Freitag, 7. März 2014

London


Im März 2010 (ach, wie lange ist das schon her!) habe ich ➱hier ein London Gedicht von Wilhelm Lehmann präsentiert. Viele Gedichte von ➱Lehmann sollten folgen. Im letzten Jahr gab es hier einen Post für Townes van Zandt, weil der an einem siebten März Geburtstag hat; aber in diesem Jahr sollte es wieder ein London Gedicht sein, weil das Geburtstagskind Birte - dem ich hiermit Glückwünsche  schicke - in London lebt.

Es ist nicht schwer, Gedichte zu finden, die die Großstadt London besingen. Hannelies Taschaus (zu der deutschen Dichterin gibt es hier einen Post) Gedicht Eröffnung Londons gefällt mir sehr, aber das ist zu lang, um es abzutippen. Da nehme ich doch mal eben einen Klassiker, der in jeder Anthologie englischer Lyrik zu finden ist, William Wordsworths Upon Westminster Bridge. Dies stimmungsvolle Bild der Westminster Bridge ist von James Francis Danby (dessen Vater ➱hier schon einen Post hat). Das Bild oben ist natürlich von Thomas Girtin (Sie können ➱hier mehr dazu lesen). Aber nun zu dem Sonett Upon Westminster Bridge (in dem schönen Blog von ➱Morgenländer gibt es dazu noch mehr zu lesen):

Earth has not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty:
This City now doth like a garment wear 

The beauty of the morning; silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres, and temples lie
Open unto the fields, and to the sky;
All bright and glittering in the smokeless air.
Never did sun more beautifully steep

In his first splendour valley, rock, or hill;
Ne'er saw I, never felt, a calm so deep!
The river glideth at his own sweet will:

Dear God! the very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!

Ich habe es, zugegeben, in dem Post ➱Touristen schon einmal zitiert. Und aus gegebenem Anlaß stelle ich dieser romantischen Stimmung mal eben ein anderes Gedicht entgegen. Es hat den Titel Volkslied und den Untertitel In den Londoner Straßen gesungen im Winter 1855. Das Gedicht ist von Theodor Fontane, der 1854 in Ein Sommer in London noch beschrieb, wie überwältigend die Stadt war: Der Zauber Londons ist – seine Massenhaftigkeit. Wenn Neapel durch seinen Golf und Himmel, Moskau durch seine funkelnden Kuppeln, Rom durch seine Erinnerungen, Venedig durch den Zauber seiner meerentstiegenen Schönheit wirkt, so ist es beim Anblick Londons das Gefühl des Unendlichen, was uns überwältigt - dasselbe Gefühl, was uns beim ersten Anschauen des Meeres durchschauert. Die überschwengliche Fülle, die unerschöpfliche Masse – das ist die eigentliche Wesenheit, der Charakter Londons. Dieser tritt einem überall entgegen. Ob man von der Paulskirche, oder der Greenwicher Sternwarte herab seinen Blick auf dies Häusermeer richtet – ob man die Citystraßen durchwandert und von der Menschenwoge halb mit fortgerissen, den Gedanken nicht unterdrücken kann, jedes Haus sei wohl ein Theater, das eben jetzt seine Zuhörerschwärme wieder ins Freie strömt –, überall ist es die Zahl, die Menge, die uns Staunen abzwingt. Fontanes Sommer in London (➱hier im Volltext) ist immer noch lesenswert. Sein Gedicht Volkslied: In den Londoner Straßen gesungen im Winter 1855 auch, aber das aus einem anderen Grund.

All die ihr schlaft auf Dunen, behaglich, wohlgemuth,
Denkt unsrer armen Brüder, die kalt sind bis aufs Blut,
Die in den Gräben liegen, krank, hungrig, starr und stumm,
Die Blüthe unsres Landes, im Schlammbett kommt sie um.

Vom Balaklawa-Hafen bis an die Stadt heran,
Vor Karren und Geschützen sie selber als Gespann,
So haben sie’s gehalten, dann kam die stille Nacht,
So viele gingen schlafen, so wenig sind erwacht.

Ich hört’ ein Mädchen klagen, sie rief: „was fang ich an,
Mein Vater liegt und schlummert im Thal von Inkermann,
Mein Bruder liegt verwundet, genesen wird er nie,
Es kann kein Christ genesen in jenem Skutari.“

Gott, schütze unsre Brüder mit Deiner mächtgen Hand
Leih ihnen Sieg und führe sie heim in’s Vaterland,
Beschütz’ auch was sie lieben, Weib, Vater, Mutter, Kind,
Und sei ein Tröster aller, die schweren Herzens sind.

Die Ortsnamen Blaklawa, Inkermann und Skutari (heute ein Stadtteil von Istanbul, wo die Lazarette für die Verwundeten waren) erinnern uns daran: wir sind im Krimkrieg. Der ist lange vorbei, kaum jemand erinnert sich noch an Lord ➱Lord Raglan und ➱Lord Cardigan. Aber können wir behaglich und wohlgemut auf unseren Daunen schlafen? Oder steht ein neuer Krimkrieg vor der Tür? Wir wollen hoffen, dass wir nie wieder ein solches Lied singen müssen, wie es Theodor Fontane aufgeschrieben hat


P.S. Auf die Frage eines Lesers hin, ob Fontanes Ballade wirklich in den Londoner Straßen gesungen wurde, möchte ich hinzufügen, dass es diese englische Ballade wirklich gab. Sie hieß Sufferings of the British army in the camp at Sebastopol und stammt von einem gewissen John Morgan. Ihre erste Zeile lautet All you who live at home in ease, and sleep on beds of down. Mehr dazu hier.

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