Montag, 18. August 2014

Eufemia


Friedrich XV., Herzog von Weißenfels, hatte seine Regierungsgeschäfte für heute erledigt, das heißt, er hatte seine schwungvolle Namensunterschrift unter ein halbes Dutzend Dokumente gesetzt und lehnte sich nun mit einem Gähnen in den bequemen Sessel vor seinem Schreibtisch zurück, das vielleicht unfürstlich, aber menschlich durchaus berechtigt war. Er durfte sich das gestatten, weil er sich allein in seinem Arbeitszimmer befand; er richtete dabei die Frage an das Schicksal, was er nun machen solle. Die durch seine Person vereinigten Herzogtümer von Weißenfels älterer und jüngerer Linie bezeichneten auf der Landkarte Deutschlands einen Flecken, den man bequem mit einem Fünfpfennigstück zudecken konnte; mithin war das »Regieren« derselben eine Arbeit, die sich im Maximalfalle über die Dauer einer Stunde pro Tag beim besten Willen nicht ausdehnen konnte. Die Residenzstadt mit ihrem imposanten Schlosse war ein kleines, verträumtes Nest, in dem das gesamte Militärkontingent des Landes in der Stärke eines ›Leib-Regimentes‹ Infanterie sein denkbar Möglichstes tat, um etwas Leben hineinzubringen. Der Hofstaat beschränkte sich auf wenige Hofchargen; die Empfänge im Schlosse waren Ereignisse, die sich unter dem Titel von zwei oder drei Hofbällen im Winter und ebensoviel Hofgartenkonzerten im Sommer in weiser Beschränkung abspielten. Man konnte also nicht behaupten, daß der Herzog und seine Gemahlin unter der Last ihrer Pflichten hätten zusammenbrechen müssen.

Friedrich XV., ein junger Mann, gähnte nochmals, daß Fafner, der Lindwurm in der Neidhöhle, ein Waisenknabe dagegen war, streckte seine langen Beine länger aus und murmelte:
     »Was tun, spricht Zeus? Hm – tja! – reiten? Wenn man nur nicht immer diesen langweiligen, steifleinenen Adjutanten mitnehmen müßte! Verdirbt einem die ganze Landschaft, der Mensch – – was? Schon gleich fünf Uhr? Na, da wird man erst mal bei Elisabethchen 'ne Tasse Tee pietschen und sich dabei mit der schönen Theo 'n bißchen raufen.«
      »Elisabethchen« aber war die reizende junge Gemahlin des Herzogs, und die »schöne Theo«, ihre Freundin, Gräfin Theodora Zimburg, die eben auf Besuch anwesend war. Wenn der Herzog mit dem Epitheton ornans »schön« eine gewisse Bewunderung ausdrückte, so darf man daraus beileibe keine falschen Schlüsse ziehen; denn er meinte das ganz im platonischen und harmlosen Freundschaftssinne. Friedrich XV. hatte seine Gemahlin aus reiner Liebe geheiratet. Er hatte sie auf einem Hoffeste in Berlin gesehen und ohne zu ahnen wer sie war, sich sofort sterblich in sie verliebt. »Die oder keine!« hatte er sich beim Anblick der anmutigen jungen Dame im Gefolge der Kaiserin gelobt, und – »sie und keine andere« wurde seine Frau.

Der Erste Weltkrieg geht zu Ende, als dieser Roman erscheint. Ich musste dieses Bild des englischen Malers Stanley Spencer aus dem Jahre 1918 mal eben hierher stellen, um den Text da oben etwas zu verfremden. Es ist der Anfang des Romans Der Amönenhof der Autorin Anna Eufemia Carolina von Adlersfeld-Ballestrem. Wenn man so etwas schreibt, dann muss man Eufemia heißen, was anderes geht nicht. Die Gräfin wurde heute vor 160 Jahren geboren, das sollte uns einen kleinen Post wert sein. Der Krieg kommt übrigens in dem Roman der Erfolgsautorin nicht vor, in dieser Art Literatur kommt er selten vor.

Und natürlich gibt es ein happy ending, das muss sein: »Bravo!« rief Reudnitz mit ehrlicher Zustimmung. »Und«, setzte er mit einem Seufzer hinzu, »und was kriege ich als Finderlohn für den echten Schatz und diesen durchaus nicht zu verachtenden – Krempel?« »Unbeschränkte, aus wahren Freundesherzen freudigst gebotene Gastfreundschaft im Amönenhof!« erwiderte Theo herzlich, und umarmte den alten Herrn, der sich's schmunzelnd gefallen ließ, zum zweiten Male an diesem schönen, ereignisreichen Sommermorgen, dessen strahlender Sonnenschein in dem erblindeten Silber und den funkelnden Edelsteinen des Zimburger Familienschatzes sich lange nicht so herrlich spiegelte als in den vier Augen von zwei überglücklichen Menschenkindern.

Irgendwie ist das alles zu schön, aber es ist natürlich auch unfreiwillig komisch. Vielleicht sogar selbstironisch. Kleine Residenzen, die auf der Landkarte Deutschlands einen Flecken, den man bequem mit einem Fünfpfennigstück zudecken konnte ausmachen, sind ja nichts Unbekanntes in der deutschen Literatur. Neun Jahre vor dem Amönenhof hatte Thomas Mann Königliche Hoheit geschrieben, für den Roman soll er sich Ludwigslust (das ➱hier einen Post hat) als Vorbild genommen haben. Am besten gefällt mir die Residenzstadt in Raabes Abu Telfan (und für Wilhelm Raabe Fans habe ich mit ➱Wilhelm Raabe und ➱Hecken natürlich schon Posts in diesem Blog).

Mit dem, was die Gräfin schreibt, ist sie nicht unbedingt originell, sie ist eine Nachfolgerin der Marlitt, die das Hofleben auch zum Thema ihrer Gartenlaube Romane machte. Und Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem hat auch Konkurrentinnen bei dieser Sorte von Schmonzetten wie die Gräfin Valeska Bethusy-Huc, Wilhelmine Heimburg oder Elisabeth Bürstenbinder. Na ja, Hedwig Courths-Mahler wollen wir nicht vergessen. Frauen schreiben für Frauen, und beschreiben eine Welt, die die meisten ihrer Leserinnen nie gesehen haben. Ein Autor der Wiener Bildungsarbeit urteilt 1929 über das Publikum dieser Romane: Das werden brave Lohnsklaven bleiben, denen mit Schund und Kitsch solcherart das Gehirn verkleistert und der bürgerlich-kapitalistische Geist eingeimpft wird. Die Ausgaben der Unternehmer für diese Büchereien werden sich reichlich bezahlt machen.

Gero von Wilpert hat in seinem Lexikon der Weltliteratur keinen Eintrag für Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem, und die Datenbank von Zeno hat keine Texte von ihr. Aber das Projekt Gutenberg hat drei Texte von ihr: ➱Almönenhof, ➱Rosazimmer: Ein Venezianischer Roman und ➱Der Maskenball in der Ca' Torcelli. Man kann ihre Romane heute noch antiquarisch finden, mein Exemplar von hat mich bei Amazon Marketplace 12 Cent gekostet. Ich muss gestehen, von Zeit zu Zeit liebe ich so etwas. Ich bin mit den Romanen aufgewachsen, die der Chefredakteur der Hör Zu Eduard Rhein unter dem Pseudonym Hans-Ulrich Horster schrieb. Das habe ich schon in dem Post ➱Schlittschuhlaufen gestanden.

Es ist ein schmaler Grat zwischen Roman und Trivialroman. Manche Romanwelten von ➱Theodor Fontane sind von der Welt der Frau von Adlersfeld-Ballestrem verschieden. Karlheinz Gärtner, der eine Dissertation mit dem Titel Theodor Fontane. Literatur als Alternative: Eine Studie zum 'poetischen Realismus' in seinem Werk geschrieben hat, hat das mit einem Satz schön auf den Punkt gebracht: Man kann Trivialromane gegen den Strich lesen, man kann sie aber auch gegen den Strich schreiben, das tat Fontane.

Eine Literatur zwischen den Romanen von Fontane und denen der Gräfin von Adlersfeld-Ballestrem hat es früher noch gegeben, sie scheint heute verloren gegangen zu sein. Ich zitiere dazu mal eben einen Absatz, der schon in dem Post ➱Familiengeschichte stand: Der Familienroman ist eine Gattung, bei der Literaturhistoriker immer zuerst an die Marlitt und Hedwig Courths-Mahler denken müssen. Doch es geht auch anders, wie uns Theodor Fontane gezeigt hat. Oder Thomas Mann, der mit den Buddenbrooks den Familienroman aus dem 19. in das 20. Jahrhundert rettete. Und da hat diese Romangattung - literaturhistorisch gesehen - in den zwanziger und dreißiger Jahren durchaus eine Blütephase. 1928 erscheint mit Swan Song der letzte Teil von ➱John Galsworthys Forsyte Saga, gleichzeitig schreibt in Frankreich ein anderer Nobelpreisträger, Roger Martin du Gard, seine Familiensaga Les Thibaults. Und in Deutschland erscheinen mit Gertrude Hamers (=Mervyn Brian Kennicott) Die Geschichte der Tilmansöhne und den Barrings ihres ostpreußischen Landmanns William von Simpson zwei gewichtige Exemplare der Spezies Familienroman. Und dann sollte ich Otto Flake nicht vergessen (zu dem es ➱hier einen Post gibt).

Unsere Gräfin hat auch eine Reihe von Detektivromanen geschrieben (➱Gedichte natürlich auch), die mit Dr. Franz Xaver Windmüller einen Helden haben, der seine Fälle im aristokratischen Milieu löst. Wo sonst. Und sie hat 1899 auch ein Benimmbuch verfasst, das eine Vielzahl von Auflagen erreichte (und aus dem auch zahlreiche andere Autoren immer wieder abgeschrieben haben). Ein Werk wie der Katechismus des guten Tons und der feinen Sitte hat Theodor Fontane natürlich nicht geschrieben, wenn er auch mit Unterm Kirschbaum eine Art Kriminalroman geschrieben hat. Zu allen Dingen des Lebens hat unsere Eufemia hier etwas zu sagen. Zum Beispiel zu Taschentüchern: 

Heutzutage würde man einen gebildeten Menschen, der sich keines Taschentuches bedient, für gesellschaftlich unmöglich erklären. Was das Taschentuch selbst anbelangt, so sei es von Mittelgröße; ein Herr wähle es von feinem Leinen oder Batistleinen mit weiß gezeichnetem Monogramm in der einen Ecke; den Damen allein bleibe es überlassen, feine Batisttücher mit Spitzen oder Stickereien verziert zur Gesellschaftstoilette zu tragen. Mit breiten, bunten Rändern, Hufeisen, Pferdeköpfen und anderen monströsen Dingen bedruckte Taschentücher sind unfein und geschmacklos. Es würde die Gräfin wahrscheinlich beruhigen, wenn ich gestehe, dass ich immer ein weißes Taschentuch eingesteckt habe. Wenn ich ausgehe, sind es zwei. Es könnte ja sein, dass man blonde Frauen nach Hause begleitet, die ihre schwarzen high-heels zu groß gekauft haben. Passiert selten, aber passiert. Ich habe die Geschichte schon hier erzählt.

Die linke der beiden Damen, die auf dem Bild (im zweiten Absatz) von Peder Severin Kröyer lustwandeln, ist Anna Ancher, von der auch die Bilder im Text sind. Mit allen diesen Frauen, die sich von uns abwenden. Die dänische Malerin wurde auch an einem 18. August geboren, sie ist fünf Jahre jünger als die schlesische Gräfin. Ihr Leben hätte aber nicht für einen Roman unserer Eufemia getaugt. Das Leben ihrer Freundin Marie Kröyer, die neben ihr in der heure bleue am Strand von Skagen spazierengeht, das hätte schon für einen solchen Roman getaugt. Man kann es mittlerweile als Film sehen, Bille August hat es als Balladen om Marie Krøyer verfilmt. Wenn Sie Dänisch, Schwedisch oder Norwegisch können, sind Sie fein heraus. Für alle anderen bleiben die englischen Untertitel. Man kann aber auch den Ton abschalten - es sind wunderbare Bilder. Mit einer Schauspielerin (Birgitte Hjort Sørensen), die schon beinahe die schöne Marie Krøyer ist.


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