Donnerstag, 15. Februar 2018
Ikarus aus Würselen
Sie gehen da alle ihrer Beschäftigung nach, sie bemerken nicht, dass da unten jemand ertrinkt. Pieter Bruegel hat den Ikarus gemalt, der zu nah an der Sonne war. Ikarus aus Würselen titelte die Tagesschau. Ach, die Medien können ja so gemein sein. Es war vielleicht auch nicht so wahnsinnig intelligent von Andrea Nahles, Aber ab morgen kriegen sie in die Fresse zu sagen. Wir wissen in dem allgemeinen Tohuwabohu nicht, was morgen sein wird. Die Politik hat uns nichts mehr zu sagen, dies ist die Zeit der Medien, der Kaffeesatzleser und der politischen Auguren und Haruspexe.
Wenn ein Poltiker wie Stegner immer wieder zur Besonnenheit aufruft, muss es um die SPD wirklich schlimm stehen. Er hat das nicht verstanden, dass die Wähler, die Albig abwählten, auch ihn nicht mehr sehen wollten. Vielleicht sind auch die Medien an der ganzen Krise schuld. Medien können viel, sie haben schon mal einen Krieg herbeigeschrieben. Als heute vor 120 Jahren die USS Maine im Hafen von Havanna explodierte, sorgte die Yellow Press dafür, dass die Vereinigten Staaten Spanien den Krieg erkärten. Ich hoffe nicht, dass es bei uns dahin kommt.
Montag, 12. Februar 2018
Drachen
Doch genau in diesem Augenblick, der in den Bildern zur Darstellung gelangt ist, sind zugleich die letzten Sprachstücke, eher wohl Todesschreie dieser anderen Sprache aufgehoben: Auf den Gemälden und Standbildern indes recken die Drachen weiterhin die schon schwer angeschlagenen Köpfe, drehen sie sich, als hätten sie noch eine Chance zu entkommen, um nach den Mördern mit weit aufgesperrten Mäulern, die von Blut überströmen - roten klaffenden Wunden ähnlich, die nicht mehr heilen, sich nie wieder schließen werden – und schreien, brüllen, röcheln sie die Sprache der Körper und der Herzen in der den Bildern angestammten Stummheit. Erbarmen mit den Drachen, wann findet man das schon mal in der Literatur?
Meistens müssen Ritter zuerst einen Drachen erschlagen, um an die damsel in distress heranzukommen, die auf dem Bild von John Everett Millais für das viktorianische Publikum auch noch nett nackt ist. Ich weiß nicht, ob die Unterwäschenfirma Victoria's Secret etwas mit dem viktorianischen Schmuddelsex zu tun hat, könnte aber sein. Aber ich weiß, dass Raymond Chandler das Bild von Millais in seinen Roman The Big Sleep hineingeschrieben hat: The main hallway of the Sternwood place was two stories high. Over the entrance doors, which would have let in a troop of Indian elephants, there was a broad stained-glass panel showing a knight in dark armor rescuing a lady who was tied to a tree and didn’t have any clothes on but some very long and convenient hair. The knight had pushed the vizor of his helmet back to be sociable, and he was fiddling with the knots on the ropes that tied the lady to the tree and not getting anywhere. I stood there and thought that if I lived in the house, I would sooner or later have to climb up there and help him. He didn’t seem to be really trying.
Ritter, Drachen, damsels in distress, das ist seit der Arthurian Romance ein Dauerbrenner. Ich bleibe mal bei der Literatur, lasse alles weg, was da an Monstern im Fantasygenre über die Bildschirme kreucht und fleucht (lesen Sie mehr dazu in Fantasy). Wir haben genug an Rittern der Tafelrunde, haben genug damsels in distress, aber was ist mit den Drachen? In ↠Beowulf: The Monsters and the Critics hat J.R.R. Tolkien gesagt: one dragon, however hot, does not make a summer, or a host; and a man might well exchange for one good dragon what he would not sell for a wilderness. And dragons, real dragons, essential both to the machinery and idea of the poem or tale, are actually rare.
Der Text im ersten Absatz stammt aus dem Buch Der wunde Punkt im Alphabet von Anne Duden. Als mir das Buch im Antiquariat in die Hand fiel, habe ich mich gleich darin festgelesen. Das Buch war auch deshalb interessant, weil da noch ein Brief von Anne Duden an eine Freundin drin lag, mit der sie einmal beim Rotbuch Verlag zusammengearbeit hatte. Man kommt sich da beim Lesen ein wenig wie ein Voyeur vor. Wenn eine Dichterin über Drachen schreibt, sieht das natürlich etwas anders aus, als wenn sich Literaturwissenschaftler des Themas annehmen. Das haben sie schon getan, ich verweise da einmal auf das Buch Good Dragons are Rare: An Inquiry into Literary Dragons East and West.
Heute vor 480 Jahren ist der Maler Albrecht Altdorfer gestorben. Erstaunlicherweise hat er in diesem Blog noch keinen Post. In dem Post Albrecht Dürer habe ich geschrieben: Ich mag Albrecht Altdorfer, ich mag Adam Elsheimer, aber Dürer mit seiner kalten Schönheit bleibt mir fremd. Neben Grünewald oder auch nur neben Altdorfer erscheint er furchtbar trocken und arm. Es kommt hier zu Tage daß sein Verhältnis zur Farbe doch der natürlichen Wärme entbehrte, hat Heinrich Wölfflin gesagt.
Das Bild mit dem Heiligen Georg und dem Drachen, das in der Münchener Alten Pinakothek hängt, ist klitzeklein, 28 mal 22 Zentimeter. Aber man vergisst es nie, wenn man es einmal gesehen hat. Viel Wald, ein seltsamer Drache, der wie ein übergroßer Breitmaulfrosch aussieht. Ein Ritter, der sich nicht rührt. Schockstarre? Ein Ausblick auf blaue Berge, der vielleicht später in das Bild gemalt wurde.
Für Simon Schama war es in seinem Buch Landscape and Memory die deutsche Geschichte schlechthin: The story, we begin to understand as the leaves emit light onto yet more leaves, piling up and overlapping in densely embroidered frond-like panels, is the forest. This German wood is not “the setting”; it is the history itself. Nature and Memory ist ein Leseerlebnis, und das Kapitel über den deutschen Wald ist besonders schön: Religion and patriotism, antiquity and the future — all came together in the Teutonic romance of the woods.
Reglos verharrt der Ritter im wogenden gelbgrünen Laubmeer, als zweifle er an seinem Drachentöterverstand, schreibt Anita Albus (die hier einen Post hat) über das Bild. In ihrem Buch ↠Die Kunst der Künste: Erinnerungen an die Malerei hat sie ein schönes Kapitel über den Drachentöter im Laubmeer. Wo wir lesen können: Niemand vor und niemand nach Altdorfer hat die Drachenkampfepisode in einem Urwald dargestellt, und kein anderes Georgsbild zeigt eine Schrecklähmung des Ritters.
Unser Georg, der den Drachen tötet, hat eigentlich nichts mit dem Wald zu tun. Eigentlich ist er in Beirut. Arnold von Harff erzählt in seiner Pilgerfahrt: ... da hauste der König von Phönizien, auf dessen Tochter das Loos fiel, dass sie der Drache verschlingen sollte. Da ging sie von dem Schloss eine halbe wälsche Meile weit am Strande gegen Mitternacht an einen viereckigen steinernen Strunk, den erstieg sie mit einem Lamme, da er hoch über die Erde aufgemauert war, da oben des Drachen zu erwarten. Indem kommt der Ritter St. Georg geritten und frägt die Königin, warum sie so traurig allein stund. Sie antwortet: O edler Herr! fliehet bald von hinnen, hier kömmt ein böser Drache, der mich verschlingen wird und auch euch verderben könnte. Mit den Worten schlug St. Georg ein Kreuz und überwand den Drachen.
Ein bisschen mehr hätten wir uns bei der Beschreibung des Drachenkampfes schon gewünscht. Dieser Drache in Beirut fordert täglich seinen Tribut an Menschenfleisch. So wie die Pflanze in The Little Shop of Horrors, die ständig Feed me sagt. Wenn man dem Wunsch des Beiruter Drachens nicht nachkommt, droht er, die Stadt mit seinem Gifthauch zu verpesten. Es gibt da in der Gegend keine Drachen mehr, aber Gifthauch kennen sie da im Nachbarstaat schon.
In Altdorfers Heimat an der Donaus gab es keine Drachen, er wusste nicht, wie sie aussehen. Aber Wald gibt es da, wie Bäume aussehen, das weiß der Albrecht Altdorfer schon. Und doch malt er einen Laubwald mit Blättern, die anders aussehen als in der Wirklichkeit oder in einem Bestimmungsbuch von Joachim Camerarius. Am ehesten könnte man die Laubmauer mit den seltsamen Blättern mit zwei Seitentafeln eines Altars von Gerard David vergleichen. Die festumrissene Gestalt der Blätte und Bäume lässt Altdorfer kalt, was ihn entflammt, sind die Kaskaden des Lichts in den Turbulenzen des Laubmeeres, die der Wind erzeugt, schreibt Anita Albus.
Auf dieses Buch mit dem Titel Albrecht Altdorfer and the Origins of Landscape sollte ich zum Schluss noch hinweisen. Denn Altdorfer hat nicht nur den Laubwald mit dem putzigen Drachen gemalt, er hat für Deutschland auch die Landschaftsmalerei erfunden. Mit wilden Wäldern, man nennt die Maler der sogenannten Donauschule auch die wilden Maler von der Donau. Dass Altdorfer, zu dem ich hier noch einen kleinen ↠Film habe, etwas Besonders war, das war mir schon klar, als ich noch klein war. Ich war vielleicht sieben, als ich versuchte, all die Menschen zu zählen, die auf seiner Alexanderschlacht abgebildet sind. Ich habe mich immer wieder verzählt, aber es ist eine schöne Übung, um das Bild zu verstehen. Ich hätte auch die Blätter des Laubwaldes zählen können, der den Georg mit seiner schwarzen Rüstung umgibt, aber das habe ich lieber gelassen.In Altdorfers Heimat an der Donaus gab es keine Drachen, er wusste nicht, wie sie aussehen. Aber Wald gibt es da, wie Bäume aussehen, das weiß der Albrecht Altdorfer schon. Und doch malt er einen Laubwald mit Blättern, die anders aussehen als in der Wirklichkeit oder in einem Bestimmungsbuch von Joachim Camerarius. Am ehesten könnte man die Laubmauer mit den seltsamen Blättern mit zwei Seitentafeln eines Altars von Gerard David vergleichen. Die festumrissene Gestalt der Blätte und Bäume lässt Altdorfer kalt, was ihn entflammt, sind die Kaskaden des Lichts in den Turbulenzen des Laubmeeres, die der Wind erzeugt, schreibt Anita Albus.
Samstag, 10. Februar 2018
Fenstersturz
Am 10. Februar des Jahres 1798 hat die Armée de Rome unter General Louis-Alexandre Berthier Rom eingenommen, sechs Jahre später macht Napoleon den Mann, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg unter Lafayette diente, zum Marschall. Und überhäuft ihn mit Titeln und Geschenken. Wenn man dieser veralteten Seite glauben will, ist Berthier ein hervorragender General gewesen. Andere sehen das ganz anders. Im spanischen Feldzug glänzte er durch neue Uniformen, die er selbst entworfen hatte. Durch nichts anderes. Er ist Napoleons Stabschef für beinahe zwei Jahrzehnte. Mit Landkarten und Organisation ist er gut, eine Armee im Felde darf man ihm nicht anvertrauen. Als Napoleons Stern am Sinken ist, ist Berthier der erste, der sich Ludwig XVIII andient. Von dem bekommt er wieder neue Geschenke, wird Hauptmann der Leibwache des Königs, Pair von Frankreich und Kommandeur des Ordens de Saint-Louis.
Sein Fürstentum Neuchâtel verkauft er dem König von Preußen gegen eine Pension von 34.000 Talern. Deshalb kann Wilhelm II eines Tages auch die Uniform der ➱Neuenburger Garde Schützen tragen. Wenn der französische König flieht, weil Napoleon wieder vor Paris steht, begleitet Berthier ihn auf seiner Flucht in die Niederlande. Nimmt dann Urlaub, um seine Frau (eine Nichte des Königs Maximilian I. Joseph von Bayern) und seine Kinder zu besuchen, die sich in der Bamberger Residenz aufhalten. Das ist die offizielle Version. In Wirklichkeit ist er längst beim König in Ungnade gefallen, weil der entdeckt hatte, dass Berthier insgeheim mit Napoleon korrespondiert. Napoleon hätte Berthier gerne wieder als Stabschef an seiner Seite. Nach der Schlacht von Waterloo hat er gesgt: Si j’avais eu Berthier, je n’aurais pas eu ce malheur. Ausreden findet Napoleon immer.
Ich habe Ihnen bisher diese Dame verschwiegen, die größte Eroberung, die Berthier in Italien macht. Sie heißt ➱Giuseppa Carcano, heiratet einen Grafen Sopransi und nach dessen Tod einen Marquis Francesco Visconti di Borgorato. Berthier nimmt sie mit nach Paris. Den Marquis auch. Zum Missfallen Napoleons: Votre passion a duré trop longtemps, elle est devenue ridicule, et j’ai le droit d’espérer que celui que j’ai nommé mon compagnon d’armes ne restera pas plus longtemps abandonné à une faiblesse sans exemple. Je veux donc que vous vous mariez, sans cela je ne vous verrai plus. Vous avez cinquante ans, mais vous êtes d’une race où l’on vit quatre vingt, et ces trente années sont celles où les douceurs du ménage vous seront le plus nécessaires… vous savez que personne ne vous aime plus que moi et vous savez aussi que la première condition de mon amitié est qu’elle soit subordonnée à mon estime. Vous l’avez méritée jusqu’ici, continuez à vous en rendre digne en concourant à mes projets et en devenant la souche d’une bonne et grand famille.
Berthier missachtet Napoleons Anweisungen, er bleibt seiner Geliebten treu. Und als Napoleon ihn in eine Zwangsheirat mit der bayrischen Prinzessin treibt, wohnt die Visconti weiterhin bei ihm, eine ménage à trois, die immer wieder für Spott sorgt. Die Damen sind beinahe Freundinnen geworden, sie spielen abends Karten zusammen. Aber jetzt ist der Marschall in Bamberg, die geliebte Visconti ist in Paris. Die bayrische Geheimpolizei bespitzelt Berthier Tag und Nacht. Er möchte gerne nach Frankreich zurück. Zum Beispiel hierhin. Das ist das Schloss Chambord. Napoleon hat ihm das geschenkt, ganze zwei Tage ist Berthier bisher dort gewesen.
Er beantragt für sich und seine Familie Pässe für Frankreich. Er bekommt sie nicht. Metternich will ihn nicht in Frankreich haben, zu groß ist die Gefahr, dass er sich wieder Napoleon anschliesst. Doch dann kommt der erste Juni des Jahres 1815 - bis zur Schlacht von Waterloo sind es noch zwei Wochen hin, aber die Russen marschieren schon durch Bamberg. Berthier beobachtet den Aufmarsch, ruft: Ce défilé n’aura donc pas de fin ! Pauvre France, que vas-tu devenir? Et moi, je suis ici! Und fällt aus dem Fenster der Residenz, er ist sofort tot. Als Napoleon die Todesnachricht überbracht wird, soll er ohnmächtig geworden sein.
Wir haben jetzt drei Möglichkeiten. Nummer Eins: Es war ein Unfall. Er ist auf dem Sessel ausgerutscht, den er sich ans Fenster gestellt hat, um die Russen zu beobachten: Er beobachtete vom Fenster aus die herannahenden russischen Truppen, während er das Zeichen gab, die Wagen für die Flucht einzuspannen. Um besonders gut sehen zu können, ist er nach Zeugenaussagen auf einen Fauteuil am "Fenstertritt" gestiegen und habe wiederholt ausgerufen: "Ma pauvre patrie!" Dann habe man den Sessel fallen hören, und Madame Gallien, Bonne der fürstlichen Kinder, habe sich von dem unglücklichen Sturze überzeugen müssen. Aber warum soll er die russischen Truppen beobachten? Er weiß, dass sie da sind. Er hat den Abend zuvor mit ihren Generälen gespeist. Sein Schwiegervater Herzog Wilhelm in Bayern hatte ein Diner zu Ehren der Russen gegeben. Der russische General ➱Fabian von der Osten-Sacken macht Berthier das zweischneidige Kompliment, dass er einer der wenigen französischen Marschälle sei, die ihrem König die Treue hielten.
Wir schließen den Unfall einmal aus. Wir haben dann noch Sätze wie: Aber in seinem Gemüthe von tiefer Schwermuth, endete er, des Daseyns müde, sein Leben, indem er sich am 1. Jun. Nachmittags um 1 Uhr, aus einem Fenster der dritten Etage der herzoglichen Residenz stürzte. Schwere Depressionen soll er plötzlich gehabt haben, sein behandelnder Arzt weiß nur etwas von Gastritis und Gicht, nichts von ➱Depressionen. Aber wir haben noch eine dritte Möglichkeit. Es hält sich das Gerücht, dass da mittags sechs Herren mit schwarzen Masken gekommen sein, den Fürsten von Wagram ergriffen und ihn aus dem Fenster geworfen haben.
Mir gefällt diese Theorie, auch wenn sie ein klein wenig etwas von einer Verschwörungstheorie hat. Doch wir müssen bedenken, dass es jetzt den terreur blanche gibt. Napoleons Generäle und Marschälle leben in diesen Tagen gefährlich. Bevor man ➱Michel Ney erschiesst, sind in dem terreur blanche schon andere Marschälle und Generäle umgekommen. Marschall Brune wurde in Avignon von einem royalistischen Mob aus der Kutsche gezerrt, zu Tode getrampelt und in die Rhône geworfen. Jean-Piere Ramel wurde in Toulouse ermordet. ➱Joachim Murat, der König von Neapel, wurde in Kalabrien standrechtlich erschossen. Ebenso wird der General Charles Angélique François Huchet de La Bédoyère im August in Paris erschossen. Marschall Soult kann nach einer Warnung durch den englischen General Robert Wilson in das Herzogtum Berg entkommen. Obgleich Wilson in Spanien gegen Soult gekämpft hat, fände er es jetzt nicht gentlemanlike, seinen einstigen Gegner der Rachsucht der Bourbonen ausgeliefert sein zu lassen. Napoleons Freund Comte Lavalette gelingt eine Nacht vor seiner Hinrichtung die Flucht in den Kleidern seiner Frau. Über England gelangt er zu seinem Schwiegervater Maximilian Joseph von Bayern. Seine Frau, die mit ihm die Kleider getauscht hat, behält man aber noch ein Jahr im Gefängnis. Als Lavalette 1820 nach Frankreich zurückkehren darf, ist seine Emilie wahnsinnig geworden und erkennt ihn nicht mehr.
Maria Elisabeth in Bayern darf ihren Titel einer Fürstin Wagram behalten, das Schloss Chambord auch. Das wird sie 1819 verkaufen. Die Visconti ist über die Jahre fett geworden, halb gelähmt, kann ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Sie wird nach dem Tod von Berthier noch ein Vierteljahrhundert leben. Das hier ist kein Photo aus dem 19. Jahrhundert, hier haben sich die ➱Nachkommen von Berthier im Jahre 1913 in historische Kostüme geworfen, um die gute alte Zeit nachzuspielen. War die gute alte Zeit jemals gut?
Wir haben jetzt drei Möglichkeiten. Nummer Eins: Es war ein Unfall. Er ist auf dem Sessel ausgerutscht, den er sich ans Fenster gestellt hat, um die Russen zu beobachten: Er beobachtete vom Fenster aus die herannahenden russischen Truppen, während er das Zeichen gab, die Wagen für die Flucht einzuspannen. Um besonders gut sehen zu können, ist er nach Zeugenaussagen auf einen Fauteuil am "Fenstertritt" gestiegen und habe wiederholt ausgerufen: "Ma pauvre patrie!" Dann habe man den Sessel fallen hören, und Madame Gallien, Bonne der fürstlichen Kinder, habe sich von dem unglücklichen Sturze überzeugen müssen. Aber warum soll er die russischen Truppen beobachten? Er weiß, dass sie da sind. Er hat den Abend zuvor mit ihren Generälen gespeist. Sein Schwiegervater Herzog Wilhelm in Bayern hatte ein Diner zu Ehren der Russen gegeben. Der russische General ➱Fabian von der Osten-Sacken macht Berthier das zweischneidige Kompliment, dass er einer der wenigen französischen Marschälle sei, die ihrem König die Treue hielten.
Wir schließen den Unfall einmal aus. Wir haben dann noch Sätze wie: Aber in seinem Gemüthe von tiefer Schwermuth, endete er, des Daseyns müde, sein Leben, indem er sich am 1. Jun. Nachmittags um 1 Uhr, aus einem Fenster der dritten Etage der herzoglichen Residenz stürzte. Schwere Depressionen soll er plötzlich gehabt haben, sein behandelnder Arzt weiß nur etwas von Gastritis und Gicht, nichts von ➱Depressionen. Aber wir haben noch eine dritte Möglichkeit. Es hält sich das Gerücht, dass da mittags sechs Herren mit schwarzen Masken gekommen sein, den Fürsten von Wagram ergriffen und ihn aus dem Fenster geworfen haben.
Mir gefällt diese Theorie, auch wenn sie ein klein wenig etwas von einer Verschwörungstheorie hat. Doch wir müssen bedenken, dass es jetzt den terreur blanche gibt. Napoleons Generäle und Marschälle leben in diesen Tagen gefährlich. Bevor man ➱Michel Ney erschiesst, sind in dem terreur blanche schon andere Marschälle und Generäle umgekommen. Marschall Brune wurde in Avignon von einem royalistischen Mob aus der Kutsche gezerrt, zu Tode getrampelt und in die Rhône geworfen. Jean-Piere Ramel wurde in Toulouse ermordet. ➱Joachim Murat, der König von Neapel, wurde in Kalabrien standrechtlich erschossen. Ebenso wird der General Charles Angélique François Huchet de La Bédoyère im August in Paris erschossen. Marschall Soult kann nach einer Warnung durch den englischen General Robert Wilson in das Herzogtum Berg entkommen. Obgleich Wilson in Spanien gegen Soult gekämpft hat, fände er es jetzt nicht gentlemanlike, seinen einstigen Gegner der Rachsucht der Bourbonen ausgeliefert sein zu lassen. Napoleons Freund Comte Lavalette gelingt eine Nacht vor seiner Hinrichtung die Flucht in den Kleidern seiner Frau. Über England gelangt er zu seinem Schwiegervater Maximilian Joseph von Bayern. Seine Frau, die mit ihm die Kleider getauscht hat, behält man aber noch ein Jahr im Gefängnis. Als Lavalette 1820 nach Frankreich zurückkehren darf, ist seine Emilie wahnsinnig geworden und erkennt ihn nicht mehr.
Maria Elisabeth in Bayern darf ihren Titel einer Fürstin Wagram behalten, das Schloss Chambord auch. Das wird sie 1819 verkaufen. Die Visconti ist über die Jahre fett geworden, halb gelähmt, kann ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Sie wird nach dem Tod von Berthier noch ein Vierteljahrhundert leben. Das hier ist kein Photo aus dem 19. Jahrhundert, hier haben sich die ➱Nachkommen von Berthier im Jahre 1913 in historische Kostüme geworfen, um die gute alte Zeit nachzuspielen. War die gute alte Zeit jemals gut?
Freitag, 9. Februar 2018
Grünkohl
Es ist kalt, die Sonne scheint, es liegt noch ein bisschen Schnee. Das ist die richtige Zeit für den Grünkohl. Also das, was wir Bremer Kohl und Pinkel nennen. Der Post zu dem Bremer Nationalgericht taucht hier im Winter immer wieder auf, das ist schon zu einer Tradition geworden. Ich stelle ihn heute noch einmal ein, erweitert durch ein Gedicht von Fritz Theodor Overbeck. Der ist der Sohn des Malerehepaars Fritz und Hermine Overbeck. Ein Winterbild von Fritz Overbeck habe ich hier heute auch (ich habe auch eins im Wohnzimmer), das ist allerdings nicht in Worpswede gemalt. Die haben zwar den Weyerberg, aber solche Berge wie hier haben die da nicht. Das Bild wurde in Davos gemalt, wo Overbeck seine Frau besuchte, als die an der Tuberkulose erkrankt war. Das 1908 gemalte Bild ist bei Ketterer für 1.290 € versteigert worden, ich fürchte meine Winterlandschaft mit der Tanne im Schnee ist auch nicht viel mehr wert. Aber nun zu dem Gedicht von Fritz Theodor Overbeck:
Der Gärtner Pohl und Schlachter Kinkel
Die strebten sehr nach Kohl und Pinkel,
Denn welcher Bürger schätzt es nicht,
Dies winterliche Leibgericht!
Den Kohl hat Pohl, doch keinen Pinkel,
Denn diesen fabriziert ja Kinkel
Und deshalb sprach zu Kinkel Pohl:
Du stiftest Pinkel, - ich geb Kohl!
So war es denn nur wohl geraten,
Daß beide sich zusammentaten.
Als dann Frau Kinkel Pinkel kochte,
So wie es Pohl wie Kinkel mochte,
Mit Röstkartoffel, rundlich klein,
Wie es für Pinkelkohl muß sein,
Mit etwas Zucker, bräunlich-gold,
Schön in der Pfanne abgerollt:
Da ward das Werk begeisterlich!
Frau Kinkel kochte meisterlich!
Und ihre Kochkunst priesen lange
Noch Pohl und Kinkel im Gesange.
Vom Schmause blieb kein Restchen mehr,
Auch eine Buddel "Korn" war leer.
Und hier lag Pohl, und dort ruht' Kinkel,
Gefüllt mit süßem Kohl und Pinkel,
und beide schnarchten um die Wette
Noch eh' man brachte sie zu Bette.
Das Gedicht gehört sicherlich nicht zu den größten literarischen Schöpfungen des Autors. Wenn Sie etwas Nettes von ihm lesen wollen, dann lesen Sie Kattenhorns Pferd, eine Geschichte, die Fritz Overbeck seinen Kindern erzählt und die sein Sohn aufgeschrieben hat. Fritz Overbeck hat bestimmt auch Grünkohl gegessen. Spätesten, wenn er bei Hermann Allmers eingeladen war. Auf dem Photo sitzt Overbeck vorne links neben Allmers. Unser Marschendichter hat für das Grünkohlessen extra ein Lied geschrieben, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:
Wenn Feld und Wald und Wiese weiß
Von Rauhreif ist und Schnee und Eis,
Ist doch dem heimatlichen Norden
Ein köstliches Geschenk geworden.
Denn freundlich grüßt und hold und traut
Ein liebes wohlbekanntes Kraut
Und lacht uns an wie Frühlingsklee
Hervor aus Reif und Eis und Schnee.
Wer preist nicht unsern braunen Kohl,
Den lieben, leckern Heimatsegen.
Heut strömt sein Duft uns hold entgegen,
Des teuren Heimatlands Symbol.
Wem lacht das Herz nicht vor Vergnügen!
Nordwester auf! Greift zu den Krügen,
Setzt an und trinkt in vollen Zügen.
Hoch unsre Heimat und ihr Wohl!
Aber nun genug der Präliminarien, ich weiß, Sie warten schon auf den Grünkohl:
Aber Grünkohl haben wir da nie gegessen, den isst man am besten bei Muttern zu Hause oder auf einem Grünkohlausflug. Der führt uns immer mit den Familien der Skatklubgruppe nach Bookholzberg am Rande des Hasbruch. Und da sitzen dann fünf Familien mit Kind und Kegel an langen Tischen und essen Kohl und Pinkel. Letzteres verwirrt Nicht-Bremer immer sehr. Laut dem Bremisches Koch- und Wirthschaftsbuch enthaltend eine sehr deutliche Anweisung wie man Speisen und Backwerk für alle Stände Gut zubereitet. Für junge Frauenzimmer, welche ihre Küche und Haushaltung selbst besorgen und ihre Geschäfte mit Nutzen betreiben von der Pädagogin Betty Gleim enthält die Pinkelwurst Hafergrütze, Nierenfett, Zwiebeln, Pfeffer und Salz. Diese Masse wird in den Pinkeldarm (den Mastdarm des Rindes) gefüllt und (mit dem Kohl gekocht) als Beilage zum Grünkohl serviert. Zusätzlich zu Kassler Rippenspeer, durchwachsenem Speck und Kochwurst. Die Fleischbeilagen können in Norddeutschland regional etwas anders ausfallen, in Emden kriegt man keinen Pinkel zum Kohl. Die Kartoffeln, die dazu gereicht werden, sind häufig in Zucker glasiert oder Röstkartoffeln. Meine Mutter wirft auch immer noch einen Esslöffel Zucker in den Kohl.
Dazu muß man natürlich Bier und Doppelkorn trinken, etwas anderes geht nicht. Für ständigen Nachschub an Kohl, Kartoffeln und Fleisch sorgen die Kellner, die immer wieder ungefragt Schüsseln auf den Tisch stellen. Kohl und Pinkel satt heißt es in den Werbeanzeigen, die man jetzt in jeder Zeitung lesen kann (die erste ist 1843 in den Bremer Nachrichten belegt). Dennoch, die Fleischbeilagen können so satt sein wie sie wollen, wenn es mit dem Kohl nicht stimmt, dann fährt man da im nächsten Jahr nicht wieder hin. Wer am meisten essen kann, wird Kohlkönig. Manche Vereine auf Kohl- und Pinkelfahrt bringen eine Waage mit, auf der die Vereinsmitglieder vor und nach dem Essen gewogen werden. Das ist alles schon streng ritualisiert. Diese Kohl- und Pinkelfahrten gibt es in Norddeutschland (sprich Bremen, Oldenburg und Ostfriesland) seit dem frühen 19. Jahrhundert. Aus einer solchen Fahrt ist 1829 die Bremer Eiswette hervorgegangen. Anfänglich hatten sie auch den Namen Langkohlpartien und waren eine reine Herrengesellschaft der besseren Gesellschaft. Der Schriftsteller Eduard Beurmann (der Bremen wegen einer Liebesaffaire verlassen musste) schreibt 1836 etwas boshaft über die Bremer:
Gott! Ein bremischer Tabak- oder Weinreisender würde er nicht an den Quellen des Nils, in Is-und Lappland als Bremer zu erkennen seyn? Er würde dem Vicekönig von Egypten die Bremer Cigarren vor dem türkischen Rauchtabak anempfehlen, dem Isländer würde er „Pinkeln“ und Braunkohl anpreisen, dem Lappen würde er den Bremer Wallfischthran rekommandieren...wie er im Winter, beim Anblick der Schweizer Gletscher, ausrufen möchte: „Es flimmert und glänzt wie Silber, aber der Braunkohl von Bremen wächst nicht unter dem Schnee der Gletscher, und wenn ich jetzt in Bremen wäre, ich würde eine „Langkohlparthie“ nach Horn mitmachen.“
Die Langkohlpartien werden zunehmend demokratisiert, auch Frauen werden zugelassen und irgendwann sind sie etwas, was jeder in Bremen einmal im Jahr macht. Obgleich der braune Langkohl des 19. Jahrhunderts, von dem die Bauern die unteren 90 Prozent an das Vieh verfütterten, gar nicht mehr angebaut wird. Angeblich sagt man in Oldenburg Grünkohl und in Bremen Braunkohl, aber das kann ich nicht bestätigen, weil ich in Bremen noch nie jemanden Braunkohl habe sagen hören. Da, wo Opa herkommt, heißt das Zeug etwas ironisch Lippische Palme. Diese Kohlsorte ist im Übrigen sehr alt, schon die alten Römer haben sie gekannt. Die Oldenburger und Bremer streiten sich immer darüber, wer das Gericht als erster auf den Tisch gebracht hat. Da siegen die Bremer ganz einwandfrei: seit 1545 steht Kohl und Pinkel auf der Speisekarte der Schaffermahlzeit.
Aus den Langkohlpartien werden die Kohl- und Pinkelfahrten, raus aus Bremen, rein in die Landgasthöfe der Umgebung. Die haben im Januar und Februar Hochsaison. Diese Fahrten werden von Kegelklubs, Schützenvereinen, Fußballvereinen, Lehrerkollegien und Betrieben gemacht und sind aus dem Bremer Leben im Januar und Februar (wenn der Kohl schön knackig angefroren ist) nicht mehr wegzudenken. Sogar die Wissenschaft hat sich schon auf sie gestürzt. Seit dem Jahre 1988 gibt es eine Doktorarbeit mit dem schönen Titel Kohl- und Pinkelfahrten: Geschichte und Struktur einer Festzeit in Norddeutschland, die soziologisch volkskundlich alles über diesen Brauch enthält. Einschließlich ausgewerteter Fragebögen von hunderten von Teilnehmern. Ich weiß nicht, ob der Verfasser Martin Westphal an der Uni Münster zum Dr. phil. promoviert wurde oder ob er Dr. kohl ist. Die Arbeit hat seiner Karriere nicht geschadet, er ist heute der Leiter des Historischen Museums in Rendsburg. Sein Buch gehört zu den am häufigsten angefragten Titeln in der Bibliothek der Oldenburger Grünkohl-Akademie. Auch so was gibt es, die Nordddeutschen nehmen ihren Grünkohl schon sehr ernst.
Auch bei uns am Tisch ist das Essen eine ernste Sache, alle Teile des Gerichtes werden sachkundig kommentiert und mit anderen Kohl-und Pinkelgerichten verglichen, die man irgendwann irgendwo gegessen hat oder selbst gekocht hat. Jedes Jahr werden wieder Rezepte ausgetauscht, an die sich aber niemand hält. Butenbremer, die jetzt schon studieren, bekommen von ihren Eltern Pinkelwurst an den Studienort nachgeschickt, außerhalb Bremens kriegt man vielleicht Kohl, aber keinen Pinkel. Nach dem Essen gehen wir erstmal stundenlang im Hasbruch spazieren, das ist besonders schön, wenn der Boden gefroren ist und Schnee liegt. Wenn der Boden vom Regen naß und matschig ist, kann man den Hasbruch vergessen. Das ist nämlich ein echter Urwald. Tausendjährige Eichen. Die vierhundertjährigen Franzosenbuchen mussten gerade gefällt werden, weil sie eine Gefahr für Spaziergänger darstellten. Nach dem Verdauungsspaziergang geht es wieder zurück in den Gasthof für Kaffee und Kuchen, es ist eigentlich unglaublich, dass der Magen schon wieder aufnahmefähig ist. Wenn die Kegelbahn frei ist, kegeln wir vorher alle noch eine Runde.
Mittlerweile sind die Tische umgestellt worden, eine Tanzfläche wurde freigeräumt. Eine Kapelle ist erschienen und spielt langsame Tanzmusik. Dicke Bäuerinnen mit Strickjacken überm Kleid tanzen miteinander, ihren Kerl kriegen die jetzt nicht mehr vom Tisch hoch. Nachdem der Kaffee und Kuchen und fett Sahne intus hat, fängt er an Konjäckchen zu schnasseln. Den Asbach lass’ mal gleich hier auf dem Tisch stehen, sagt er gönnerhaft zur Serviererin. Danach wird es bei den meisten Festivitäten gemischt, wie man so schön sagt. Auch das hat Dr. Westphal untersucht. Wir bekommen davon aber nichts mit, weil wir alle wieder in unsere Limousinen gestiegen sind und auf dem Weg nach Bremen sind. Aber für viele ist das jetzt der Ersatz für Karneval. Geben auf dem Fragebogen von Westphal viele an. Es gibt auch einen Fragebogen für das Personal, wo auch Fragen nach alkoholisierten Übergriffen der Gäste auf weibliche Bedienstete drinstehen. Der Doktor, der seinen Titel den Kohl- und Pinkelfahrten (KPF) verdankt, hat an alles gedacht. Ist natürlich scheinwissenschaftlicher Tüddelkram. Wenn man einmal eine KPF bis zum bitteren Ende mitgemacht hat, dann weiß man, wie das läuft.
Die Gattin in Jägersbergs Theaterstück, die die Geschichte mit dem Hotel Graf Anton Günther in Oldenburg, mit dem besten Grünkohl aller Zeiten und dem Frost, den der Kohl braucht, um knackig zu werden, schon tausendmal gehört hat, hat diesmal im sanften Ehekrieg etwas Neues. Grünkohlflöhe. Hat ihr der Gemüsehändler gesagt, der Kohl braucht den Frost, damit die Grünkohlflöhe absterben. Grünkohlflöhe, ich werde wahnsinnig, sagt der Mann. Die Dialoge werden lauter. Sie schreit Wenn Du immer mit Deinem Grünkohl anfängst, und Dein blöder Grünkohl. Am Ende, nach ein paar gehässigen Bemerkungen über die Langsamkeit der Holländer scheinen sie wieder versöhnt. Es könnte jetzt aber auch ein Mord passieren.
Das Gedicht gehört sicherlich nicht zu den größten literarischen Schöpfungen des Autors. Wenn Sie etwas Nettes von ihm lesen wollen, dann lesen Sie Kattenhorns Pferd, eine Geschichte, die Fritz Overbeck seinen Kindern erzählt und die sein Sohn aufgeschrieben hat. Fritz Overbeck hat bestimmt auch Grünkohl gegessen. Spätesten, wenn er bei Hermann Allmers eingeladen war. Auf dem Photo sitzt Overbeck vorne links neben Allmers. Unser Marschendichter hat für das Grünkohlessen extra ein Lied geschrieben, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:
Wenn Feld und Wald und Wiese weiß
Von Rauhreif ist und Schnee und Eis,
Ist doch dem heimatlichen Norden
Ein köstliches Geschenk geworden.
Denn freundlich grüßt und hold und traut
Ein liebes wohlbekanntes Kraut
Und lacht uns an wie Frühlingsklee
Hervor aus Reif und Eis und Schnee.
Wer preist nicht unsern braunen Kohl,
Den lieben, leckern Heimatsegen.
Heut strömt sein Duft uns hold entgegen,
Des teuren Heimatlands Symbol.
Wem lacht das Herz nicht vor Vergnügen!
Nordwester auf! Greift zu den Krügen,
Setzt an und trinkt in vollen Zügen.
Hoch unsre Heimat und ihr Wohl!
Aber nun genug der Präliminarien, ich weiß, Sie warten schon auf den Grünkohl:
Grünkohl für Holland heißt ein Theaterstück von Otto Jägersberg. Der Autor hat sich mal vor dem Straßenschild der gleichnamigen Kieler Straße Jägersberg photographieren lassen und dann scherzhafterweise behauptet, sie sei nach ihm benannt. Kann man noch auf Diogenes Paperbacks aus den siebziger Jahren sehen. Ich habe alles gekauft, was Otto Jägersberg geschrieben hat, habe es gelesen und im Regal stehen. Das habe ich nur von wenigen deutschen Autoren gemacht, die mein Leben begleitet haben: Rolf Dieter Brinkmann, Uli Becker und Arno Schmidt. Arno Schmidt hat nette Dinge über den ersten Roman von Jägersberg gesagt, und wenn Diogenes einen als Autor nimmt, dann kann man nicht ganz schlecht sein.
Jägersberg ist so alt wie ich, er kommt aus Westfalen. Wie Uli Becker. Und die Gegend, wo Brinkmann herkommt, ist ja eigentlich auch schon Westfalen. In Jägersbergs ersten Romanen habe ich in Diktion und Akzent die ganze Verwandtschaft von Oppa wieder reden hören. Irgendwann hat Jägersberg aufgehört zu schreiben, er hat noch Drehbücher geschrieben und ich habe mal im Nachtprogramm des Fernsehens einen Film über Mode von ihm gesehen. Aber er schreibt leider nicht mehr so tolle Dinge wie Weihrauch und Pumpernickel, Nette Leute oder Grünkohl für Holland. Das hat er selbst fürs Fernsehen inszeniert, die ARD hat es am 5.6.1973 um 21 Uhr gezeigt. Das war ein Dienstag, ich weiß das noch, weil ich mir in jener Woche am Freitag beim Fußball den Daumen gebrochen habe.
Jägersberg ist so alt wie ich, er kommt aus Westfalen. Wie Uli Becker. Und die Gegend, wo Brinkmann herkommt, ist ja eigentlich auch schon Westfalen. In Jägersbergs ersten Romanen habe ich in Diktion und Akzent die ganze Verwandtschaft von Oppa wieder reden hören. Irgendwann hat Jägersberg aufgehört zu schreiben, er hat noch Drehbücher geschrieben und ich habe mal im Nachtprogramm des Fernsehens einen Film über Mode von ihm gesehen. Aber er schreibt leider nicht mehr so tolle Dinge wie Weihrauch und Pumpernickel, Nette Leute oder Grünkohl für Holland. Das hat er selbst fürs Fernsehen inszeniert, die ARD hat es am 5.6.1973 um 21 Uhr gezeigt. Das war ein Dienstag, ich weiß das noch, weil ich mir in jener Woche am Freitag beim Fußball den Daumen gebrochen habe.
Grünkohl für Holland gehört mit zwei anderen Stücken zu einem kleinen Band, der Cosa Nostra: Drei Stücke aus dem bürgerlichen Heldenleben, heißt. Die Stücke haben viel gemeinsam, aber nur in einem wird über Grünkohl geredet. Die da reden, haben keine Namen, sie heißen SIE und ER. Eigentlich haben sie eine Ehe- und Lebenskrise, aber sie reden die ganze Zeit über übers Essen. Das absurde Theater hat die deutsche Küche erreicht. Das Stück ist eine Kreuzung aus Beckett und Loriot. Der wird das sicher gelesen haben, denn sein Schwiegersohn ist der Cheflektor von Diogenes. Jägersberg hatte der Verlagschef Daniel Keel schon Anfang der sechziger Jahre entdeckt und sofort Weihrauch und Pumpernickel: Ein westpfählisches Sittenbild auf den Markt gebracht, wahrscheinlich auch deshalb, weil ihm Arno Schmidt diesen lobenden Brief geschrieben hat.
Die großen Fragen der Menschheit, die in Grünkohl für Holland behandelt werden, sind Leitsätze für jeden Grünkohlliebhaber in Bremen. Dass Holländer keinen Grünkohl anbauen können und dass der Kohl den ersten Frost gehabt haben muss, damit er so richtig knackig ist. Beides stimmt wahrscheinlich nicht, aber man gibt seine Vorurteile ungern auf. Hier reden zwei Menschen in der Küche über Tomatenmark, Paprika, Rosenkohl, Käse und Bratkartoffeln, aber eigentlich reden sie über etwas anderes. Das ist die Vorwegnahme von Unterhaltungen von Yuppies, deren Leben so inhaltsleer ist, dass sie nur noch die Namen von angesagten Lokalen austauschen können. Die amerikanische Soziologin Deborah Silverman schilderte auf dem Höhepunkt dieses Unwesens eine Gesprächsrunde, bei der der New Yorker Gastgeber (dem das stundenlange Aufzählen von Insiderlokalen zu blöd wird) den Namen Proust ins Gespräch bringt. Die Gäste halten das für ein neues angesagtes Lokal.
Der Ehemann in Jägersbergs Theaterstück schwärmt vom Hotel Graf Anton Günther in Oldenburg, wo er 1957 diesen tollen Grünkohl gegessen hat, seine Frau hat die Geschichte schon tausendmal gehört, wie alle seine Geschichten. Im Graf Anton Günther haben wir häufiger gegessen. Wenn man in Oldenburg ist, muß man da einfach essen. So wie man in Bremen damals ins Essighaus ging, wenn man fein essen wollte. Ansonsten ist der gastronomische Tourismus in den fünfziger Jahren noch nicht ausgebrochen. Das einzige Lokal von einer gewissen Berühmtheit ist der Blaue Fasan in Wiesmoor. Und im Fernsehen gibt es damals noch keine dreißig Kochsendungen, sondern bestenfalls den Fernsehkoch Clemens Wilmenrod, der allerdings nur Schauspieler war und niemals Koch gelernt hatte. Das Hotel in Oldenburg, das nach dem berühmtesten Landesherrn heißt (der sein Land aus allen Wirren des dreißigjährigen Krieges herausgehalten hat), ist alt und hat Butzenscheiben. Und ein großes Fresko aus dem Jahre 1894 vorne an der Wand, das den Grafen auf seinem Lieblingspferd Kranich zeigt.
Aber Grünkohl haben wir da nie gegessen, den isst man am besten bei Muttern zu Hause oder auf einem Grünkohlausflug. Der führt uns immer mit den Familien der Skatklubgruppe nach Bookholzberg am Rande des Hasbruch. Und da sitzen dann fünf Familien mit Kind und Kegel an langen Tischen und essen Kohl und Pinkel. Letzteres verwirrt Nicht-Bremer immer sehr. Laut dem Bremisches Koch- und Wirthschaftsbuch enthaltend eine sehr deutliche Anweisung wie man Speisen und Backwerk für alle Stände Gut zubereitet. Für junge Frauenzimmer, welche ihre Küche und Haushaltung selbst besorgen und ihre Geschäfte mit Nutzen betreiben von der Pädagogin Betty Gleim enthält die Pinkelwurst Hafergrütze, Nierenfett, Zwiebeln, Pfeffer und Salz. Diese Masse wird in den Pinkeldarm (den Mastdarm des Rindes) gefüllt und (mit dem Kohl gekocht) als Beilage zum Grünkohl serviert. Zusätzlich zu Kassler Rippenspeer, durchwachsenem Speck und Kochwurst. Die Fleischbeilagen können in Norddeutschland regional etwas anders ausfallen, in Emden kriegt man keinen Pinkel zum Kohl. Die Kartoffeln, die dazu gereicht werden, sind häufig in Zucker glasiert oder Röstkartoffeln. Meine Mutter wirft auch immer noch einen Esslöffel Zucker in den Kohl.
Dazu muß man natürlich Bier und Doppelkorn trinken, etwas anderes geht nicht. Für ständigen Nachschub an Kohl, Kartoffeln und Fleisch sorgen die Kellner, die immer wieder ungefragt Schüsseln auf den Tisch stellen. Kohl und Pinkel satt heißt es in den Werbeanzeigen, die man jetzt in jeder Zeitung lesen kann (die erste ist 1843 in den Bremer Nachrichten belegt). Dennoch, die Fleischbeilagen können so satt sein wie sie wollen, wenn es mit dem Kohl nicht stimmt, dann fährt man da im nächsten Jahr nicht wieder hin. Wer am meisten essen kann, wird Kohlkönig. Manche Vereine auf Kohl- und Pinkelfahrt bringen eine Waage mit, auf der die Vereinsmitglieder vor und nach dem Essen gewogen werden. Das ist alles schon streng ritualisiert. Diese Kohl- und Pinkelfahrten gibt es in Norddeutschland (sprich Bremen, Oldenburg und Ostfriesland) seit dem frühen 19. Jahrhundert. Aus einer solchen Fahrt ist 1829 die Bremer Eiswette hervorgegangen. Anfänglich hatten sie auch den Namen Langkohlpartien und waren eine reine Herrengesellschaft der besseren Gesellschaft. Der Schriftsteller Eduard Beurmann (der Bremen wegen einer Liebesaffaire verlassen musste) schreibt 1836 etwas boshaft über die Bremer:
Gott! Ein bremischer Tabak- oder Weinreisender würde er nicht an den Quellen des Nils, in Is-und Lappland als Bremer zu erkennen seyn? Er würde dem Vicekönig von Egypten die Bremer Cigarren vor dem türkischen Rauchtabak anempfehlen, dem Isländer würde er „Pinkeln“ und Braunkohl anpreisen, dem Lappen würde er den Bremer Wallfischthran rekommandieren...wie er im Winter, beim Anblick der Schweizer Gletscher, ausrufen möchte: „Es flimmert und glänzt wie Silber, aber der Braunkohl von Bremen wächst nicht unter dem Schnee der Gletscher, und wenn ich jetzt in Bremen wäre, ich würde eine „Langkohlparthie“ nach Horn mitmachen.“
Die Langkohlpartien werden zunehmend demokratisiert, auch Frauen werden zugelassen und irgendwann sind sie etwas, was jeder in Bremen einmal im Jahr macht. Obgleich der braune Langkohl des 19. Jahrhunderts, von dem die Bauern die unteren 90 Prozent an das Vieh verfütterten, gar nicht mehr angebaut wird. Angeblich sagt man in Oldenburg Grünkohl und in Bremen Braunkohl, aber das kann ich nicht bestätigen, weil ich in Bremen noch nie jemanden Braunkohl habe sagen hören. Da, wo Opa herkommt, heißt das Zeug etwas ironisch Lippische Palme. Diese Kohlsorte ist im Übrigen sehr alt, schon die alten Römer haben sie gekannt. Die Oldenburger und Bremer streiten sich immer darüber, wer das Gericht als erster auf den Tisch gebracht hat. Da siegen die Bremer ganz einwandfrei: seit 1545 steht Kohl und Pinkel auf der Speisekarte der Schaffermahlzeit.
Aus den Langkohlpartien werden die Kohl- und Pinkelfahrten, raus aus Bremen, rein in die Landgasthöfe der Umgebung. Die haben im Januar und Februar Hochsaison. Diese Fahrten werden von Kegelklubs, Schützenvereinen, Fußballvereinen, Lehrerkollegien und Betrieben gemacht und sind aus dem Bremer Leben im Januar und Februar (wenn der Kohl schön knackig angefroren ist) nicht mehr wegzudenken. Sogar die Wissenschaft hat sich schon auf sie gestürzt. Seit dem Jahre 1988 gibt es eine Doktorarbeit mit dem schönen Titel Kohl- und Pinkelfahrten: Geschichte und Struktur einer Festzeit in Norddeutschland, die soziologisch volkskundlich alles über diesen Brauch enthält. Einschließlich ausgewerteter Fragebögen von hunderten von Teilnehmern. Ich weiß nicht, ob der Verfasser Martin Westphal an der Uni Münster zum Dr. phil. promoviert wurde oder ob er Dr. kohl ist. Die Arbeit hat seiner Karriere nicht geschadet, er ist heute der Leiter des Historischen Museums in Rendsburg. Sein Buch gehört zu den am häufigsten angefragten Titeln in der Bibliothek der Oldenburger Grünkohl-Akademie. Auch so was gibt es, die Nordddeutschen nehmen ihren Grünkohl schon sehr ernst.
Auch bei uns am Tisch ist das Essen eine ernste Sache, alle Teile des Gerichtes werden sachkundig kommentiert und mit anderen Kohl-und Pinkelgerichten verglichen, die man irgendwann irgendwo gegessen hat oder selbst gekocht hat. Jedes Jahr werden wieder Rezepte ausgetauscht, an die sich aber niemand hält. Butenbremer, die jetzt schon studieren, bekommen von ihren Eltern Pinkelwurst an den Studienort nachgeschickt, außerhalb Bremens kriegt man vielleicht Kohl, aber keinen Pinkel. Nach dem Essen gehen wir erstmal stundenlang im Hasbruch spazieren, das ist besonders schön, wenn der Boden gefroren ist und Schnee liegt. Wenn der Boden vom Regen naß und matschig ist, kann man den Hasbruch vergessen. Das ist nämlich ein echter Urwald. Tausendjährige Eichen. Die vierhundertjährigen Franzosenbuchen mussten gerade gefällt werden, weil sie eine Gefahr für Spaziergänger darstellten. Nach dem Verdauungsspaziergang geht es wieder zurück in den Gasthof für Kaffee und Kuchen, es ist eigentlich unglaublich, dass der Magen schon wieder aufnahmefähig ist. Wenn die Kegelbahn frei ist, kegeln wir vorher alle noch eine Runde.
Mittlerweile sind die Tische umgestellt worden, eine Tanzfläche wurde freigeräumt. Eine Kapelle ist erschienen und spielt langsame Tanzmusik. Dicke Bäuerinnen mit Strickjacken überm Kleid tanzen miteinander, ihren Kerl kriegen die jetzt nicht mehr vom Tisch hoch. Nachdem der Kaffee und Kuchen und fett Sahne intus hat, fängt er an Konjäckchen zu schnasseln. Den Asbach lass’ mal gleich hier auf dem Tisch stehen, sagt er gönnerhaft zur Serviererin. Danach wird es bei den meisten Festivitäten gemischt, wie man so schön sagt. Auch das hat Dr. Westphal untersucht. Wir bekommen davon aber nichts mit, weil wir alle wieder in unsere Limousinen gestiegen sind und auf dem Weg nach Bremen sind. Aber für viele ist das jetzt der Ersatz für Karneval. Geben auf dem Fragebogen von Westphal viele an. Es gibt auch einen Fragebogen für das Personal, wo auch Fragen nach alkoholisierten Übergriffen der Gäste auf weibliche Bedienstete drinstehen. Der Doktor, der seinen Titel den Kohl- und Pinkelfahrten (KPF) verdankt, hat an alles gedacht. Ist natürlich scheinwissenschaftlicher Tüddelkram. Wenn man einmal eine KPF bis zum bitteren Ende mitgemacht hat, dann weiß man, wie das läuft.
Die Gattin in Jägersbergs Theaterstück, die die Geschichte mit dem Hotel Graf Anton Günther in Oldenburg, mit dem besten Grünkohl aller Zeiten und dem Frost, den der Kohl braucht, um knackig zu werden, schon tausendmal gehört hat, hat diesmal im sanften Ehekrieg etwas Neues. Grünkohlflöhe. Hat ihr der Gemüsehändler gesagt, der Kohl braucht den Frost, damit die Grünkohlflöhe absterben. Grünkohlflöhe, ich werde wahnsinnig, sagt der Mann. Die Dialoge werden lauter. Sie schreit Wenn Du immer mit Deinem Grünkohl anfängst, und Dein blöder Grünkohl. Am Ende, nach ein paar gehässigen Bemerkungen über die Langsamkeit der Holländer scheinen sie wieder versöhnt. Es könnte jetzt aber auch ein Mord passieren.
Mittwoch, 7. Februar 2018
Ausländer
Ich zitiere heute einmal Sir Thomas More mit einer Rede, die er am sogenannten Evil May Day 1517 gehalten hat. More, einer der beiden Under-Sheriffs von London, spricht da zu einem wütenden Pöbel, der die Fremden aus London vertreiben will. Flamen, Wallonen, Hugenotten und auch Deutsche sind ihr Hassobjekt. Bis auf die wohlhabenden deutschen Kaufleute sind die meisten anderen ➱Flüchtlinge, aus ihren Heimatländern wegen ihrer Religion vertrieben. Das Thema kennen wir, Flüchtlinge und pöbelnder Mob, das ist unser deutsches Thema. Das war mit Lichtenhagen 1992 nicht zu Ende, das fing da erst an.
Wir hören einmal in die Rede von Thomas More hinein:
Nehmt an ihr wärt sie los und dass euer Lärm
alle Majestät Englands heruntergezogen hätte,
stellt euch die geplagten Fremden vor,
ihre Babies auf den Rücken und ihr armseliges Gepäck,
sich zu den Häfen und Küsten schleppend für die Überfahrt,
und dass ihr wie Könige auf euren Wünschen thront,
die Obrigkeit zum Schweigen gebracht durch euren Aufruhr
und ihr in die Halskrausen eurer Meinungen gezwängt,
was hättet ihr erreicht? Ich sags euch, ihr hättet gezeigt wie
Frechheit und Gewalt obsiegen,
wie Ordnung bezwungen wird, und wie nach diesem Muster
kein Einziger von euch ein hohes Alter erreicht,
denn andere Grobiane werden so es ihnen gefällt
mit derselben Hand, denselben Gründen und demselben Recht
über euch und andere wie Haie herfallen und
wie hungrige Fische frisst einer den anderen...
Angenommen nun der König
zieht euch für euren großen Fehltritt nur so weit zur Rechenschaft,
dass er euch aus dem Land verbannt, wohin würdet ihr gehn ?
Welches Land würd euch, nach der Art und Weise eurer Irrungen,
Zuflucht gewähren? Ob ihr nach Frankreich oder Flandern geht,
irgendeine der deutschen Provinzen, Spanien oder Portugal,
ja irgendein Land, das nicht zu England gehört,
da ihr dort notwendig Fremde seid, wärt ihr erfreut
ein Volk von so barbarischem Gemüt zu finden,
die ausbrechend in abscheuliche Gewalt
euch keine Bleibe auf Erden gönnen.
Die ihre Messer an eure Gurgeln wetzen,
euch als Hunde verachten und als ob ihr nicht
von Gott behütet oder geschaffen wäret,
nicht dass die Umstände alle zu eurem Vorteil sind, aber auf sie
angewiesen, was würdet ihr denken
so behandelt zu werden? Das ist das Los des Fremden,
und das ist eure gipfelhohe Unmenschlichkeit.
Er sagt das natürlich auf ➱Englisch (Sie können hier ➱Sir Ian McKellan mit der Rede hören). In ➱Blankversen. Die etwas holpriger daherkommen als in Hamlet, dem Stück, an dem Shakespeare gerade schreibt. Ich habe die Rede auf Deutsch zitiert, damit der Mann mit den ➱karierten Jacken, der ➱unser Land zurückholen will, das auch versteht. Es ist ein erstaunlicher Text. Ein schöner Text. Aber wir wissen nicht wirklich, was Thomas Morus dem lärmenden Mob vor einem halben Jahrtausend gesagt hat. Denn das hier lässt William Shakespeare in dem Theaterstück Sir Thomas More seinen ➱Thomas More sagen. Er hat seinen Text beim Schreiben ein wenig korrigiert. Wir wissen das, weil die British Library mehrere ➱Seiten davon aufbewahrt; es ist das einzige Theaterstück, zu dem wir handschriftliche Zeilen von Shakespeare besitzen. Vielleicht, ganz ➱sicher ist es nicht.
Das Manuskript von Sir Thomas More ist eine Gemeinschaftsarbeit, das ist nichts Ungewöhnliches in der elisabethanischen Zeit. Wahrscheinlich stammte die erste Version von Anthony Munday und Henry Chettle. Sie wurde Jahre später von einem anderen Team von Autoren überarbeitet, zu dem Thomas Heywood, Thomas Dekker und William Shakespeare gehörten. Dem Zensor Sir Edmund Tilney gefällt das Ganze nicht, er schreibt in das Manuskript: Leave out the insurrection wholly and the cause thereof, and begin with Sir Thomas More at the Mayor’s sessions, with a report afterwards of his good service done being Sheriff of London upon a mutiny against the Lombards – only by a short report, and not otherwise, at your own perils. Das Stück wurde nicht gespielt. Vielleicht, weil Shakespeare sich nicht an das Leave out the insurrection wholly and the cause thereof gehalten hat.
Seit 1737 ist der Lord Chamberlain für die Zensur zuständig. Erst 1968 wurde die Macht des Lord Chamberlain bezüglich der Theater in London beschnitten. Da hatten die Amtsinhaber über die Jahrhunderte Stücke wie König Ödipus von Sophokles, die Salome von Oscar Wilde und George Bernard Shaws Mrs Warren's Profession verboten. Und Beckett hatte große Schwierigkeiten, dass er sein Waiting for Godot auf die Bühne bringen konnte. Die Engländer sind seltsame Menschen.
Seit 1737 ist der Lord Chamberlain für die Zensur zuständig. Erst 1968 wurde die Macht des Lord Chamberlain bezüglich der Theater in London beschnitten. Da hatten die Amtsinhaber über die Jahrhunderte Stücke wie König Ödipus von Sophokles, die Salome von Oscar Wilde und George Bernard Shaws Mrs Warren's Profession verboten. Und Beckett hatte große Schwierigkeiten, dass er sein Waiting for Godot auf die Bühne bringen konnte. Die Engländer sind seltsame Menschen.
Der Deutsche Taschenbuchverlag hat 2016 ein Büchlein herausgebracht, das die Rede von Sir Thomas More in der deutschen Übersetzung von Frank Günther enthält. Es ist ein Buch, das unter falscher Flagge segelt, William Shakespeare hat niemals etwas geschrieben, das Die Fremden: Für mehr Mitgefühl heißt. Auf dem Buch klebt ein rotes Etikett: Weckruf aus einer anderen Zeit - Von erschütternder Aktualität. Irgendwie ist das Ganze ein bisschen peinlich. Sie können ➱hier eine Rezension lesen - und hier eine ➱andere. Bilden Sie sich ihre Meinung, dazu brauchen Sie den dtv Band nicht, der reine Beutelschneiderei ist. Shakespeares Text können Sie ➱hier lesen. Und die sechs Euro, die Sie jetzt gespart haben, die überweisen Sie doch bitte an eine Hilfsorganisation für Flüchtlinge.
Dienstag, 6. Februar 2018
Radziwill
Der Maler Franz Radziwill wurde am 6. Februar 1895 in Strohausen, einem kleinen Kaff in der Wesermarsch (das heute zu Rodenkirchen gehört) geboren. Ich mag ihn, meine Leser mögen ihn auch. Das kann ich mit Sicherheit sagen, denn der Post ➱Franz Radziwill ist über zehntausend Mal angeklickt worden. Ich mag den Post sehr, weil ich da etwas über das Bild Der Todessturz Karl Buchstätters von 1928 herausgefunden habe, auf das zuvor noch kein Kunsthistoriker gekommen war. Klicken Sie den Post doch mal an.
Ein bisschen etwas Neues hätte ich schon noch. Nämlich den Maler ➱Theo Champion, den man auch den ➱Malerpoeten genannt hat. Er war der einzige Maler, den Radziwill mochte. So notierte seine Frau Anna Inge Radziwill in ihrem Tagebuch: Fragen nach seinen wesentlich bekannteren Kollegen wie Dix, Grosz, Schlichter oder Schad, die er ja persönlich gekannt hatte, mit denen er zum Teil eng befreundet war, weicht Radziwill aus. Über deren Bilder spricht er nicht. Der einzige, den er als Maler ausdrücklich schätzt, ist Theo Champion, ein längst verschollener Künstler aus Düsseldorf. Verständlich, daß dieser alte Maler, der sich verkannt fühlt, der immer noch auf den großen Durchbruch wartet ... Klicken Sie doch einmal diese ➱Seite an, es sind erstaunliche Bilder dabei.
Sonntag, 4. Februar 2018
Rheinnixen
Das Bild Siegfried and the Rhine Maidens von Albert Pinkham Ryder habe ich schon einmal in dem Post ➱Bayreuth abgebildet. Es passt natürlich für einen Post mit dem Titel Rheinnixen recht gut, auch wenn Wellgunde, Woglinde und Floßhilde hier heute nicht vorkommen. Und diese drei ➱Damen auch nicht. Die Oper, um die es heute geht, hat im Deutschen den Titel Die Rhein-Nixen Große romantische Oper in vier Akten, im französischen Original heißt die Oper Les Fées du Rhin. Feen und Nixen sind, wenn ich mich an die Märchenwelt erinnere, etwas verschiedenes. Andererseits reitet die Loreley in Eichendorffs Waldgespräch nachts durch den Wald und kämmt sich nicht die blonden Haare am Rhein:
So reich geschmückt ist Roß und Weib,
So wunderschön der junge Leib,
Jetzt kenn’ ich dich – Gott steh’ mir bei!
Du bist die Hexe Lorelei.
Feen und Nixen sind bei mir gut aufgehoben. Ich war 2010 gerade mal zwei Tage Blogger, da tauchten in dem Post ➱I skovens dybe stille ro schon Meerjungfrauen auf. Und der Post ➱Meerjungfrauen + Waldnixen ist sogar ein kleiner Bestseller, ➱Lurley und ➱Loreley gab es natürlich auch schon. Da passen mir die Rheinnixen gut, zumal das eine Oper von Jacques Offenbach ist. Am 4. Februar 1864 in Paris zur Uraufführung gebracht, 1865 in Köln in deutscher Fassung (bearbeitet von Alfred von Wolzogen) aufgeführt, und dann für mehr als ein Jahrhundert vergessen [die Partitur finden Sie ➱hier]. Offenbach hat einiges aus der Oper gerettet und anderweitig gebraucht, wenn Sie mal eben in die ➱Ouvertüre hineinhören, dann wissen Sie dass Sie das schon aus Hoffmanns Erzählungen als Barcarolle kennen. Was erstaunlich ist, ist dass der Komponist die zwei Arien der Armgard nicht wieder recycelt hat.
Die erste ist sicherlich ein Ohrwurm:
Dort, wo hundertjährige Eichen,
Dunkele Tannen stehen,
Singende Schatten sich zeigen,
Wundersam anzusehen,
Das sind jene jungen Schönen,
Die gesungen allzuviel,
Krank von sehnsüchtigen Tönen,
Früh erreichten des Lebens Ziel.
Jetzt ziehen sie vorbei
Mit ihrer süßen Melodei.
Ich habe das natürlich auch mit Musik und bewegten ➱Bildern. Die Sache mit den jungen Schönen und ihrer süßen Melodei hat einen kleinen Haken. Das ist so ähnlich wie in Eichendorffs Waldgespräch, wenn die Hexe Lorelei zu dem Ritter sagt: Es ist schon spät, es wird schon kalt, Kommst nimmermehr aus diesem Wald! Und so heißt es hier in der zweiten Strophe:
Alle, die vorüberziehen,
Lockt ihr seltsames Lied,
Besser doch ist's, sie zu fliehen;
Todt ist, wer sie sieht.
Wenn sie auf den Wogen gleiten,
Nicht gekräuselt wird das Naß;
Kommen sie über die Heiden,
Keiner sieht ihre Spur im Gras.
Jetzt ziehen sie vorbei
Mit ihrer süßen Melodei.
Eigentlich ist die Romantik ja schon zu Ende, aber Offenbach nennt sein Werk Große romantische Oper, da muss dann schon viel Märchenhaftes und Übernatürliches mit hinein. Das sind die Reste der Zauberoper, die schon E.T.A. Hoffmann in Undine oder Carl Maria von Weber in seinem ➱Freischütz verwendeten. Und wir als Nichtromantiker sind gewarnt, wenn junge Schöne mit süßer Melodei vorüberziehen, ist es besser sie zu fliehen. Die Armgard (wie sind in der Oper im Jahre 1522, da hat man solche Namen) hat noch eine schöne Arie, das ➱Vaterlandslied:
Wie meine Pulse schlagen
Für Dich, mein Vaterland!
Ich habe Dir mein Leben,
Mein Alles hingegeben,
Ich nehm das Glas zur Hand
Und trink es Dir und ruf es laut:
Du, Vaterland, bist meine Braut!
Du liebes Land, Du schönes Land
Du schönes, großes deutsches Vaterland
Du liebes Land, Du schönes Land!
Du schönes, großes deutsches Vaterland!
Schöne Gefühle. Wir sind in den deutschen Ritterkriegen, Franz von Sickingen gegen Richard von Greiffenklau, Mord und Totschlag. Und gegen die Brutalität der ganzen Soldateska singt Armgard das Vaterlandslied. In der Wirklichkeit geht der Krieg immer weiter. Zwei Monate nach der Premiere von Les Fées du Rhin erobern die Deutschen die Düppeler Schanzen, sechs Jahre später steht Moltke vor Paris.
Bei der Aufführung der Oper in Trier im Jahre 2005 hat man vielleicht ein wenig zu viel des Guten an Krieg und Gewalt auf die Bühne gebracht: Ist die musikalische Interpretation mit Einschränkungen akzeptabel, so ist die szenische Realisation schlichtweg misslungen. Das betrifft jenseits jeglicher Interpretation zunächst die unsägliche Ausstattung von Karin Fritz, die den Etat der Maskenbildnerei auf Jahre hin verbraucht haben dürfte und mit einer ans Absurde grenzenden Lust am Theaterblut manchen so sicher nicht gewollten Lacher provoziert.
Und so schön der Gedanke auch ist, einen Riss, der durch Welt, Vaterland oder auch nur durch die Seele geht, bildlich auf der Bühne zu zeigen – wenn man dann keinen Platz mehr für Solisten, Chor und Statisten hat und diese mühsam hin und her schieben muss, dann ist diese Idee nicht praktikabel. An solchen handwerklichen Schwächen krankt die Aufführung an allen Ecken und Enden. Eine Vergewaltigung auf offener Bühne in voller Grausamkeit zu zeigen ist eine Sache, über die man unter Umständen diskutieren kann; dieses aber im Rhythmus der Koloraturen, die die Sängerin dabei zu singen hat, ablaufen zu lassen ist ebenso peinlich wie albern und konterkariert jeglichen Interpretationsansatz.
Wenn Sie den Rest dieser wunderbaren Rezension lesen wollen, dann klicken Sie ➱hier (für Pressezitate für die Rezeption der Oper klicken Sie bitte ➱hier). Der Rezensent der Trierer Aufführung schloss seine Betrachtung mit den Sätzen: Keine Rehabilitation für die Rheinnixen - dazu ist die Inszenierung zu weit vom Werk entfernt. Immerhin lässt sich musikalisch erahnen, welches Potential in dieser Oper steckt, die aber weiterhin auf eine (deutsche Erst-) Aufführung, die dem Stück wirklich gerecht wird und an der man Stärken und Schwächen abwägen könnte, wartet. Wir warten. Vielleicht bekommt man das in Paris ja einmal hin, die ganze Oper aufzuführen.Schöne Gefühle. Wir sind in den deutschen Ritterkriegen, Franz von Sickingen gegen Richard von Greiffenklau, Mord und Totschlag. Und gegen die Brutalität der ganzen Soldateska singt Armgard das Vaterlandslied. In der Wirklichkeit geht der Krieg immer weiter. Zwei Monate nach der Premiere von Les Fées du Rhin erobern die Deutschen die Düppeler Schanzen, sechs Jahre später steht Moltke vor Paris.
Bei der Aufführung der Oper in Trier im Jahre 2005 hat man vielleicht ein wenig zu viel des Guten an Krieg und Gewalt auf die Bühne gebracht: Ist die musikalische Interpretation mit Einschränkungen akzeptabel, so ist die szenische Realisation schlichtweg misslungen. Das betrifft jenseits jeglicher Interpretation zunächst die unsägliche Ausstattung von Karin Fritz, die den Etat der Maskenbildnerei auf Jahre hin verbraucht haben dürfte und mit einer ans Absurde grenzenden Lust am Theaterblut manchen so sicher nicht gewollten Lacher provoziert.
Und so schön der Gedanke auch ist, einen Riss, der durch Welt, Vaterland oder auch nur durch die Seele geht, bildlich auf der Bühne zu zeigen – wenn man dann keinen Platz mehr für Solisten, Chor und Statisten hat und diese mühsam hin und her schieben muss, dann ist diese Idee nicht praktikabel. An solchen handwerklichen Schwächen krankt die Aufführung an allen Ecken und Enden. Eine Vergewaltigung auf offener Bühne in voller Grausamkeit zu zeigen ist eine Sache, über die man unter Umständen diskutieren kann; dieses aber im Rhythmus der Koloraturen, die die Sängerin dabei zu singen hat, ablaufen zu lassen ist ebenso peinlich wie albern und konterkariert jeglichen Interpretationsansatz.
Lesen Sie auch: Jacques Offenbach, La Périchole, Arkadien, Che farò senza Euridice
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