Hafenstädte haben meistens eine Nikolaikirche und eine Hafenstraße. Eine ▹Nikolaikirche hatte mein Heimatort nicht, eine Hafenstraße schon. Genaugenommen ist es die Alte Hafenstraße, sie hieß aber früher nur Hafenstraße. Die Umbenennung ist wahrscheinlich für die Touristen gemacht worden. Unser Hafen ist auch sehr alt (heißt allerdings nicht Alter Hafen), es ist der älteste künstlich angelegte Hafen in Deutschland. Beinahe 400 Jahre alt.
Ist allerdings nicht von Vegesackern gebaut, das waren die Holländer. Die haben so etwas heraus. Sie können ▹licht en lucht malen (was ihnen Carl Justus Harmen Fedeler mit seinem Bild von Vegesack abgeguckt hat) und kleine Jungens den Finger in den Deich stecken lassen. Sonst gibt es da ja nur Tomaten und Wohnwagen. Grünkohl können sie auch nicht, das wusste schon Otto Jägersberg, als er ▹Grünkohl für Holland schrieb. Wenn man einen so alten Hafen hat wie wir in Vegebüddel, dann braucht man eben eine Alte Hafenstraße. Die hat sogar einen Wikipedia ▹Eintrag. Ich führe Sie einmal durch die Straße, und wenn wir an der kleinen Kurve neben dem ehemaligen Roxy Kino angekommen sind, erzähle ich diese kleine Geschichte, die ich schon immer einmal erzählen wollte.
Die etwas mit dem schlechten Ruf zu tun hat, den Hafenstraßen im Allgemeinen haben. Das da oben im ersten Absatz ist unsere Alte Hafenstraße bei Nacht. Und was ist los? Gar nix. Wir sind nicht in St Pauli oder in Bremerhaven, von wo dieses Photo stammt. Vor siebzig Jahren, als wir noch amerikanisch waren, hätten hier Plakate mit dem Satz VD walks this street tonight hängen können.
Ich weiß, wie es in Hafengegenden aussieht. Nicht weil ich da verkehrte, sondern weil ich früher mal in den Semesterferien Bierfahrer für den Getränkehandel war, den einst Kapitän ▹Louis Wieting begründet hatte (darüber steht schon etwas in dem Post ▹preloved). An den Tagen, wo man die Lokale des Puffs belieferte, bekam man vom Chef vorher detaillierte Anweisungen: Da bringste keine Buddel Jägermeister und kein' Kassen Sekt rein, bevor die nich Käsch gezahlt haben. Und lass' die Finger von die Rothaarige.
Hier fängt die Alte Hafenstraße an - oder hier hört sie auf. Wir stehen auf dem Utkiek, links ist das Fährhaus, wo ich 1962 zusammen mit meinem Freund Charlie dem Kneipier Konnie Krämer geholfen habe, alles ▹wasserdicht zu machen. Rechts ist das Havenhaus, das ebenso wie der Hafen aus dem 17. Jahrhundert stammt. Da haben wir unser Abitur gefeiert, und da findet (meistens ohne mich, wie Sie ▹hier lesen können) immer das Klassentreffen der Lateinklasse statt. Sie können auch sehen, dass die Straße sehr schmal und sehr winklig ist, deshalb ist sie der ideale Ort für die Lastwagenfahrschulen der Bundeswehr. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal einen MAN 5-Tonner gefahren haben, also das Modell mit nicht synchronisierter Schaltung. Zwischengas ist ja ein Begriff, der heute beinahe aus der Sprache verschwunden ist.
Sie können auch sehen, dass hinter dem Fährhaus in der Hafenstraße schon wieder eine Kneipe ist. Und links vom Fährhaus ist wieder eine Kneipe (oder waren es zwei?), die den berühmten Vegesacker Jungen an der Mauer hat. Der Vegesacker Junge war auch 1921 auf dem Vegesacker Notgeld zu sehen. Dazu hatte Georg Droste, dessen Ottjen Alldag Bücher ich alle gelesen habe, gedichtet: Manch Janmaat stöhnde fröher mal Se fägen Sack un Büdel kahl; nun fägt die sware Not all lang! Doch wie in Väsack sünd nich bang. Rechts vom Havenhaus ist übrigens auch eine Gaststätte, die den Namen Grauer Esel hat. Wir haben hier auf circa 50 Meter fünf Kneipen (na ja, das Havenhaus ist natürlich keine Kneipe, sondern ein Restaurant), und wenn man damals die Kneipen im Ort durchzählte und sie in Relation zu den Bewohnern setzte, kam man auf erstaunliche Zahlen. Was natürlich etwas mit der Hafenstadt Vegesack zu tun hat, mit Seeleuten und Werftarbeitern.
Denn damals lag hier noch die größte Heringsloggerflotte Europas (es gab im Hafen auch ein Dock zur Reparatur der Logger), und die Werft von Friedrich Lürssen parkte den Hafen voll mit ▹Schnellbooten und ▹Minenlegern. Die Heringsfischerei zieht seltsames Gelichter an, der Job wird relativ gut bezahlt. Und viele waren froh, nach dem Krieg überhaupt einen Job zu haben. Das hat mir auch mein Kieler Schuster ▹Horst Dworak erzählt, der lange auf einem Logger fuhr, bevor er Schuhmachermeister wurde. Er wollte mir von der Härte des Heringsfangs erzählen, als ich ihn unterbrach und sagte, dass ich aus Vegesack käme.
Da wusste er, dass er mir nichts zu erzählen brauchte und dass wir wieder über Schuhe reden konnten. Sagte aber noch: Mein Kapitän kam auch aus Vegesack. Alle Kneipen rund um unseren Hafen leben von den Seeleuten, die hier den Vorschuss auf ihre erste Heuer verprassen. Manche von denen fallen gleich beim Anbordgehen von der Gangway. Der Bremer Wirtschaftssenator Hermann Wolters (der schon in den Posts ▹Alfred Wallis und ▹Lederjacken eine sehr, sehr unrühmliche Rolle spielt) wollte einmal seine Volkstümlichkeit dadurch beweisen, dass er auf einem Logger mitfuhr. Er kam bis zum ▹Leuchtturm Rote Sand, wo er von einem Kreuzer der ▹DGzRS von Bord geholt wurde. Alkoholvergiftung. Wenige Jahre später zerlegte er mit seinem Auto mit 2,48 Promille drei parkende Autos und eine Straßenlaterne, und dann kam die Sache mit dem Bonner Bordell. Aus Gesundheitsgründen ging er danach mit einer ärztlich bescheinigten Dienstunfähigkeit mit 54 Jahren mit vollen Bezügen in den Ruhestand, nichts von seinem skandalösen Leben findet sich in seinem Wikipedia Artikel. Am 5. Mai 1969, als die kleine Bremer BVG Revolution vorbei war, sprach der Senator a.D. Hermann Wolters im Bremer Gewerkschaftshaus über politischen Dilettantismus. Wenn irgend jemand etwas davon versteht, dann ist er es. Aber er war seiner Zeit voraus, er machte schon damals für all seine Skandale die Presse verantwortlich.
Damals legten auch noch kleine Kutter mit frischem Fisch im Hafen an. Jeden Donnerstagnachmittag wurde ich zum Hafen geschickt, stand in der Schlange an. Man hat keine Wahl zwischen Dorsch oder Kabeljau. Man nimmt das, was da ist. Der Fisch wird in eine Zeitung geklatscht und fertig isses. Die Zeitung balanciere ich dann vorsichtig nach Hause, aber ich kann die Zeitung halten, wie ich will, es läuft immer etwas Fischiges heraus. Ich hasste den Donnerstagnachmittag, und ich hasste den Fisch, der am Freitag auf den Tisch kam. Das habe ich wohl schon in dem Post ▹Heringe gesagt.
Natürlich gibt es im Ort auch viele Kapitäne: Von Vegesack ist zu erwähnen, das ist ein Ort mit Kapitänen, die von ihrer Arbeit ruhn, und ansonsten gar nichts tun. Der Spottvers ist um 1900 entstanden, im 19. Jahrhundert lebten mehr als die Hälfte aller Bremer Kapitäne in Vegesack. Damals wollte jeder Seemann auf Bremer Schiffen fahren, die Heuer war besser, die Besatzung hatte mehr Rechte, die Schiffe waren besser. Heute ist das ▹Ausflaggen von Seelenverkäufern, die keinen Test des Germanischen Lloyds bestehen würden, nach ▹Panama ja die Regel. Wenn man damals ein Bremer Schiff mit der Speckflagge kommandierte, musste man Bremer Bürger sein, mindestens drei Jahre. Sonst wurde man auch nicht zur ▹Schaffermahlzeit eingeladen.
In Vegesack kostete der Bürgerbrief die Hälfte von den Bremer Gebühren, und die Sache mit den drei Jahren wurde auch nicht so eng gesehen. Häufig genügte die Absichtserklärung, Bremer Bürger werden zu wollen. Außerdem konnte man in Vegesack auch leichter ein Haus finden. Am liebsten oben in der Weserstraße, wo man einen Blick über die Weser ins Oldenburger Land hat. Aber es gab auch Kapitäne, die in der Hafenstraße wohnten. ▹Kapitän Hugo Gottsmann, der schon häufiger hier genannt wurde, wohnte in einem schönen weißen neoklassizistischen Haus in der Hafenstraße 16. Der Landeskonservator Rudolf Stein erwähnt das in seinem Standardwerk Klassizismus und Romantik in der Baukunst Bremens mit Wohlgefallen.
Das bekannteste Gebäude der Hafenstraße hat den Namen KITO (das ist jetzt kein Tippfehler, es hat nichts mit einer Kita zu tun), hier saß mal eine Verpackungsfirma, die Kisten aus Wellpappe herstellte und die den schönen Namen Kistentod hatte. Heute ist es ein Museum für die Bilder von dem Worpsweder Maler Fritz Overbeck (Sie können mehr dazu in den Posts ▹Fritz Overbeck und ▹Wuddel lesen) und ein Ort für kulturelle Veranstaltungen. Das Packhaus ist um 1800 entstanden, man hat es neuerdings richtig aufgerüscht. Es gibt noch ein ähnliches Haus in der Hafenstraße, in dem heute ein Fechtclub ist.
Natürlich ist es schön, dass die Bilder von Fritz Overbeck, der ja von Worpswede nach Vegesack gezogen war, einen Platz gefunden haben, an dem sie gut zur Geltung kommen. Es ist viel Licht auf dieser Etage des Speichers, mehr Licht als in manchen Ausstellungsräumen in ▹Worpswede oder Fischerhude. Es ist auch schön, dass aus dem etwas vergammelten Packhaus ein Kulturzentrum geworden ist.
Aber das täuscht natürlich darüber hinweg, dass man rundherum den alten Ortskern abgerissen hat (auch das Haus, das sich der Architekt ▹Ernst Becker-Sassenhof am Strand gebaut hatte, ist inzwischen abgerissen, nur das Haus vom ▹Ruderverein daneben steht noch). Ein Trümmerfeld von abgerissenen Häusern war entstanden. Ich habe das alles photographiert, Kartons voll in Schwarzweiß und Farbe. Nichts davon ist im Internet zu sehen. ▹Günther Schwarberg hatte damals im Stern mit großer Trauer über den Abriss des Ortes berichtet, Teile der Reportage sind auch in seine Autobiographie Das vergess ich nie: Erinnerungen aus einem Reporterleben gewandert. Schwarbergs Vater war ein Kollege meines Opas, sie mochten sich nicht. Schwarberg war Sozialdemokrat, mein Opa trauerte immer noch seinem Kaiser nach.
Zugegeben, was in Vegesack passiert ist, war nicht schön, stand später auf einem Wahlplakat. Darüber war das Konterfei dieses Herrn zu sehen. Der Bürgermeister Hans Koschnick hat irgendwie den Status eines Bremer Nationalheiligen bekommen, wenn man an seine klägliche Rolle bei den Bremer Straßenbahnunruhen denkt (lesen Sie ▹hier dazu mehr), ist mir das unverständlich. Dass aus der Sache mit dem vierspurigen Autobahnzubringer zur Fähre (die der Vorwand für den Abriss des Hafenviertels war) nichts werden konnte, war allen Vernünftigen klar. Wenn die SPD mit sogenannten Stadtplanern, Neue Heimat, Gewoba und Immobilienhaien paktiert, dann kommt da nie etwas Gutes raus.
Da braucht man sich nur mal die Karriere von Richard Boljahn (hier rechts, zusammen mit dem Architekten Max Säume, bei der Inspektion der Bauarbeiten der Neuen Vahr) angucken. Das Photo habe ich in einem Buch von Nils Aschenbeck gefunden, und die informativen Seiten von ▹Bremen History möchte ich auch noch erwähnen.
Wenn alles kaputt ist, dann kommen diese Leute, die alles schönreden. Wie dieser Wendelin Seebacher, dessen Vegesack Buch im Wikipedia Artikel erwähnt wird. Ich konnte den Typ überhaupt nicht ausstehen, aber er hat meine Mutter so lange bequatscht, bis sie ihm die Abdruckgenehmigung für ein von ihr entworfenes Bleiglasfenster gegeben hat. Wendelin Seebachers Schwester Brigitte habe ich auch mal kennengelernt, aber dazu möchte ich jetzt lieber nichts sagen. Das ist die, die Willy Brandt geheiratet hat (und danach den Peanuts Kopper von der Deutschen Bank). Rut Brandt hatte Stil, Brigitte Seebacher aus Twistringen definitiv nicht. Willys Sohn Matthias hat mal gesagt: Seebacher ist das Grauen, ich kann das verstehen.
Dem Haus Hafenstraße 23 hat man bei dem Abriss der Hafengegend keine besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Heute erinnern vier ▹Stolpersteine vor einem seelenlosen Neubau daran, dass dies eines der Judenhäuser Bremens war. Und dass die Familien von Jacob Wolff und Simon de Jonge hier wohnten, bis sie in KZs gebracht wurden. Der Pastor Ingbert Lindemann, mit dem ich in der Evangelischen Jugend war, hat an dem Buch Stolpersteine in Bremen mitgearbeitet und über die Juden in Aumund das Buch Die H. ist Jüdin! Aus dem Leben von Aumunder Juden nach 1933 geschrieben (das steht schon in dem Post ▹Langeoog, und in dem Post über den Vegesacker Kriegsverbrecher ▹Walter Többens findet sich ein Photo von dem Anschlag auf die Aumunder Synagoge). Bis auf die Seite der Landeszentrale für Politische Bildung sind viele Seiten wie die der Internationale Friedensschule Bremen, private Initiativen. Die häufig auch viel informativer (wie ▹hier zu dem Kaufmann Jacob Wolff) sein können, als die offiziellen Seiten der Stadt.
Wir sind hier noch auf der Höhe der KITO, blicken aber jetzt einmal auf die Weser. In dem weißen Haus ganz hinten saß ein Milchmann, der ein ▹Goliath Dreiradauto hatte. Bei dem kauften wir nie, weil er in der Nachkriegszeit Wasser in die Milch panschte. Meine Mutter hatte ihn angezeigt, er musste damals für drei Monate ins Gefängnis. Und guckte mich später immer hasserfüllt an, wenn er mich sah. Wir kauften eigentlich nur bei dem Milchmann Martin Bogaczinski aus der Breiten Straße, der mit dem Pferdewagen kam, der wäre nie auf solche Ideen gekommen. Das Haus auf der linken Seite, das weit in die Straße hineinsteht, ist die Segelmacherei Hinrich Meyerdierks. Gegenüber war ein Laden für Marineuniformen der Handelsmarine, wo es aber auch gute ▹Chinos und furchtbare Jeans gab. Also die Nietenhosen von Herrn ▹Sefranek, da war es schon gut, wenn man jemanden kannte, der einen Zugang zu einem ▹PX Laden hatte.
Bei ▹Meyerdiercks bekam man alles, was man brauchte, Schäkel und Marlspieker und so etwas. Hier hätte ich einen neuen Marlspieker kaufen können, als mir der von Hugo Gottsmann über Bord gefallen war. Aber das geht natürlich nicht: eine Legende der Segelschiffahrt wie Hugo Gottsmann musste ihren alten Marlspieker wiederhaben. Ich habe eine halbe Stunde getaucht, bis ich ihn fand. Der Laden von Meyerdierks sah innen aus, als ob sich seit dem 19. Jahrhundert hier nichts verändert hätte. Als Segelmacherei hatte Meyerdierks in den sechziger Jahren keinen so großen Ruf mehr, da war die Segelmacherei von Friedrich Beilken (ursprünglich auch in der Hafenstraße, aber dann nach Lemwerder verlegt) berühmter. 1919 hatte sich Beilken nach einem Lotteriegewinn seiner Frau selbständig gemacht. Damals nähte er noch braune lohgegerbte Segel für die Torfkähne des ▹Teufelsmoors, seine Nachfahren werden High Tech Segel für Admiral's Cupper herstellen.
Die Beilkens kommen schon in den Posts ▹Segelschiffe und ▹Saudade vor. Die Firma Beilken Sails gibt es immer noch, aber sie gehört nicht mehr den Beilkens. Und die Flasche Whisky, die Antje Beilken mir vor Jahrzehnten versprochen hat, die habe ich auch nie bekommen. Einer der Beilkens war kein Segelmacher, der war Lehrer und Heimatforscher. Zusammen mit Hanna Borcherding hat sich Heinrich Beilken sehr für den Stadtgarten eingesetzt, der einmal der Garten von ▹Albrecht Roth war. Und diesem Beilken verdanken wir auch die riesigen Walkiefer, die seit 1963 am Utkiek stehen. Sie waren schon sehr morsch geworden und wurden 1987 durch eine Bronzenachbildung ersetzt, dafür hat mein Freund ▹Peter vom Landesamt für Denkmalschutz gesorgt.
Ich hätte gerne ein Photo von der Sonnen Apotheke aus dem Jahre 1830 mit der goldenen Sonne über der Eingangstür und der riesigen Platane im Garten gehabt, aber es gibt keins im Internet [jetzt habe ich doch ein Photo, weil mir Ingbert Lindemann freundlicherweise eins geschickt hat]. Es gibt die Apotheke auch nicht mehr, alles perdu. Die Gattin des Apothekers Ferdinand Stümcke war eine Tochter von Johann Friedrich Schröder, der mit seinem Kompagnon Hermann Danziger eine Branntweinbrennerei und Geneverfabrik betrieb.
Mit dem Fusel konnte man offensichtlich sehr reich werden, ▹Villen wie die ▹Lürssen Villa in der Weserstraße und die Leffers Villa in der Jaburgstraße (heute der ▹Kindergarten der Kirche) zeugen davon. Wenn die Apotheke schon nicht mehr da ist, die Heissmangel daneben gibt es immer noch, das ist richtig rührend. Ist aber wohl allein deshalb nicht abgerissen, weil das Haus an dem 1831 gebauten denkmalgeschützten Kontor- und Lagerhaus der Firma Lange dranklebt.
Wir beenden an dieser Stelle (Hafenstraße 22), wo ein Haus in die Fahrbahn hineinragt (da kommt ein Fahrschüler mit dem MAN 5-Tonner schon ins Schwitzen), einmal unseren Spaziergang durch die Hafenstraße. Sonst müsste ich noch die Firma Thiele erwähnen, deren Besitzer Bernd Hockemeyer das Landhaus von Arnold Duckwitz hat abreißen lassen (lesen Sie ▹hier mehr), und dann würden die Beleidigungen gar nicht mehr abreißen.
Das Haus, das in die Straße hineinragt (hier ein besseres Photo), ist Brockmanns Hotel, das um 1900 einen guten Ruf hat. Es wird neben Strandlust und ▹Bellevue in vielen Reiseführern erwähnt: Außerdem sind zu empfehlen Havenhaus am Hafen und Brockmanns Hotel beim Bh. (beide mit Ausschank von Pilsener Bier). Etwas Nettes im hinteren Teil der Hafenstraße sollte ich unbedingt noch erwähnen: es gibt das Feinkostgeschäft Scharringhausen immer noch. Und noch viel feinkostiger. Die hatten ja mal als Schiffsausrüster angefangen und sich dann auf geräucherte Heringe verlegt, jetzt haben sie auch noch ein Bistro und einen Internetversand.
Brockmanns Hotel wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein Kino, das Roxy hieß. Sah nicht so großartig aus wie dieses Roxy hier, hieß aber auch so. Kinos heißen aus ungeklärten Gründen immer Roxy oder Scala. So wie Hotels früher ▹Bristol hießen. Eine Scala hatten wir auch, oben in der Breiten Straße. Die Scala gehörte einem gewissen Herbert Bereit; das Roxy auch, aber er versuchte zu vermeiden, dass das bekannt wurde. Die Scala hatte über tausend Plätze, das Roxy, das ein wenig versuchte, ein ▹Filmkunsttheater zu sein, hatte weniger Plätze. Neben der Scala in der Breiten Straße war auch noch eine Kneipe, wo scheinbar nur Schüler des nahegelegenen Gerhard Rohlfs Gymnasiums verkehrten. Da ist mir mal mein geliebter ▹Tweedmantel geklaut worden, danach bin ich da nie wieder drin gewesen.
Die Erwähnung des Gymnasiums, auf dem weder der Kinobesitzer Herbert Bereit noch sein Sohn, mit dem ich zur Volksschule ging, waren, ist an dieser Stelle wichtig. Denn die kleine Geschichte, die ich erzählen wollte, hat mit zwei Schulfreunden zu tun. Sie sind keine wirklichen Freunde, sie kommen nur aus dem selben Ort und waren auf der selben Schule. Und sitzen jetzt im Flieger nach Berlin nebeneinander. Beide sind Politiker, CDU und SPD. Der eine ist Staatssekretär in irgendeinem Ministerium, der andere weit oben im Establishment seiner Partei (sie sollen beide ohne Namen bleiben, sonst lacht über den einen heute ganz Deutschland). Und so etwas wie dies hier brauche ich auch noch. So eine Bar, wo alles ganz verworfen ist. Dies ist allerdings ein Photo von dem schwedischen Photographen Anders Petersen, das nicht in der Bar neben dem Roxy gemacht wurde.
Mehrere Lokale in der Hafenstraße, die sich jetzt gut amerikanisch Bar nennen, haben einen üblen Leumund. Da konnte man Typen sehen, die genau so aussahen, wie man sich die Unterwelt vorstellt. Sie haben einen großen amerikanischen Schlitten (wieder so ein Wort, was jetzt aufkommt), beinahe immer second hand von einem G.I. gekauft. Am liebsten einen Cadillac in weiß, pink oder neongrün. Sie tragen auffällige Jacketts (die man nicht bei ▹Kass kaufen kann), Schlipse mit Bikinischönheiten drauf und haben gegeltes langes Haar. Der Look hält sich mit Variationen noch lange in diesen Kreisen.
Doch diese kleine Vegesacker Rotlichtszene ist in der Geschichte des Ortes nichts Neues, die überproportional zahlreichen Kneipen der kleinen Hafenstadt leben seit Jahrhunderten davon, dass Seeleute hier ausgenommen werden. Das nicht ganz ernst gemeinte Stadtwappen Vegesacks zeigt einen Matrosen, der mit Händen und Taschenfutter beweist, dass er nichts mehr in den Taschen hat. Jetzt sind die amerikanischen Besatzer hier. Und die professionellen Frolleins, die Nazi Gretchens. Der Drang der Natur und die Fraternisation sind ein Problem für Besatzungsmacht und Behörden. Meine Eltern sehen das nicht so gerne, dass unser Hausmädchen einen G.I. als Freund hat. Aber wenn der gerade pensionierte amerikanische Stadtkommandant, der Admiral Charles R. Jeffs, seine Bremer Freundin heiratet und nach Bremen zieht, dann ist das natürlich O.K. Dieses O.K. war eins der ersten englischen Worte, das ich von einem Besatzungssoldaten lernte. Das nächste war shut up. Ich wusste nicht, was das heißt und probierte es zu Hause aus. Hätte ich beinahe was dafür hinter die Löffel gekriegt.
In Bremen soll es jetzt auch fünfundzwanzig weibliche Polizisten geben. Die sind nicht von hier, die sind alle aus dem Rheinland und haben sich auf eine dort erschienene Anzeige gemeldet. Die Bremer Polizei ergreift Ordnungsmaßnahmen gegenüber der Vielzahl der Prostituierten. Für diese Frolleins rücken die Amerikaner sogar das rationierte Penicillin für die Bekämpfung der V.D. heraus. V.D. heißt natürlich veneral disease und nicht Veronika, Dankeschön, was der Volksmund daraus macht (jetzt verstehen Sie auch das VD walks this street tonight aus dem dritten Absatz).
Polizistinnen gibt es bei uns nicht, nur Polizisten mit Tschakos. Nutten soll es bei uns im Ort auch einige geben, die sollen sogar Nylonstrümpfe tragen, ein unvorstellbarer Luxus. Die ersten Maschinen, mit denen man Nylonstrümpfe herstellen kann, sind 1949 im Bremer Hafen angekommen. Aber das bedeutet nicht, dass diese Strümpfe jetzt massenhaft verbreitet wären. Nur auf dem Schwarzen Markt kann man damals viel kaufen, an dem Satz Chesterfield machen meine Schwester wild, ist schon etwas dran.
In diese Bar neben dem Roxy geht nun unser Staatssekretär, so erzählt er das seinem Schulfreund im Flieger nach Berlin, weil er an dem schönen Sommertag eine Cola trinken wollte. Er könnte in der Alten Hafenstraße auf einhundertfünfzig Meter in ein Dutzend Lokale gehen, aber er geht zielsicher in diese Bar. Warum? Als er nun mit seiner angeblichen Cola im Schummerlicht der Bar sitzt, kommt ein Journalist herein. Den kennt unser Staatssekretär. Und plötzlich wird ihm klar (Anagnorisis und Peripetie), dass es seiner Karierre abträglich sein könnte, wenn der Journalist ihn hier sehen würde. Er verschwindet nach hinten in die Dunkelheit. In die Herrentoilette. Klettert auf den Klodeckel und stemmt das Fenster darüber auf. Und zerreißt sich beim Herausklettern die Hose seines Anzugs. Das erzählt ein CDU Politiker einem SPD Politiker. Warum nur? Ein Engländer würde an dieser Stelle sagen: How daft can you get?
Bei ▹Meyerdiercks bekam man alles, was man brauchte, Schäkel und Marlspieker und so etwas. Hier hätte ich einen neuen Marlspieker kaufen können, als mir der von Hugo Gottsmann über Bord gefallen war. Aber das geht natürlich nicht: eine Legende der Segelschiffahrt wie Hugo Gottsmann musste ihren alten Marlspieker wiederhaben. Ich habe eine halbe Stunde getaucht, bis ich ihn fand. Der Laden von Meyerdierks sah innen aus, als ob sich seit dem 19. Jahrhundert hier nichts verändert hätte. Als Segelmacherei hatte Meyerdierks in den sechziger Jahren keinen so großen Ruf mehr, da war die Segelmacherei von Friedrich Beilken (ursprünglich auch in der Hafenstraße, aber dann nach Lemwerder verlegt) berühmter. 1919 hatte sich Beilken nach einem Lotteriegewinn seiner Frau selbständig gemacht. Damals nähte er noch braune lohgegerbte Segel für die Torfkähne des ▹Teufelsmoors, seine Nachfahren werden High Tech Segel für Admiral's Cupper herstellen.
Die Beilkens kommen schon in den Posts ▹Segelschiffe und ▹Saudade vor. Die Firma Beilken Sails gibt es immer noch, aber sie gehört nicht mehr den Beilkens. Und die Flasche Whisky, die Antje Beilken mir vor Jahrzehnten versprochen hat, die habe ich auch nie bekommen. Einer der Beilkens war kein Segelmacher, der war Lehrer und Heimatforscher. Zusammen mit Hanna Borcherding hat sich Heinrich Beilken sehr für den Stadtgarten eingesetzt, der einmal der Garten von ▹Albrecht Roth war. Und diesem Beilken verdanken wir auch die riesigen Walkiefer, die seit 1963 am Utkiek stehen. Sie waren schon sehr morsch geworden und wurden 1987 durch eine Bronzenachbildung ersetzt, dafür hat mein Freund ▹Peter vom Landesamt für Denkmalschutz gesorgt.
Ich hätte gerne ein Photo von der Sonnen Apotheke aus dem Jahre 1830 mit der goldenen Sonne über der Eingangstür und der riesigen Platane im Garten gehabt, aber es gibt keins im Internet [jetzt habe ich doch ein Photo, weil mir Ingbert Lindemann freundlicherweise eins geschickt hat]. Es gibt die Apotheke auch nicht mehr, alles perdu. Die Gattin des Apothekers Ferdinand Stümcke war eine Tochter von Johann Friedrich Schröder, der mit seinem Kompagnon Hermann Danziger eine Branntweinbrennerei und Geneverfabrik betrieb.
Mit dem Fusel konnte man offensichtlich sehr reich werden, ▹Villen wie die ▹Lürssen Villa in der Weserstraße und die Leffers Villa in der Jaburgstraße (heute der ▹Kindergarten der Kirche) zeugen davon. Wenn die Apotheke schon nicht mehr da ist, die Heissmangel daneben gibt es immer noch, das ist richtig rührend. Ist aber wohl allein deshalb nicht abgerissen, weil das Haus an dem 1831 gebauten denkmalgeschützten Kontor- und Lagerhaus der Firma Lange dranklebt.
Wir beenden an dieser Stelle (Hafenstraße 22), wo ein Haus in die Fahrbahn hineinragt (da kommt ein Fahrschüler mit dem MAN 5-Tonner schon ins Schwitzen), einmal unseren Spaziergang durch die Hafenstraße. Sonst müsste ich noch die Firma Thiele erwähnen, deren Besitzer Bernd Hockemeyer das Landhaus von Arnold Duckwitz hat abreißen lassen (lesen Sie ▹hier mehr), und dann würden die Beleidigungen gar nicht mehr abreißen.
Brockmanns Hotel wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein Kino, das Roxy hieß. Sah nicht so großartig aus wie dieses Roxy hier, hieß aber auch so. Kinos heißen aus ungeklärten Gründen immer Roxy oder Scala. So wie Hotels früher ▹Bristol hießen. Eine Scala hatten wir auch, oben in der Breiten Straße. Die Scala gehörte einem gewissen Herbert Bereit; das Roxy auch, aber er versuchte zu vermeiden, dass das bekannt wurde. Die Scala hatte über tausend Plätze, das Roxy, das ein wenig versuchte, ein ▹Filmkunsttheater zu sein, hatte weniger Plätze. Neben der Scala in der Breiten Straße war auch noch eine Kneipe, wo scheinbar nur Schüler des nahegelegenen Gerhard Rohlfs Gymnasiums verkehrten. Da ist mir mal mein geliebter ▹Tweedmantel geklaut worden, danach bin ich da nie wieder drin gewesen.
Die Erwähnung des Gymnasiums, auf dem weder der Kinobesitzer Herbert Bereit noch sein Sohn, mit dem ich zur Volksschule ging, waren, ist an dieser Stelle wichtig. Denn die kleine Geschichte, die ich erzählen wollte, hat mit zwei Schulfreunden zu tun. Sie sind keine wirklichen Freunde, sie kommen nur aus dem selben Ort und waren auf der selben Schule. Und sitzen jetzt im Flieger nach Berlin nebeneinander. Beide sind Politiker, CDU und SPD. Der eine ist Staatssekretär in irgendeinem Ministerium, der andere weit oben im Establishment seiner Partei (sie sollen beide ohne Namen bleiben, sonst lacht über den einen heute ganz Deutschland). Und so etwas wie dies hier brauche ich auch noch. So eine Bar, wo alles ganz verworfen ist. Dies ist allerdings ein Photo von dem schwedischen Photographen Anders Petersen, das nicht in der Bar neben dem Roxy gemacht wurde.
Mehrere Lokale in der Hafenstraße, die sich jetzt gut amerikanisch Bar nennen, haben einen üblen Leumund. Da konnte man Typen sehen, die genau so aussahen, wie man sich die Unterwelt vorstellt. Sie haben einen großen amerikanischen Schlitten (wieder so ein Wort, was jetzt aufkommt), beinahe immer second hand von einem G.I. gekauft. Am liebsten einen Cadillac in weiß, pink oder neongrün. Sie tragen auffällige Jacketts (die man nicht bei ▹Kass kaufen kann), Schlipse mit Bikinischönheiten drauf und haben gegeltes langes Haar. Der Look hält sich mit Variationen noch lange in diesen Kreisen.
Doch diese kleine Vegesacker Rotlichtszene ist in der Geschichte des Ortes nichts Neues, die überproportional zahlreichen Kneipen der kleinen Hafenstadt leben seit Jahrhunderten davon, dass Seeleute hier ausgenommen werden. Das nicht ganz ernst gemeinte Stadtwappen Vegesacks zeigt einen Matrosen, der mit Händen und Taschenfutter beweist, dass er nichts mehr in den Taschen hat. Jetzt sind die amerikanischen Besatzer hier. Und die professionellen Frolleins, die Nazi Gretchens. Der Drang der Natur und die Fraternisation sind ein Problem für Besatzungsmacht und Behörden. Meine Eltern sehen das nicht so gerne, dass unser Hausmädchen einen G.I. als Freund hat. Aber wenn der gerade pensionierte amerikanische Stadtkommandant, der Admiral Charles R. Jeffs, seine Bremer Freundin heiratet und nach Bremen zieht, dann ist das natürlich O.K. Dieses O.K. war eins der ersten englischen Worte, das ich von einem Besatzungssoldaten lernte. Das nächste war shut up. Ich wusste nicht, was das heißt und probierte es zu Hause aus. Hätte ich beinahe was dafür hinter die Löffel gekriegt.
In Bremen soll es jetzt auch fünfundzwanzig weibliche Polizisten geben. Die sind nicht von hier, die sind alle aus dem Rheinland und haben sich auf eine dort erschienene Anzeige gemeldet. Die Bremer Polizei ergreift Ordnungsmaßnahmen gegenüber der Vielzahl der Prostituierten. Für diese Frolleins rücken die Amerikaner sogar das rationierte Penicillin für die Bekämpfung der V.D. heraus. V.D. heißt natürlich veneral disease und nicht Veronika, Dankeschön, was der Volksmund daraus macht (jetzt verstehen Sie auch das VD walks this street tonight aus dem dritten Absatz).
Polizistinnen gibt es bei uns nicht, nur Polizisten mit Tschakos. Nutten soll es bei uns im Ort auch einige geben, die sollen sogar Nylonstrümpfe tragen, ein unvorstellbarer Luxus. Die ersten Maschinen, mit denen man Nylonstrümpfe herstellen kann, sind 1949 im Bremer Hafen angekommen. Aber das bedeutet nicht, dass diese Strümpfe jetzt massenhaft verbreitet wären. Nur auf dem Schwarzen Markt kann man damals viel kaufen, an dem Satz Chesterfield machen meine Schwester wild, ist schon etwas dran.
In diese Bar neben dem Roxy geht nun unser Staatssekretär, so erzählt er das seinem Schulfreund im Flieger nach Berlin, weil er an dem schönen Sommertag eine Cola trinken wollte. Er könnte in der Alten Hafenstraße auf einhundertfünfzig Meter in ein Dutzend Lokale gehen, aber er geht zielsicher in diese Bar. Warum? Als er nun mit seiner angeblichen Cola im Schummerlicht der Bar sitzt, kommt ein Journalist herein. Den kennt unser Staatssekretär. Und plötzlich wird ihm klar (Anagnorisis und Peripetie), dass es seiner Karierre abträglich sein könnte, wenn der Journalist ihn hier sehen würde. Er verschwindet nach hinten in die Dunkelheit. In die Herrentoilette. Klettert auf den Klodeckel und stemmt das Fenster darüber auf. Und zerreißt sich beim Herausklettern die Hose seines Anzugs. Das erzählt ein CDU Politiker einem SPD Politiker. Warum nur? Ein Engländer würde an dieser Stelle sagen: How daft can you get?
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