) sendeten, wo eine der Hauptdarstellerinnen gerade gestorben war. Aber dann sah ich im Programmheft, dass es keine Hommage an Claudine Auger war, der Film stand schon länger im Programm.

Kein Nachruf für Claudine Auger ließ aus zu erwähnen, dass sie das erste französische Bond Girl war. Das haftet ihr an wie ein großflächiges Tattoo. Der Produzent von ✺Thunderball Kevin McClory hatte Claudine Auger auf den Bahamas entdeckt, die französische Schönheit im Bikini zog sofort seine Blicke an. Da vergaß er, dass man mit Julie ChristieRaquel Welch und Faye Dunaway verhandelte. Das Drehbuch musste umgeschrieben werden, denn diese Dominique 'Domino' Derval des Films sollte eigentlich eine Italienerin mit dem Filmnamen Dominetta Palazzi sein. Diese Rolle war der rothaarigen Luciana Paluzzi versprochen worden, die dann im Film zu einem bösen Bond Girl wurde.

Wenn man ein Bond Girl war (gut oder böse), dann hatte man es geschafft. Auch wenn man das Filmende nicht erlebte, weil man von Haien gefressen wurde oder mit Gold angemalt wurde. Die Engländerin Fiona Pitt-Kethley, die Ende der achtziger Jahre bezaubernd anzügliche Gedichte schrieb (sie wird in dem Post Schmutzige Lyrik erwähnt), hat ein hübsches kleines Gedicht über die Bond Girls geschrieben:

Back in my extra days, someone once swore
she'd seen me in the latest James Bond film.
I tried to tell her that they only hired
the real glamorous leggy types for that.
(My usual casting was 'a passer-by'.)

I've passed the lot in Pinewood Studios.
It's factory-like, grey aluminium, vast
and always closed. Presumably that's where
they smash up all the speedboats, cars and bikes
we jealous viewers never could afford.

I quite enjoyed the books. Ian Fleming wrote well.
I could identify a touch with Bond,
liking to have adventure in my life.
The girls were something else. All that they earned
for being perfect samples of their kind -
Black, Asian, White - blonde, redhead or brunette,
groomed, beauty-parlourised, pleasing in bed,
mixing Martinis that were shaken not stirred
using pearl varnish on their nails not red -
was death. A night (or 2) with 007,
then they were gilded till they could not breathe,
chucked to the sharks, shot, tortured, carried off
or found, floating face downward in a pool.


Bevor der James Bond Film kam, war sie schon im Kino zu sehen gewesen. 1958 hatte sie den Titel Miss Monde France gewonnen (und wurde zweite bei der Wahl der Miss World). Im Preis der Miss Monde France inbegriffen war eine Nebenrolle in Pierre Gaspard-Huits Film Christine. Da war sie neben Romy Schneider und Alain Delon zu sehen. Den Regisseur hat sie dann auch gleich geheiratet.

Jean Cocteau gab ihr eine Nebenrolle in Le Testament d'Orphée, wenig später war sie an der Seite von Jean Marais in Le Masque de fer zu sehen. Und dann war da noch der Film Games of Desire (1964), dessen deutscher Verleihtitel Die Lady war. Und obgleich Ingrid Thulin, die die Zuschauer aus Das Schweigen kannten, in dem Film mitspielte, war der Film an den Kassen ein Flop. Er wurde später unter dem Titel Gräfin Porno von Ekstasien noch einmal angeboten, ich habe das schon in dem Post Gregory von Rezzori erwähnt. Wenn man sich auf so zweifelhafte Produktionen einläßt, dann landet man irgendwann in einem schrottigen Horrorfilm wie A Bay of Blood.

Wenn man mit siebzehn Schönheitskönigin ist und noch zur Schule gehen muss, dann hat man die Karriere noch vor sich. Wenn sie denn kommt. Viele hübsche Frauen bekommen schlechte Filmrollen. Was wäre aus Miss Monde France geworden, wenn sie bei Truffaut gelandet wäre? Erst einmal landet sie bei Terence Young. Der in China geborene Engländer kommt aus der upper middle class, war auf einer Public School und in Cambridge. Und war im Zweiten Weltkrieg Gardeoffizier. Wurde bei der Operation Market Garden verwundet und von einer jungen holländischen Krankenschwester gepflegt, die Jahre später ein Filmstar wurde. Als sie eigentlich ihre Karriere beenden wollte, war sie noch zweimal in Terence Youngs Filmen zu sehen: Wait Until Dark und Bloodline. Sie wissen, dass ich von Audrey Hepburn rede.

Terence Young, der auch den ersten James Bond Film gedreht hatte, verpflichtete Claudine Auger während der Dreharbeiten von Thunderball, auch noch in seinem nächsten Film mitzuwirken. Der hatte eine abenteuerliche Handlung, die einen James Bond Film übertraf. Ein Safeknacker, der als Agent für die Deutschen zu arbeiteten scheint, aber in Wirklichkeit auf der Seite des englischen Geheimdienstes und des französischen Widerstands ist.

Es ist ein Film, in dem alle Klischees bedient werden, die wir von deutschen Offizieren, SS Leuten und geheimnisvollen Gräfinnen (Romy Schneider) haben. Das Ganze in einer Starbesetzung mit Christopher Plummer (der in diesem Monat gerade neunzig geworden ist), Trevor Howard, Yul Brynner und Gert Fröbe. Claudine Auger spielt eine Französin namens Paulette, die natürlich für die Resistance arbeitet. Das war nach Christine das zweite Mal, dass sie mit Romy Schneider in einem Film war.

Mit Alain Delon, der damals auch in Christine zu sehen war, wird sie noch einmal in Flic Story zusammen zu sehen sein. Hier sehen wir ein Ehepaar mit Freunden beim Mittagessen in einem französischen Restaurant. Aber die Szene täuscht. Die am Tisch sitzenden Herren sind alle Polizisten, die gleich ihr Essen stehen lassen und Frankreichs meistgesuchten Verbrecher festnehmen werden. Der Film beruhte auf einer wahren Geschichte, ebenso wie Triple Cross eine wahre Geschichte erzählte. La fantastique histoire vraie d’Eddie Chapman war der französische Titel von Triple Cross, und so unwahrscheinlich diese Handlung erscheint, beinahe alles in dem Film war wahr.

Ob es die hübsche Paulette vom Widerstand wirklich gegeben hat, das weiß man nicht, aber hübsche Frauen müssen in einem französischen Film sein. Zehn Jahre war Claudine Auger im großen Filmgeschäft, dann kam nicht mehr viel. Fernsehserien wie The Memoirs Of Sherlock Holmes von Granada, wo man sie in der Folge The Three Gables als Isadora Klein sehen konnte. Gealtert, aber ungeheuer stilvoll und elegant.

Es war neben ihrer Nebenrolle in Salz auf unserer Haut eine ihrer letzten Rollen, sie hatte sich aus dem Filmgeschäft zurückgezogen. Ein stilles Leben ohne Skandale, auch das kann es geben. Wir werden die schöne Miss Monde France aus dem Jahr 1958 als Domino im Gedächtnis behalten. Für uns bleibt sie immer am Strand von Nassau.

Dienstag, 24. Dezember 2019

Auch ein Weihnachtsfest


Vergatterung, brüllte der Feldwebel in der Dunkelheit. Ich hatte das Wort noch nie gehört und wusste nicht, was es bedeutet. Aber ich wusste, dass wir gleich einen MAN Fünftonner besteigen würden und zu einem unbekannten Ziel gebracht würden. Wir würden die ganze Nacht etwas bewachen, das ganz geheim war, wir durften mit niemandem darüber reden. Bevor wir auf die Ladefläche vom Fünftonner kletterten, bekamen wir scharfe Munition. Es war schweinekalt draußen, die Zeitungen würden später von einem Rekordwinter reden. Es war der 24. Dezember, niemandem von uns war nach Weihnachten zumute. Der LKW war nicht sehr lange unterwegs, der geheime Ort musste in der Nähe unserer Kaserne sein. Als wir vor dem kleinen Wachgebäude im verschneiten Wald ankamen, wurden wir für die Wachen eingeteilt. Was wir bewachten, erfuhren wir auch. Es waren Atomwaffen. Die Sprengköpfe für die Honest John Raketen der Division. Die Heilige Nacht und dieses Friede auf Erden bekamen jetzt eine andere Dimension. Si vis pacem para bellum, sagt der Lateiner.

Wir waren nur die Wachen für den äußeren Bereich des Sperrgebiets. Da drinnen im Wald saßen die Amerikaner. Machten eine Woche nichts anderes als Wachdienst und wurden dann wieder ausgeflogen. Die waren voll auf Droge und schossen auf alles, was sich im Licht der Scheinwerfer bewegte. Ich glaube, in dem Wald gab es kein einziges lebendes Kaninchen mehr. Von zehn bis Mitternacht war ich mit einem anderen Gefreiten auf Streife, wir hielten gehörigen Abstand zu den Amerikanern. Es waren keine Wolken am Himmel, was die Kälte noch kälter werden ließ. Ich habe noch nie im Leben so gefroren. Eine Pudelmütze wäre jetzt schön gewesen. Ein Stahlhelm wärmt nicht in der Kälte der Winternacht. Um Mitternacht meldeten wir uns wieder in dem Wachgebäude, nachdem wir vorher die Außentemperatur auf dem Thermometer neben der Tür abgelesen hatten. Es waren minus 18 Grad. Der Wachhabende trug die Temperatur und unser keine besonderen Vorkommnisse in sein Wachbuch ein. Ihr seid morgens um vier wieder dran, sagte er, haut euch dahinten irgendwo hin.

Es gab keine Betten in dem kleinen Raum neben der Wachstube, auf dem Boden lagen Matratzen, ein Stapel Wolldecken war auf einem Stuhl plaziert. Ich nahm mir zwei, zog die Stiefel aus und schlief in kürzester Zeit ein. Wenig später wurde ich unsanft aus dem Schlaf gerüttelt, ich wusste, dass es noch nicht vier Uhr sein konnte. Ich verfluchte den Störenfried, dann hörte ich eine Stimme, die in der Dunkelheit sagte: Ich bin der katholische Standortpfarrer, ich wollte Ihnen ein fröhliches Weihnachtsfest wünschen. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, aber es war nichts Nettes. Nichts, das mit Weihnachten zu tun hat.

Das Sondermunitionslager, das damals so ungeheuer geheim war, ist inzwischen aufgelöst worden. Die Reste der Bauten, über die das Gras wächst, kann man im Internet sehen. Atomwaffen haben die Amerikaner immer noch in Deutschland, aber die sind jetzt an einer anderen Stelle. Die natürlich geheim ist. In dem alten Sondermunitionslager im Wald hat ein Bauer in einem Bunker Strohballen gelagert. Wenn Maria und Joseph jetzt vorbeikämen, hätten sie Platz in der Hütte und könnten das Jesuskind ins Stroh legen.

Ich wünsche all meinen Lesern ein frohes Fest.

Sonntag, 22. Dezember 2019

Advent


Ich habe in diesem Jahr noch nie Driving Home for Christmas im Radio gehört, sonst dudelte das schon im November alle zehn Minuten über den Sender. Aber das liegt wahrscheinlich daran, dass ich jetzt dieses kleine DAB+ Radio habe und andere Sender höre. Und die mögen offenbar keinen Chris Rea. Ist mir auch recht. Allerdings habe ich auch noch keine deutschen Weihnachts- oder Adventslieder gehört. Auf FFH Webradio könnte ich den ganzen Tag Weihnachtslieder hören, und das das ganze Jahre lang. Da ist dann bestimmt auch Driving Home for Christmas dabei. Ungefähr so unsinnig ist ein Buch, das Christmas Kultsongs heißt. Was für ein schöner sprachverhunzender Titel. Angeboten werden 68 Weihnachtslieder von Klassik bis Rock. Das definitive Weihnachtsbuch. Wenn Sie jetzt bestellen, liefert Amazon noch bis Weihnachten.

Tödliche Weihnachten mit Geena Davis und Der kleine Lord waren schon im TV, das werde ich Weihnachten vermissen. Dafür könnte ich natürlich Banana Joe sehen, oder am mir nächsten Tag die Helene Fischer Show angucken. Hab ich noch nie gesehen. Aber genug davon. Heute am vierten Advent soll es hier ein altes deutsches Lied geben, das vielleicht älteste Lied zum Advent. Ich weiß nicht, ob es in Christmas Kultsongs enthalten ist.

Es kommt ein Schiff, geladen
bis an sein’ höchsten Bord,
trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
des Vaters ewigs Wort.

Das Schiff geht still im Triebe,
es trägt ein teure Last;
das Segel ist die Liebe,
der Heilig Geist der Mast.

Der Anker haft’ auf Erden,
da ist das Schiff am Land.
Das Wort will Fleisch uns werden,
der Sohn ist uns gesandt.

Zu Bethlehem geboren
im Stall ein Kindelein,
gibt sich für uns verloren;
gelobet muß es sein.

Und wer dies Kind mit Freuden
umfangen, küssen will,
muß vorher mit ihm leiden
groß Pein und Marter viel,

danach mit ihm auch sterben
und geistlich auferstehn,
das ewig Leben erben,
wie an ihm ist geschehn.

Maria, Gottes Mutter,
gelobet musst du sein.
Jesus ist unser Bruder,
das liebe Kindelein.

Dass man einem alten Choral aus etwas Neues abgewinnen kann, das zeigt eine Gruppe, die sich Fluch und Segen nennt und der Jazzchor der Uni Bonn. Helene Fischer singt auf ihrer CD Weihnachten das Lied zwar nicht, aber immerhin ist da Maria durch ein Dornwald ging drauf.

Freitag, 20. Dezember 2019

Pieter de Hooch


Immer sind es diese schwarz-weißen Fliesen, die uns ins Auge fallen. Und diese ungeheuer aufgeräumten Innenräume. Dies Bild hier ist von dem Delfter Maler Pieter de Hooch, der heute vor 390 Jahren geboren wurde. Er war nicht ganz so berühmt wie sein Kollege Vermeer, dessen Ansicht von Delft Marcel Proust in seine Suche nach der verlorenen Zeit hineingeschrieben hat. Erst im Oktober 2019, dreihundertvierzig Jahre nach seinem Tod, hat es für ihn im Delfter Prinsenhof eine Ausstellung gegeben. Die können Sie sich noch anschauen, sie geht bis zum Februar 2020.

Aber wenn auch keins der Bilder von Pieter de Hooch in Prousts Roman gewürdigt wird, der Maler wird in Prousts Recherche erwähnt. Am Beginn der Liebe von Swann zu Odette, wird über das (im Roman immer wiederkehrende) kleine Musikstück von Vinteuil gesagt, dass die Melodie wie ein Gemälde von Pieter de Hooch sei: À son entrée, tandis que Mme Verdurin montrant des roses qu'il avait envoyées le matin lui disait: 'Je vous gronde' et lui indiquait une place à côté d'Odette, le pianiste jouait, pour eux deux, la petite phrase de Vinteuil qui était comme l'air national de leur amour. Il commençait par la tenue des trémolos de violon que pendant quelques mesures on entend seuls, occupant tout le premier plan, puis tout d'un coup ils semblaient s'écarter et, comme dans ces tableaux de Pieter De Hooch, qu'approfondit le cadre étroit d'une porte entrouverte, tout au loin, d'une couleur autre, dans le velouté d'une lumière interposée, la petite phrase apparaissait, dansante, pastorale, intercalée, épisodique, appartenant à un autre monde. Eric Karpeles illustriert das in seinem Buch Paintings in Proust durch dieses Bild. Er hätte auch jedes andere mit diesen verschachtelten Innenräumen nehmen können.

Innenräume, Perspektiven, Licht, das können die Holländer. Sie waren schon mehrfach in diesem Blog, Licht en lucht, dat is de kunst, hat Jan Hendrik Weissenbruch gesagt. Der hat hier einen Post, der bei meinen Lesern sehr beliebt ist und schon in anderen Blogs erwähnt wurde. Und um diese Innenräume, die Pieter de Hooch mit Beharrlichkeit (und wohl unter Verwendung einer camera obscura) malt, geht es auch in dem Post Peepshow. Der ist viele tausend Mal angeklickt worden, vielleicht hatten sich die Leser bei dem Titel etwas anderes versprochen.

In der Ausstellung in Delft sind nur neunundzwanzig Bilder zu sehen, aber das sind die Bilder aus seiner Zeit in Delft. 1660 zog er nach Amsterdam, da hatte er ein anderes Publikum, die Innenausstattung auf seinen Bildern wird luxuriöser. Die Fußböden und das Mauerwerk werden aber immer penibel akkurat gemalt, vielleicht liegt das daran, dass de Hoochs Vater Maurer gewesen ist. Ich habe heute zum Geburtstag von de Hooch noch ein kleines Gedicht. Es heißt Ballade von der Lichtmalerei und ist von Robert Gernhardt, dessen schönes Buch über Eichendorff ich bei dieser Gelegenheit noch einmal erwähnen möchte:

Leg etwas in das Licht und schau,
was das Licht mit dem Etwas macht,
dann hast du den Tag über gut zu tun
und manchmal auch die Nacht:

Sobald du den Wandel nicht nur beschaust,
sondern trachtest, ihn festzuhalten,
reihst du dich ein in den Fackelzug
von Schatten und Lichtgestalten.

Die Fackel, sie geht von Hand zu Hand,
von van Eyck zu de Hooch und Vermeer.
Sie leuchtete Kersting und Eckersberg heim
und wurde auch Hopper zu schwer.

Denn die Fackel hält jeder nur kurze Zeit,
dann flackert sein Lebenslicht.
Doch senkt sich um ihn auch Dunkelheit,
die Fackel erlischt so rasch nicht.

Sie leuchtet, solange jemand was nimmt,
es ins Licht legt und es besieht,
und solange ein Mensch zu fixieren sucht,
was im Licht mit den Dingen geschieht.

Die in dem Gedicht erwähnten Maler Vermeer, Kersting und Hopper haben hier schon einen Post. Edward Hopper ganz viele.

Mittwoch, 18. Dezember 2019

Lateinlehrer


Die Zahl der Schüler, die Latein als zweite Fremdsprache wählen, ist am Sinken, und trotzdem werden überall Lateinlehrer dringend gesucht. Sie scheinen zu einem endangered species zu werden. Und dabei brauchen wir sie dringend, als Wegführer zu jenen Kulturen, die die Grundlage unserer Kultur sind. Wir müssen einfach, weil wir nicht anders können, weil wir keine entsprechendere Lebenslaufbahn vor uns haben, weil wir uns zu anderen nützlicheren Stellungen einfach den Weg verrannt haben, weil wir gar kein anderes Mittel haben, unsre Constellation von Kräften und Ansichten unsren Mitmenschen nutzbar zu machen als eben den angedeuteten Weg. Schließlich dürfen wir doch nicht für uns leben. Sorgen wir nach unserem Theil dafür, daß die jungen Philologen mit der nöthigen Skepsis, frei von Pedanterie und Überschätzung ihres Fachs, als wahre Förderer humanistischer Studien sich gebärden. Soyons de notre siècle, wie die Franzen sagen: ein Standpunkt, den niemand leichter vergißt als der zünftige Philolog, hat der Altphilologe Friedrich Nietzsche über seinen Beruf gesagt.

Lateinlehrer: man vergisst sie nie. Von vielen dieser Lehrer meines Gymnasiums hier auf dem Photo kenne ich nicht mehr die Namen, aber die sechs Lateinlehrer, die erkenne ich sofort. Sechs Jahre Volksschule waren es damals in Bremen, bevor man zur Oberschule kam. Das hatten die amerikanische Besatzer gefordert, es sollte ein demokratisches Verhalten fördern. Hat es bestimmt. Das Gymnasium begann für uns mit der siebten Klasse. Es gab die Schicksalsfrage: Latein oder Französisch? Ich nahm Latein, weil man mir sagte, dass man dann später leichter Französisch lernen könne. Als Kind glaubt man ja alles, was einem die Erwachsenen erzählen.

Französisch lernt man ja am besten im Bett einer Französin heißt es, das Buch Französisch zwischen den Hügeln der Venus und den Lenden Adonis: Ein Sprachbuch für Liebeskünstler gibt es bei Amazon zu einem kleinen Preis. Es verspricht uns: Wer mit den 'Hügeln und Lenden' Französisch lernt, wird bald in der Lage sein, Liebesaffairen auch sprachlich zu bestehen. Wiederholt weisen die Autoren darauf hin, daß das Erlernen von Fremdsprachen zeitintensiv ist und daß ohne Fleiß kein Preis zu erwarten ist – zumindest keine differenzierteren Aussagen an französischen Stränden und in französischen Betten. Vielleicht hätte ich meiner schönen Buchhändlerin ein solches Buch zur Strandlektüre mitgeben sollen.

Solch amouröse Lernhilfen gibt es für das Latein nicht. Es gibt zwar ein Buch wie Latein für Dummies, aber da ist keine Rede von Venushügeln. Reicht das aus, um Vergils omnia vincit amor: et nos cedamus amori zu übersetzen? Ich hatte das Glück, dass es an meiner Schule experimentell eine reformierten Oberstufe gab, eine Vorwegnahme dessen, was später als Buxtehuder Modell bekannt wurde. Das bedeutete für mich drei Jahre Französisch in einer klitzekleinen Gruppe bei einem hervorragenden Lehrer. War vielleicht besser als drei Jahre im Bett von Brigitte Bardot (lesen Sie mehr dazu in dem Post Französisch). Für den Lateinunterricht änderte sich bei dieser Reform leider nichts. Nietzsches Soyons de notre siècle, kam da nicht vor. Vokabeln, Vokabeln, Vokabeln. Die Wörter schütteln, bis der Satz irgendwelchen Sinn macht. Eine word order wie im Englischen kennt diese Sprache nicht. Am liebsten mochte ich Hexameter, die skandiere ich noch beim Einchlafen. Oder so ein schönes elegisches Distichon: Cingere litorea flaventia tempora myrto, Musa, per undenos emodulanda pedes.

Mein Lateinlehrer in der ersten Klasse des Gymnasiums war auch mein Klassenlehrer. Er war einer der besten Lehrer unserer Schule. Ich habe ihn schon mehrmals in diesem Blog erwähnt, zuletzt in dem Post Birken. Damals hatte ich in Latein die Note Eins, die sollte sich im Laufe der Jahre verschlechtern. Das lag nicht am Latein oder an mir, das lag an den Lehrern. Mein Lateinlehrer in der Mittelstufe war adelig und unnahbar, hatte aber zwei hübsche Töchter. Die unerreichbar waren, weil ihr Vater Lateinlehrer war.

Ich habe ihn ein Jahrzehnt später an meiner Uni wiedergetroffen, er konnte sich nicht an mich erinnern, obgleich ich Jahre vor seiner Nase gesessen hatte. Er erzählte mir, dass er in den Sommerferien immer einen alten Freund besuche, der hier Ordinarius sei. Als er den Namen nannte, habe ich mich höflich verabschiedet. Sein alter Freund war ein großer Nazi gewesen, das wusste hier jeder an der Uni. Wahrscheinlich aus diesem Grund war sein Sohn zur RAF gegangen. War wenige Jahre zuvor von der Polizei erschossen worden. Als ich vor kurzem den Namen meines adeligen Lateinlehrers bei Google eingab, sah ich mit Erstaunen, dass er einen Wikipedia Artikel besaß. In dem stand, dass er ein großer Nazi gewesen war, das erklärte wohl die sommerlichen Besuche bei seinem Freund an der Universität. Latein macht einen nicht zum guten Menschen. Auch Franz Josef Strauß war Lateinlehrer.

Mein Lateinlehrer in der Oberstufe war direkt aus der Feuerzangenbowle in das Leben gestolpert. Bei Klassenfahrten trug er Knickerbocker, ein Norfolk Jackett mit Gürtel, eine Baskenmütze und eine umgeschnallte lederne Kartentasche. Ich habe ihn schon in dem Post Adam Oeser erwähnt, in dem es auch um den Lateinunterricht geht. Dem folgte damals am nächsten Tag wieder ein Post zu dem Thema, der den Titel O tempora, o mores! hatte. Sie können daraus sehen, dass der Lateinunterricht bei mir Spuren hinterlassen hat. Schlechte Lehrer sind auch eine gute Schule. In seinem Buch Lehrerkind – Lebenslänglich Pausenhof hat Bastian Bielendorfer einen ähnlichen Typ Lateinlehrer wie den meinen beschrieben: Der Lateinlehrer lebt ständig in der Grauzone zwischen selbst empfundener Wichtigkeit der lateinischen Sprache ('allein schon für die humanistische Bildung') und dem aufkeimenden Bewusstsein, dass man ebenso Hirschpaarungslaute oder Klingonisch lehren könnte. Als Reaktion auf diese innere Dissonanz versucht sich der Lateinlehrer im Schulalltag durch das Tragen von Filzjacken-Cordhosen-Kombinationen in Taubenkot-Dunkelgrün zu tarnen und so die vierzigjährige Dienstzeit in der Lauerhaltung eines Kieselsteins einfach auszusitzen.

Ich habe meinen letzten Lateinlehrer nicht wirklich gehasst, er war mir gleichgültig, letztlich war er ein armes Schwein. Er hat mir auch nicht die Freude an der lateinischen Literatur genommen, selbst wenn ich heute zweisprachige Texte bevorzuge. Viele Fächer interessierten mich damals in der Schule überhaupt nicht, ich hatte ein ganz anderes Ziel: ich wollte mit einundzwanzig durch die Weltliteratur durch sein. Wenn ich mir meine Leseliste aus dem Jahr 1962 anschaue, dann steht da viel von dem drauf, was wir Klassik nennen. Allerdings auch viele Franzosen, weil ich damals Exi war. Aber Thukydides und Apuleius waren auch auf der Liste.

Von Zeit zu Zeit wird die tote Sprache Latein in diesem Blog höchst lebendig. All das, was ich über Griechen und Römer (und die Vorstellung, die wir von ihnen haben) geschrieben habe, hat mir sehr, sehr hohe Leserzahlen eingebracht. Mein Blog hat einen lateinischen Namen, den ich mir bei Publius Papinius Statius geklaut habe, der unter dem Namen Silvae seine kleineren verstreuten Dichtungen sammelte. Wenn man heute bei Google oder Bing den Namen Silvae eingibt, dann ist das Ergebnis Nummer Eins nicht Statius, sondern mein Blog. Das finde ich sehr witzig, dass ich in der Welt des Internets wichtiger zu sein scheine als Publius Papinius Statius. 

Wir wissen, wofür Französischkenntnisse gut sind. Um garçon, une bouteille de champagne! zu rufen, falls wir mal mit Carla Bruni ausgehen sollten. Und um schmutzige Dinge zu verstehen, die ein französischer Fußballspieler bei der Weltmeisterschaft seinem Trainer sagt. Aber was sollen wir mit toten Sprachen? Warum habe ich Latein gelernt? Also, es hat mir bis heute nicht geschadet, eher im Gegenteil. Und für das sogenannte Große Latinum (nicht dieses billige KMK Latinum von 1979) bin ich bis heute dankbar, auch wenn ich meinen letzten Lateinlehrer nicht mochte. Natürlich kommt man durchs Leben, ohne Latein oder Griechisch zu können, außer wenn man Papst werden will. William Shakespeare hatte little Latin and less Greek, wie ein Zeitgenosse sagte, er wurde zu einem der größten Dramatiker der englischen Literatur.

Und natürlich kann man eine klassische Bildung vortäuschen, in dem man aus Büchmanns Geflügelten Worten die lateinischen Sentenzen auswendig lernt und sie von Zeit zu Zeit in die Unterhaltung einflicht. Dieses Verfahren, das in Stephen Potters ironischem und satirischem Buch über die One-Upmanship schon beschrieben wurde, reicht ja heute schon aus, um ihm Fernsehen vorzugaukeln, man sei Philosoph. Lernen Sie zwanzig Namen von Philosophen von Aristoteles bis Foucault oder Luhmann auswendig und fügen Sie diese Namen in jeden dritten oder vierten Satz ein! Alle werden Sie für einen Philosophen halten. Thea Dorn hat damit Erfolg.

Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen, und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenschaft anzukleben pflegt. Die große Bewegung im Reiche des Geistes, welche unsre Väter von ihren Hütten und Hüttchen aus unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zugeführt, welche nun auf allen Markttischen ausliegen. Ohne sonderliche Anstrengung vermag auch die geringe Fähigkeit wenigstens die Scheidemünze jeder Kunst und Wissenschaft zu erwerben. Aber es geht mit geborgten Ideen, wie mit geborgtem Gelde, wer mit fremdem Gute leichtfertig wirtschaftet, wird immer ärmer. Aus dieser Bereitwilligkeit der himmlischen Göttin gegen jeden Dummkopf ist eine ganz eigentümliche Verderbnis des Worts entstanden. Man hat dieses Palladium der Menschheit, dieses Taufzeugnis unsres göttlichen Ursprungs, zur Lüge gemacht, man hat seine Jungfräulichkeit entehrt. Für den windigsten Schein, für die hohlsten Meinungen, für das leerste Herz findet man überall mit leichter Mühe die geistreichsten, gehaltvollsten, kräftigsten Redensarten. Das alte schlichte: Überzeugung, ist deshalb auch aus der Mode gekommen, und man beliebt, von Ansichten zu reden. Aber auch damit sagt man noch meistenteils eine Unwahrheit, denn in der Regel hat man nicht einmal die Dinge angesehn, von denen man redet, und womit beschäftigt zu sein, man vorgibt, schreibt Karl Immermann 1836 in Die Epigonen.

Non scholae, sed vitae discimus, heißt es so schön. Aber der Satz ist reine Studienratsromantik. Im Original heißt es bei Seneca: Latrunculis ludimus. In supervacuis subtilitas teritur: non faciunt bonos ista sed doctos. Apertior res est sapere, immo simplicior: paucis (satis) est ad mentem bonam uti litteris, sed nos ut cetera in supervacuum diffundimus, ita philosophiam ipsam. Quemadmodum omnium rerum, sic litterarum quoque intemperantia laboramus: non vitae sed scholae discimus. Was auf deutsch heißt: Kinderspiele sind es, die wir da spielen. An überflüssigen Problemen stumpft sich die Schärfe und Feinheit des Denkens ab; derlei Erörterungen helfen uns ja nicht, richtig zu leben, sondern allenfalls, gelehrt zu reden. Lebensweisheit liegt offener zu Tage als Schulweisheit; ja sagen wir’s doch gerade heraus: Es wäre besser, wir könnten unserer gelehrten Schulbildung einen gesunden Menschenverstand abgewinnen. Aber wir verschwenden ja, wie alle unsere übrigen Güter an überflüssigen Luxus, so unser höchstes Gut, die Philosophie, an überflüssige Fragen. Wie an der unmäßigen Sucht nach allem anderen, so leiden wir an einer unmäßigen Sucht auch nach Gelehrsamkeit: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.

Ich halte nicht so viel von Nietzsche, aber diesen gehässigen Satz von ihm muss ich doch mal eben zitieren: Winckelmanns und Goethes Griechen, V. Hugo’s Orientalien, Wagners Edda-Personnagen, W. Scotts Engländer des 13. Jahrhunderts – irgend wann wird man die ganze Komödie entdecken: es war Alles über alle Maaßen historisch falsch, aber – modern, wahr! Lorella Bosco hat das in ihrer Dissertation über die deutschen Antikebilder kommentiert: Sie zeugen alle von demselben Bedürfnis, die eigene historische Stellung an ein für exemplarisch gehaltenes Zeitalter der Geschichte zu bestimmen, die Erwartungen und Wunschvorstellungen der eigenen Zeit auf eine beliebige Vergangenheit als Kontrastfolie für die Gegenwart zu projizieren. Man findet sich in der Vergangenheit wieder, man definiert sich durch das Vergangene, das zugleich das Andere und das Eigene ist. 

Alles über alle Maaßen historisch falsch, sagt Nietzsche, wir würden heute das Wort Fake gebrauchen. Winckelmann hat keines seiner begonnenen Universitätsstudien abgeschlossen, er war nie in Griechenland. Aber wir haben immer noch dieses edle Einfalt und stille Größe im Kopf, glauben, dass nur er die griechische Kunst verstanden hätte. Das ist das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen, das Nietzsche in Über die Persönlichkeit Homers, seiner Antrittsrede an der Universität Basel 1869, erwähnte.

Der Satz History is bunk, wird Henry Ford zugeschrieben. Genauer hat er gesagt: History is more or less bunk. It's tradition. We don't want tradition. We want to live in the present, and the only history that is worth a tinker's damn is the history that we make today. Donald Trump, der kein Latein kann und auch keine Fremdsprache außer Twitter spricht, würde ihm da wahrscheinlich zustimmen. Andrew Jackson war der erste amerikanische Präsident, der kein Latein konnte, das e pluribus unum im Wappen der Vereinigten Staaten musste man ihm übersetzen. Auf den Gedenkmünzen, die jeder amerikanische Präsident ausgeben kann, steht jetzt zum ersten Mal nicht mehr e pluribus unum. Das war wohl zu schwer für Trump. Stattdessen steht da jetzt: Make America great again.

Nicht nur Rom ist untergegangen (wahrscheinlich so ähnlich, wie es der amerikanische Maler Thomas Cole hier gemalt hat), auch das Amerika der Gründerväter gibt es nicht mehr. Die Amerikaner haben zwar wie die alten Römer einen Senat und Senatoren und klassizistische Regierungsgebäude, die darauf hinweisen, dass Amerika aus dem Geist des Klassizismus geboren wurde, dem Bedürfnis, die eigene historische Stellung an ein für exemplarisch gehaltenes Zeitalter der Geschichte zu bestimmen. Aber das sind im Amerika des Donald Trump nur noch Bühnenbilder für die amerikanische Tragödie. Soll man wieder einmal Petronius zitieren: Si bene calculum ponas, ubique naufragium est?

Das letzte Mal, dass ich meinen Freund Keith traf, schrieb er altgriechische Wörter in ein Vokabelheft, zwei Lexika lagen neben ihm auf dem Tisch. Draußen auf der Straße stand sein Bentley. Dunkelgrün, mit hellbraunen Ledersitzen. Davon hat er mehrere, auch Daimlers und einen Aston Martin. Er war auf einem humanistischen Gymnasium gewesen und hatte natürlich ein großes Latinum. Aber er war kein Philologe geworden, Philologen besitzen selten einen Bentley oder einen Aston Martin, mein letzter Lateinlehrer hatte einen Opel Kadett. Ich hatte das Gefühl, dass mir noch etwas fehlt, sagte Keith, als ich ihn fragte, weshalb er Griechisch lerne. Da hat einer außer einem Alvis all die Autos, von denen ein Autosammler träumt, und lernt Griechisch, weil er das Gefühl hat, dass ihm etwa fehlt. Irgendwie gab mir das damals das Gefühl, dass noch nicht ubique naufragium ist. Omnia quae sunt sunt lumina.


Sonntag, 15. Dezember 2019

Lady Emma Hamilton


Der Maler George Romney, der heute vor 285 Jahren geboren wurde, hatte in diesem Blog im Jahre 2010 schon einen Post. Das war mein erstes Jahr als Blogger, Anfang Januar 2020 bin ich zehn Jahre in der Welt des Internets. Ein Leser hat damals in einem Kommentar geschrieben: Ihr Weblog ist ein Diamant unter den unzähligen beliebigen und nichtssagenden Sandkörnern in der 'blogosphere'! Das hat mir natürlich gefallen. Der Post zu Romney war nicht der erste Post zur Kunst in meinem Blog, kleine Essays zu Malern machen inzwischen mehr als zwanzig Prozent des Blogs aus. Für irgendetwas muss das Studium der Kunstgeschichte ja gut gewesen sein. George Romney ist berühmt dafür geworden, dass er Emma Hamilton, die Geliebte von Lord Nelson, immer wieder gemalt hat. Ob diese Skizze auch Emma darstellt, weiß ich nicht, aber das Bild gefällt mir.

Auf dieser unvollendeten Skizze, die die Tate Gallery besitzt, ist aber ohne Zweifel die siebzehnjährige Emma zu sehen. Sie war Romneys Modell, und sie war seine Muse. Er wird sie in den nächsten zehn Jahren mehr als dreißig Mal malen. Wenn sie berühmt geworden ist, werden sie auch andere Maler wie Sir Joshua Reynolds und Sir Thomas Lawrence malen. Romney hat kein sexuelles Verhältnis zu ihr, aber ohne sie könnte er kaum leben. Er hatte seine Familie verlassen, als er nach London zog, er neigt zu schweren Depressionen. Er ist fasziniert von dem hübschen jungen Ding, das sich in der englischen Gesellschaft nach oben schläft. Wenn die schöne Emma bei ihm ist (dreihundert Mal zwischen 1782 und 1786, manche Ehepaare sehen sich damals seltener) sind die Dämonen der Depression still.

1782, als er Emma als Circe malt, hat er sich selbst gemalt, sein Sohn hat über dieses Selbstportrait gesagt: In the Autumn of this year (1782) he began his own portrait, which he afterwards gave to Mr. Hayley; who did not allow him to finish it, but hurried it off to Eartham without delay. The head however, is perfect, but the rest of the figure, which could not be completed without a model, remains in statu quo. Had it, however, been suffered to remain in Cavendish Square sometime longer, an opportunity would have occurred when it might have been finished; but Mr. Hayley preferred the bird in hand. 

Mit dem William Hayley, den Romneys Sohn hier erwähnt, ist der Maler befreundet. Der Schriftsteller, der auch mit William Cowper befreundet ist, hat mit A Poetical Epistle to an Eminent Painter ein Gedicht auf seinen Malerfreund geschrieben. Der wiederum Bilder zu Schriften von Haley, zum Beispiel zu dem Gedicht Triumphs of Temper malt. Da heißt es in Canto 2 über die Heldin:

A Village-maid she seems, in neat attire,
A faithful Shepherd now her sole desire.
Thus, as new figures in her fancy throng,
"She's every thing by starts, and nothing long;"
But, in the space of one revolving hour,
Flies thro' all states of Poverty and Power,
All forms, on whom her veering mind can pitch,
Sultana, Gipsy, Goddess, Nymph, and Witch.
At length, her soul with Shakespeare's magic fraught,
The wand of Ariel fixt her roving thought


So wie Hayleys Heldin in verschiedene Rollen schlüpft, sich von einem Bauernmädchen in eine Göttin oder Nymphe verwandelt, schlüpft Romneys junges Modell Emma in viele Rollen. Sie beginnt als Circe, die Frau, die die Männer becirct, auf diesem Bild hier ist sie Ariadne. Sie verwandelt sich beim Posieren, wechselt die Kleider, wechselt die Posen. Das wird sie ihr Leben lang tun. Triumphs of Temper, Hayleys mock-heroic poem, hat Emma gut gekannt. Nach Nelsons Tod wird sie Hayley schreiben: If I had never read your 'Triumphs of temper', I shou’d never have been the wife of Sir William Hamilton nor shou’d I have had an opertunity [sic] of Cultivating those talents which made the great & immortal Nelson think me worthy of his Confidence.

Bevor sie für Romney Modell steht, gibt es da noch eine andere Phase in ihrem Leben. Da tritt sie in London in dem Temple of Health eines gewissen Dr James Graham nackt als the Rosy Goddess of Health auf. Den Doktortitel hat sich der Quacksalber Graham selbst zugelegt, seine Versuche, Patienten mittels elektro-magnetischen Apparaten zu heilen, schlagen fehl, er muss seinen Temple of Health schließen. Emmas Auftritte im Temple of Health könnten so ausgesehen haben, wie es der Karikaturist Thomas Rowlandson hier festgehalten hat. Nach zahlreichen flüchtigen Liebschaften wird sie die Geliebte von Charles Francis Greville, der ihr den Namen Emma Hart verpasst und sie in das Studio von Romney mitnimmt, der ihn portraitieren soll.

Die junge Emma ist für Greville der Ersatz für seine Geliebte Emily Warren (hier von Reynolds als Thais gemalt), die ihn gerade wegen eines reicheren Mannes verlassen hat. Der neue Liebhaber spendierte ihr ein Haus, eine Kutsche und livrierte Diener. Das kann Greville seiner Emma nicht bieten. Er ist adelig aber nicht reich, immerhin bekommt Emma von ihm 20 Pfund im Jahr, das ist damals durchaus eine Menge Geld. Er bezahlt auch ihren Gesangsunterricht und kümmert sich um den Unterhalt ihrer Tochter Little Emma, die bei der Oma untergebracht wird. Aber der Sohn des Earl of Warwick wird seiner Geliebten relativ schnell überdrüssig, er möchte gerne so richtig reich heiraten, und dabei stört die hübsche Emma erheblich. Er hat sein Auge auf die achtzehnjährige Henrietta Willoughby, die Tochter eines Lord Middleton geworfen. Das haben allerdings auch andere junge Adlige getan, Greville macht sich selbst etwas vor. Er vertraut auf seinen reichen Onkel, der in Italien lebt, der soll für ihn bei Lord Middleton bürgen. Der Onkel ist ein Kunstsammler wie Greville selbst. Greville denkt sich einen Plan aus, den man sonst nur in Schundromanen finden wird: er will Emma mit seinem reichen Onkel verkuppeln.

Es gibt in England sicher genügend adelige junge Damen, die von jungen verarmten Gentlemen umworben werden. Es gibt aber auch genügend Damen, die man für Geld bekommen kann. Covent Garden hat in dieser Zeit den Namen the great Square of Venus. Das schreibt ein Zeitgenosse und fährt fort: and its purlieus are crowded with the practitioners of this Goddess. One would imagine that all the prostitutes in the Kingdom had pitched upon this blessed neighbourhood for a place of general rendezvous. For here are lewd women in sufficient numbers to people a mighty colony. And that a fuel for the natural flame may not be wanting, here is a great variety of open houses whose principal employment is to minister incitements to lust. Hier hat die kleine Emma als Tresenschlampe und Gelegenheitsnutte angefangen, da war sie dreizehn. Das hier ist die Welt von Hogarth, nicht die Welt, von der sie träumt. Emma weiß, dass sie da weg muss. Im Temple of Health zu strippen ist schon ein Aufstieg.

Die Dame hier ist Mary Robinson, von Joshua Reynolds gemalt, sie arbeitet in einer anderen Klasse. War mal die Geliebte des Prince of Wales. Sie kommt schon in dem Post Banastre Tarleton war. Wir hätten da bei den Kurtisanen des Georgian Age auch noch Kitty Fisher oder Charlotte Hayes. Die letztere ist gerade von einer ITV Serie mit dem Titel Harlots zum Leben erweckt worden. Die Prostitution blüht im London von George III, von den Straßenmädchen bis zu den Kurtisanen. Es gibt mit Harris's List of Covent Garden Ladies sogar jährlich erscheinende Bücher mit einer Auflistung ihrer Adressen und körperlichen Vorzüge.

Kommen wir zu Charles Greville und seinem Onkel zurück. Der heißt Sir William Hamilton und ist Englands Gesandter im Königreich Neapel. Seine Frau ist gerade gestorben, er sucht eine Hausdame für seinen Palazzo (in dem heute das Goethe Institut beheimatet ist). Charles Francis Greville weiß da Rat. Er belügt seine Geliebte: dringende Geschäfte würden ihn für ein halbes Jahr nach Schottland rufen. Emma soll in dieser Zeit nach Italien reisen, um ihre Gesangsausbildung fortzusetzen, ihre Mutter solle sie begleiten. Und sein Freund, der Maler Gavin Hamilton (nicht mit Sir William verwandt) ist als Reisegefährte und Beschützer mit in der Kutsche. Er wird die beiden Damen bis Rom begleiten, das ist sein zweites Zuhause (das wissen Sie schon, wenn Sie die Posts Joseph Nollekens und 18th century: Grand Tour gelesen haben). Emma Hart erreicht Neapel an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Gavin Hamilton wird Jahre später Emma, die dann auch wie er Hamilton heißt, als eine Sibylle malen, eine der vielen Rollen, die sie annimmt.

Es gibt da noch einen anderen Maler namens Hamilton (der mit keinem der anderen Hamiltons verwandt ist), der auch ein Bild von Emma malen wird. Es ist ein Ire namens Hugh Douglas Hamilton, auf seinem Portrait sehen wir Lady Emma Hamilton dreifach als Muse: Terpsichore, Polyhymnia und Kalliope. In all den Künsten, die diese Musen repräsentieren, ist Emma inzwischen zu Hause. Sie lernt schnell. Dass Sir William sie nach fünf Jahren geheiratet hat, war natürlich ein gesellschaftlicher Skandal. Was Londons bösartigsten Satiriker Dr John Wolcot, der unter dem nom-de-plume Peter Pindar schreibt, zu diesen Versen anregte:

O knight of Naples, is it come to pass, 
That thou hast left the gods of stone and brass, 
To wed a deity of flesh and blood?
O lock the temple with the strongest key, 
For fear thy deity, a comely she, 
Should one day ramble in a frolic mood.

Also, in einfachem Deutsch: schließ' Dein Haus gut ab, damit Deine Emma (die Göttin von Fleisch und Blut) nicht wieder als Nutte auf der Straße arbeitet.

Sir William ist ein Kunstsammler und Vulkanologe mit weltweitem Ruf, korrespondierendes Mitglied der Royal Society und Mitglied der Society of Dilettanti. Wer in Neapel ist, der besucht ihn, zum Beispiel Leopold III von Anhalt-Dessau, der zu Hause eine Villa Hamilton bauen lassen wird. Und dann sind da noch Karl Philipp Moritz und unser Goethe. Der wird von Emma sehr enthusiasmiert sein, weil er sie als die Hauptdarstellerin in einigen tableaux vivantes erlebt (hier ist sie eine Bacchantin). Was sie als Modell im Temple of Health und bei George Romney gelernt hat, bringt sie jetzt zur Perfektion. Ständig schlüpft sie in neue Kleider und neue Rollen, attitudes nennt sie diese tableaux vivantes.

Goethe berichtet in seiner Italienischen Reise über einen solchen Abend: Der Ritter Hamilton, der noch immer als englischer Gesandter hier lebt, hat nun, nach so langer Kunstliebhaberei, nach so langem Naturstudium den Gipfel aller Natur- und Kunstfreude in einem schönen Mädchen gefunden. Er hat sie bei sich, eine Engländerin von etwa zwanzig Jahren. Sie ist sehr schön und wohl gebaut. Er hat ihr ein griechisch Gewand machen lassen, das sie trefflich kleidet, dazu löst sie ihre Haare auf, nimmt ein paar Shawls und macht eine Abwechslung von Stellungen, Gebärden, Mienen pp., daß man zuletzt wirklich meint man träume.

Man schaut, was so viele tausend Künstler gerne geleistet hätten, hier ganz fertig, in Bewegung und überraschender Abwechslung. Stehend, knieend, sitzend, liegend, ernst, traurig, nekisch, ausschweifend, bußfertig, lokend, drohend, ängstlich pp. eins folgt aufs andere und aus dem andern. Sie weiß zu jedem Ausdruck die Falten des Schleiers zu wählen, zu wechseln, und macht sich hundert Arten von Kopfputz mit denselben Tüchern. Der alte Ritter hält das Licht dazu und hat mit ganzer Seele sich diesem Gegenstand ergeben. Er findet in ihr alle Antiken, alle schönen Profile der Sicilianischen Münzen, ja den Belveder'schen Apoll selbst. Soviel ist gewiß, der Spaß ist einzig! Wir haben ihn schon zwei Abende genossen. Heute früh malt sie Tischbein.

Sir William ist nicht unglücklich mit seiner unstandesgemäßen Ehe: It was not beauty alone that decided me to marry. All that I can assure you is that in this Country no body stands higher in public Esteem than Lady Hamilton…I am now come to that point as to care little about the great World – the marrying Emma was my own business, I knew what I was doing for as you know I had lived with her five years before I married and it is now five more since we married & I do not repent. Look round your circle of prudent…matches in the great world and see how few turn out so well as our seemingly imprudent one. To be sure I wax old, & she is young, but the misfortunes of her youth has taught her that a good reputation is the most precious ornament of her sex, & having recovered it by her prudence & good conduct will never wish the loss of it again by any imprudences. Auf diesem Bild ist die Queen of Attitudes La Penserosa, Sir Thomas Lawrence hatte sich gewünscht, dieses Bild zu malen: the resulting grand picture of Emma is a long way from the bacchantes and sexualized playthings that comprise so many of her earlier representations. Instead, she is portrayed as noble, grave, authoritative and serious.

Das Leben wird für sie noch eine andere Rolle bereithalten, sie wird die Geliebte von Lord Nelson. Wieder ein gesellschaftlicher Skandal, der der Karriere des jungen Admirals nicht förderlich ist. Am besten schauen Sie sich jetzt mal den Lieblingsfilm von Winston Churchill That Hamilton Woman (er hat ihn dreiundachtzig Mal gesehen) mit Vivien Leigh und Laurence Olivier an. Wir springen mal eben in das Jahr 1800. William Beckford (hier von Reynolds gemalt), dessen Monsterschloss Fonthill Abbey noch nicht ganz bezugsfertig ist, hat seinen Cousin Sir William Hamilton eingeladen. Und Emma, in der Hoffnung, dass sie auch Admiral Nelson mitbringt.

Denn er hatte ihr geschrieben: I exist in the hopes of seeing Fonthill honoured by his victorious presence, and if his engagements permit, his accompanying you here; we shall enjoy a few comfortable days of repose, uncontaminated by the sight and prattle of drawing-room parasites. Zu Ehren von Nelson hat der Maler Philipp de Loutherbourg eine riesige, beleuchtete Admiralsflagge auf dem Turm angebracht. Und alle bewohnbaren Räume geschmackvoll ausgestaltet, Disneyland ist nichts dagegen. Lady Hamilton kann es nicht lassen, sie muss wieder eines ihrer berühmten tableaux vivantes aufführen und kommt als Agrippina mit der Asche des Germanicus in einer Urne in den Saal. Allerdings können die Falten ihrer römischen Tracht nicht verhüllen, dass sie im achten Monat mit einem Kind von Nelson schwanger ist. Horatia wird die Tochter heißen.

Einer der Gäste bei der Weihnachtsfeier ist der Maler Benjamin West. Nelson sagt ihm in der Unterhaltung, dass er leider überhaupt kein Verhältnis zur Kunst besäße. But there is one picture, sagt er zu West, whose power I do feel. I never pass a paint [=print]-shop where your ‘Death of Wolfe’ is in the window, without being stopped by it. Warum West denn nicht mehr solcher Bilder male? Because, my Lord, there are no more subjects, entgegnet West. Damn it. I didn’t think of that, sagt daraufhin Nelson.

Und an diesem Punkt bekommt das Gespräch plötzlich etwas Makabres. Nelson daran erinnernd, dass er im Kampf für sein Vaterland ja schon einen Arm und ein Auge verloren hat, sagt West: But, my Lord, I fear your intrepidity will yet furnish me with such another scene; and if it should, I shall certainly avail myself of it. Ist das jetzt der berühmte schwarze englische Humor? Nelson antwortet in einem ähnlichen Ton: Will you? Will you, Mr West? Then I hope I shall die in the next battle. Und dann gießt Lord Nelson Champagner in die Gläser und die beiden Herren stoßen auf dieses Versprechen an. West wird wenige Jahre später den Tod Nelsons malen. Zweimal.

Vor der Schlacht, in der er sterben wird, hat Nelson in seinem Tagebuch notiert: I leave Emma Lady Hamilton as Legacy to my King and Country, that they will give her an ample provision to maintain her rank in life. Man wird nicht daran denken, sich um sie zu kümmern. Sie wird nicht einmal zu der Beerdigung eingeladen. Sie wird arm und krank zehn Jahre nach Nelson in Calais sterben, eine Ausgestoßene der englischen Gesellschaft. Theodor Fontane wird ein wenig zu ihrer Ehrenrettung beitragen:

Die Welt liebt es, zu Gericht zu sitzen und – zu verurteilen. Da ist keiner unter uns, der nicht begierig wäre, der Themis seine Dienste aufzudrängen; aber wir sind bestechlich aus selbstischer Eitelkeit, wir werten unsere Tadelsucht zur Schuld des Angeklagten und handhaben das Schwert besser als die Waage. Da ist nichts so oft vergessen, als das Wort des Herrn: 'Wer unter euch sich ohne Sünde weiß, der werfe den ersten Stein auf sie.' Was tun wir? Den modegewordenen Mantel 'sittlicher Entrüstung' umschlagend, setzen wir uns auf unseren Hochmutsklepper und reiten erbarmungslos nieder, was uns kleiner dünkt (nicht ist) als wir selbst. – Die Presse macht so oft den öffentlichen Ankläger, mache sie auch mal den Verteidiger.

Es hat vierzig Jahre lang zum guten Ton gehört, von der Lady Hamilton wie von einer Messaline zu sprechen, deren traurige Lebensaufgabe darin bestanden habe, die Glorie Lord Nelsons zu verdunkeln, seiner Sonne – ihre Flecken zu geben. Es wird Zeit, diese Verurteilung auf ihr rechtes Maß zurückzuführen. Geniale Persönlichkeiten tragen ihren Maßstab in sich und wollen vor allen Dingen nicht mit der englischen Sittlichkeits-Elle (daran auch Shelley und Byron zu kurz befunden wurden) gemessen werden. Zudem hat noch immer die Strafe einen Teil der Schuld gesühnt.