Montag, 22. Februar 2010

Bilder


In dem wunderbar komischen Roman Stars and Bars von William Boyd findet der Romanheld Henderson Dores einen Kollegen in der Frick Collection weinend vor einem Bild. Henderson Dores ist Engländer, in der Midlife Crisis, schüchtern und verklemmt. Er ist Kunsthistoriker. Kunsthistoriker weinen nicht vor Bildern, Engländer erst recht nicht. Sein Kollege steht vor einem Vermeer.

Der junge Marcel Proust hatte Bilder von Vermeer gesehen, sie haben ihn nicht mehr losgelassen. Als es in Paris im Frühjahr 1921 eine Vermeer Ausstellung gibt, in der auch das von ihm geliebte Bild der Ansicht von Delft hängt, verlässt der kranke Schriftsteller zum ersten Mal seit langem das Haus. Ein befreundeter Diplomat hatte dafür gesorgt, dass die Ansicht von Delft bei den Exponaten im Jeu de Paume war. Wir haben ein Photo von Proust von diesem Tag, das letzte, das ihn lebend zeigt. Er trägt einen ➱morning coat und hält sich sehr gerade, geradezu militärisch. Direkt nach seiner Schulzeit hatte er sich zum Militär gemeldet, vielleicht erinnert er sich jetzt daran. Wahrscheinlich hat ihm der Photograph gesagt, dass er so stehen soll. Man muss damals noch lange belichten.

Er hält seinen Zylinder so, dass man das Innenfutter und die Marke des Herstellers sehen kann. Offensichtlich macht man das in der feinen Pariser Gesellschaft so. Proust hat eine ganze Seite in seinem Roman A la recherche du temps perdu darüber geschrieben, wie man seinen Zylinder richtig in der Garderobe plaziert. Proust trägt noch einen Stehkragen, das tut 1921 eigentlich niemand mehr. Er wirkt wie aus einer anderen Zeit, die Tage sind vorbei, an denen man zu einem Museumsbesuch einen morning coat trägt. Proust weint nicht vor dem Vermeer, aber er hat einen Schwächeanfall. Das hat wohl nichts mit dem Kunsterlebnis zu tun, er ist einfach lange nicht mehr in der wirklichen Welt gewesen. Also der Welt außerhalb des Bettes in einem mit Kork ausgekleideten Zimmer, da schreibt er. Wie Jahrzehnte vor ihm hier in Paris ein anderer Dichter, der das Bett auch nicht mehr verlassen kann. Aber Harry Heine hatte es ja nicht mit Vermeer und dem Wiederheraufbeschwören eines ästhetischen Erlebnisses. Das ganze Leben auf der Suche nach einem vergangenen Augenblick, das ist die Sache von Marcel Proust. Literaturkritiker haben bereitwillig den Schwächeanfall im Museum als Vorahnung des Todes mit dem Tod von Bergotte in Die Gefangene in Verbindung gebracht. Es kann so schlimm nicht gewesen sein, Prousts Kraft reicht noch dafür, eine Ingres Ausstellung in einem Nachbarmuseum zu besuchen und hinterher noch ins Ritz zu gehen.

Der Schriftsteller Bergotte besucht in Prousts Roman eine Vermeer Ausstellung, obgleich ihm der Arzt wegen eines verhältnismäßig leichten Anfalls von Urämie Bettruhe verordnet hat. Er will die Ansicht von Delft sehen, ein Bild, das er liebte und sehr gut zu kennen meinte. Ein Kritiker hatte geschrieben, dass es eine kleine gelbe Mauerecke (an die er sich nicht erinnerte) enthalte, die so gut gemalt sei, dass sie allein für sich betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkomme, von einer Schönheit, die sich selbst genüge. Bergotte hat (wie Proust) einen Schwindelanfall, als er endlich auch die kostbare Materie des ganz kleinen gelben Mauerstücks entdeckte. Er stirbt vor dem Bild, während er sich noch verzweifelt bemüht, Haltung zu bewahren: Ich möchte dabei doch nicht, sagte er sich, für die Abendzeitungen die Sensation dieser Ausstellung sein. Aber die Schönheit des kleinen Mauerstücks vernichtet sein eigenes Kunstwollen: So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. Meine letzten Bücher sind zu trocken, ich hätte mehr Farbe daran wenden, meine Sprache in sich selbst so kostbar machen sollen wie diese kleine gelbe Mauerecke es ist. Wir sind immer auf der Suche nach der kleinen gelben Mauerecke in unserem Leben.

Die petit pan de mure jaune, wo ist sie? Nicht auf dem Bild von Vermeer. Literaturkritiker und Kunsthistoriker sind dem nachgegangen. Dieter E. Zimmer, dessen Weggang von der Zeit dem Wochenblatt einen irreparablen Substanzverlust bescherte, hat 1996 in der Süddeutschen Zeitung über die vergebliche Suche nach dem kleinen gelben Mauerstück geschrieben. Man kann dank des Internets seinen Artikel jederzeit lesen, ebenso wie man sich jederzeit die Seite ➱diese Seite aufrufen kann. Eine Seite, die so perfekt gemacht ist, dass man als Kunsthistoriker nur staunen kann. Ich weiß nicht, wie es in dem Fach heute aussieht, aber als ich studierte, wurde man darauf trainiert, Bilder an den kleinsten Ausschnitten zu identifizieren. Der Rest des Bildes interessierte erst einmal nicht, nur ein Quadratzentimeter war wichtig. Das schult das Auge, man wird gut in der Detailbetrachtung. Aber irgendwie ist es auch eine déformation professionelle. Man weint dann natürlich auch nicht mehr vor Bildern.

In seiner kleinen Theorie der Photographie Die helle Kammer hat Roland Barthes uns den Begriff des punctum offeriert, ein kleines Detail des Bildes, das uns nicht mehr loslässt (im Gegensatz zum studium, dem Gesamteindruck des Bildes). Für Bergotte und Proust ist die petit pan de mur jaune das punctum. Aber muss es sie in der Welt des Romans wirklich auf dem Bild Vermeers geben? Beauty in things exist merely in the mind which contemplates them, hat David Hume gesagt. Das kleine gelbe Mauerstück bleibt genauso elusiv wie die Sonate, die Charles Swann bewundert. Ist es Saint-Saéns, Fauré oder César Franck? In unserem Kopf schreiben wir beim Lesen immer unseren eigenen Roman. Wir füllen die Leerstellen, von denen Wolfgang Iser gesprochen hat, mit Eigenem auf.

Bilder enthalten Geheimnisse, die Farben enthalten Geheimnisse. Das unwirkliche Grün in den Landschaften der alten Niederländer hat vor Jahrhunderten ganz anders ausgesehen. Der verwendete Grünspan verändert sich chemisch. Das Bleizinngelb, das Vermeer verwendete, gibt es seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr. Hat sich Jean-Louis Vaudoyer, der Proust zur Ausstellung begleitete (und dessen Artikel mit der Erwähnung des kleinen gelben Mauerstücks in L'Opinion Proust gelesen hatte), nur vorgestellt, wie das Gelb 1660 ausgesehen haben könnte? Aber das Bleizinngelb ist im Gegensatz zum Grünspan eine beständige Farbe, es verändert sich kaum. Das sagt uns Anita Albers, die mit Die Kunst der Künste: Erinnerungen an die Malerei ein seltsames, aber hochoriginelles, wunderbares Buch geschrieben hat.

Wenn sich am Ende von Die wiedergefundene Zeit der Erzähler Marcel darüber Gedanken macht, wie viel Zeit ihm bleibt, um seine Kathedrale der Erinnerung zu bauen, sagt er, dass alles in einem Buche aus zahllosen Eindrücken besteht. Die von vielen jungen Mädchen, von vielen Kirchen, von vielen Sonaten her entnommen, dazu dienen, eine einzige Sonate, eine einzige Kirche, ein einziges junges Mädchen zu bilden bestimmt sind. Wahrscheinlich gibt es eine Vielzahl von sonnenbeschienenen gelben Mauerecken, die für Bergotte in seiner Epiphanie zu dem einen kleinen Mauerstück verschmelzen, das Vermeer nicht gemalt hat. Seinen eigenen Schwächeanfall im Jeu de Paume brauchte Proust für die Sterbeszene von Bergotte nicht, die Idee hatte er schon lange im Kopf. Als er im September 1898 in Holland eine Rembrandt Ausstellung besucht, hatte er den Plan, einen Roman zu schreiben, in dem der von ihm verehrte englische Kunstkritiker John Ruskin in einer Rembrandt Ausstellung stirbt. Wenn Bergotte angesichts der Schönheit des Vermeer Bildes sein eigenes Werk gering einschätzt, dann ist er nicht der einzige Schriftsteller im 20. Jahrhundert. Robert Lowells letztes Gedicht Epilogue in seinem letzten Gedichtband nimmt das Thema von Vermeer und dem eigenen dichterischen Versagen wieder auf:

Those blessèd structures, plot and rhyme -
why are they no help to me now
I want to take
something imagined, not recalled?
I hear the noise of my own voice:
The painter's vision is not a lens,
it trembles to caress the light.
But sometimes everything I write
with the threadbare art of my eye
seems a snapshot,
lurid, rapid, garish, grouped,
heightened from life,
yet paralyzed by fact.
All's misalliance.
Yet why not say what happened?
Pray for the grace of accuracy
Vermeer gave to the sun's illumination
stealing like the tide across a map
to his girl solid with yearning.
We are poor passing facts,
warned by that to give
each figure in the photograph
his living name.

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