Ich habe endlich Ihr Selbstporträt gesehen. Das muß ich Ihnen auf alle Fälle sagen, daß es mir einen großen, großen Eindruck gemacht hat. Das ist ein wundervolles Bild. So fein in den Kontrasten, so intim und doch fast dekorativ. Es ist mir das Liebste, was ich bisher von Ihnen gesehen habe. (Wie freue ich mich einmal, bis ich viel mehr kenne, über Ihr Werk zu schreiben!), schreibt Rainer Maria Rilke am 18. Mai 1902 an den Maler Oskar Zwintscher. Er hatte das Bild in der 13. Großen Kunstausstellung des Bremer Kunstvereins in der Bremer Kunsthalle gesehen. Aus dieser Ausstellung heraus hat die Kunsthalle bei Ausstellungsende das Bild auch gekauft. 1902 war Zwintscher ein berühmter Mann. Aber der Ruhm des Mannes, der es versteht, uns die koloristischen und zeichnerischen Experimente der alten Meister, natürlich ins Moderne übersetzt, wieder nahe zu rücken, hat nicht lange gehalten.
Zwintscher ist, Rilkes Einladung folgend, einmal in Worpswede gewesen. Hat dort Heinrich Vogeler, Rainer Maria Rilke und seine Ehefrau Clara Rilke-Westhoff gemalt. Das wusste ich, sonst wusste ich wenig über den Künstler. Jetzt weiß ich mehr, weil mir die Astrid zu Weihnachten den großen Dresdner Zwintscher Katalog Weltflucht und Moderne: Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900 geschenkt hat. Die haben in Dresden vierzig Jahre nach der ersten Nachkriegsausstellung von Zwitscher jetzt wieder eine Ausstellung. Im letzten Jahr war schon das kleine Buch Oskar Zwintscher im Albertinum (Leseprobe) erschienen. Über die neue Ausstellung hat die Direktorin des Albertinums Hilke Wagner gesagt: Es ist für mich eine Aufgabe, dass wir die Kunstgeschichte korrigieren und diesen wunderbaren Maler, der eben lange übersehen wurde, im rechten Licht und im rechten Kontext zeigen.
Das sind große Worte, denn nicht alles im Werk von Zwintscher, den man einmal den sächsischen Klimt nannte, ist wunderbar. Das Dresdner Online Stadtmagazin Cyber Sax hat das etwas genauer formuliert: Der Maler Oskar Zwintscher (1870–1916) gehörte lange zu den Verlierern der alten Fortschrittserzählung der Moderne, wurde seine Kunst doch bis vor einigen Jahren nicht selten als schwüler Jahrhundertwende-Kitsch abgetan. Wenn wir ein Beispiel für den Kitsch brauchen, dann reicht ein Blick auf dieses Bild, das den Titel Gram hat. Das ziert natürlich nicht die Vorderseite des neuen Katalogs, dafür hat man ein wirklich gutes Bild des Malers genommen, der auch ein hervorragender Portraitist ist.
Vorne auf dem Katalog ist dieses Portrait einer Dame mit Zigarette aus dem Jahre 1904. Man weiß leider nicht, wer sie ist. Der Dresdner Online Katalog sagt über das Bild: Von dieser jungen Frau mit offenem Haar, dichten Augenbrauen, vollen Lippen und schlichter, schmuckloser Kleidung geht eine rätselhafte Anziehungskraft aus. Ihr direkter Blick und die laszive Haltung mit übereinandergeschlagenen Beinen lassen auf eine moderne, selbstbestimmte Persönlichkeit schließen, möglicherweise eine Malerin, Sängerin oder Schauspielerin. Diese Annahme wird unterstrichen durch die angezündete Zigarette, die bislang ausschließlich als Symbol für Weltläufigkeit und Männlichkeit galt.
Die dunklen Augen der jungen Frau sind erfüllt von einer unbestimmten Sehnsucht und Melancholie.Immer wieder verwies der Maler in seinen Frauenbildnissen auf dunkle, gedankenschwere Seelenzustände. Die Eindringlichkeit des Bildnisses wird gesteigert, indem Zwintscher das helle, samtige Inkarnat von Gesicht, Hals und Händen sowie das Aschblond der Haare in hellen Tönen im Kontrast zur schwarzen Kleidung und zum schwarzgrauen Hintergrund erstrahlen lässt. Allein die glutrote Zigarettenspitze und das Rot der sinnlichen Lippen setzen Farbakzente.
Das zweite Bild im oberen Absatz ist nicht von Zwintscher, es entstammt einem Projekt namens tussenkunstenquarantaine, wo jedermann bei Instagram Gemälde nachstellen kann. Aber ein Original nachzustellen gelingt selten. Wer hat schon solch ein Handgelenk wie die Dame aus dem Jahre 1904? Die Idee, Kunstwerke nachzustellen, kam in der Corona Zeit vom Getty Museum: We challenge you to recreate a work of art with objects (and people) in your home:
Choose your favorite artwork
Find three things lying around your house
Recreate the artwork with those items
Und dann schicken Sie das Ganze ans GettyMuseum. Oder an tussenkunstenquarantaine. Oder wohin Sie wollen, das Internet nimmt alles. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: suchen Sie sich etwas Einfaches aus. Versuchen Sie nicht Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht nachzustellen.
Die Ausstellung Weltflucht und Moderne: Oskar Zwintscher in der Kunst um 1900 geht noch bis zum 15. Januar (also bis übermorgen), ab März ist sie in Wiesbaden zu sehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen