Mittwoch, 17. Januar 2018

Antarktis


At about a 1/4 past 11 o'Clock we cross'd the Antarctic Circle for at Noon we were by observation four Miles and a half South of it and are undoubtedly the first and only Ship that ever cross'd that line, schreibt Captain Cook. Wir haben den 17. Januar 1773. James Cook kommt in diesem Blog schon in dem Post Marinechronometer vor. Und wir wissen natürlich, dass Chief Inspector Morse den Vornamen Endeavour hat. Den Namen hatte auch das Schiff von Captain Cook, allerdings nicht auf dieser zweiten Reise, da ist es die Resolution. Bei Christoph Martin Wieland liest sich die Geschichte so: Schwere Hagel und Schneeschauer verdunkelten die Luft beständig, und sie sahen sich überall von so großen Eisinseln umgeben, daß dieser Anblick ihnen nun schon eben so gemein war als Wolken und See. Indessen verloren sie doch ihre Bestimmung nie aus den Augen, und lenkten ihren Lauf, sobald die See nur irgendwo etwas freyer und offner war, wieder mehr nach Süden, aber immer mit keinerley Erfolg. Den 17. Januar 1773 passierten sie endlich den antarktischen Zirkel, und traten also in den eigentlichen kalten Erdgürtel der südlichen Halbkugel, der bis dahin noch allen Seefahrern verschlossen geblieben war.

Zwei Jahre später - wieder an einem 17. Januar - betritt Georg Forster als Begleiter James Cooks als erster Deutscher auf Südgeorgien antarktischen Boden. Über das Ereignis hat Georg Forster geschrieben: Hier entfaltete Captain Cook die britische Flagge und führte die Zeremonie der Inbesitznahme dieser unfruchtbaren Felsen durch, im Namen Seiner Britischen Majestät und seinen Erben bis in alle Ewigkeit. Eine Salve von zwei oder drei Musketen wurde abgefeuert. 

Wenn Cook im Namen des englischen Königs George lll Besitz von der lnsel  ergreift, ist es das erste Mal, dass im Bereich der Antarktis Gebietsansprüche geltend gemacht werden. Nach dem Antarktis Vertrag von 1959 sind die Gebietsansprüche allerdings hinfällig. Captain Cook gefällt die ganze Gegend nicht so sehr, das nächste Stückchen von Südgeorgien wird er Cape Disappointment nennen. Den Georg Forster mag ich, ich habe wohl alles gelesen, was er geschrieben hat. Und das meiste, was über ihn geschrieben worden ist. Er hat hier schon einen Post, und er kommt auch in dem Post Johann Adam Ackermann vor, der aus Gründen, die ich nicht kenne, ein richtiger Bestseller ist.

Antarktis, siebzehnter Januar. Zwei Ereignisse, die Geschichte schreiben. Aber es gibt noch mehr: am 17. Januar 1912 erreicht Robert Falcon Scott mit seinen Leuten den Südpol. Nur um festzustellen, dass der Norweger Roald Amundsen bereits einen Monat früher als erster hier gewesen ist. Eintragungen wie The worst has happened, All the day dreams must go und Great God! This is an awful place finden sich in Scotts Tagebuch. Auf dem Rückweg zu ihrem Basislager werden sie alle sterben.

Und dann habe ich da noch etwas Obskures, was auch mit der Antarktis und dem 17. Januar zusammenhängt. Es ist eine Anweisung an die deutsche Presse vom 17. Januar 1939: Ueber die Antarktis-Probleme soll in Zusammenhang mit der deutschen Antarktis-Expedition vorläufig nichts geschrieben werden. Warum nicht? Was ist da los? Warum machen die das alles am 17. Januar? Man könnte da ja einen Roman schreiben. Titel: Schicksalstage der Antarktis. Es wäre schön, wenn ich Frankensteins Monster noch hineinschreiben könnte, aber das verschwindet in der Arktis, nicht in der Antarktis. Irgendwie schade. Ein Monster in einem Roman ist immer gut. Gute Monster sind rar, hat schon Tolkien gesagt. Beim Sender Phoenix hat man gemerkt, dass der 17. Januar und die Antarktis eine Bedeutung haben. Die haben heute morgen um 05:15 den Film Höllentrip Antarktis gesendet.

Dienstag, 16. Januar 2018

Chirurgie


Am 16. Januar 1632 wohnt der 26-jährige Rembrandt Harmenszoon  van Rijn der Vorlesung des Mediziners Nicolaes Tulp bei, als dieser die Leiche des Straßenräubers Adriaan Adriaanszoon obduziert. Das Ergebnis kennen wir. Es heißt Die Anatomie des Dr. Tulp, das Bild hat in diesem Blog mit Anatomie schon einen langen Post. Die Tochter von Nicolaes Tulp hat übrigens auch schon einen Post. Bei dem Bild fällt mir immer Gottfried Benns Gedicht mit dem ersoffenen Bierfahrer aus der Sammlung Morgue ein, aber das habe ich in Anatomie schon gesagt. Heute habe ich aber noch etwas Neues, ein sehr schönes Gedicht aus dem Spätwerk von Heiner Müller:

Der Maler hält den Moment vor dem Verschwinden
fest, die kalte Sekunde, wenn der Körper zum
Farbton schrumpft, den letzten Atem, von
Malschichten wie vom Vergessen erstickt.
Der Maler malt das Vergessen. Das Bild vergißt
seinen Gegenstand. Der Maler ist Charon. Mit
jedem Pinselstrich
Ruderschlag verliert sein
Passagier an Substanz. Die Fahrt ist das Ziel, 
das Sterben der Tod. Am anderen Ufer wird
Niemand aussteigen.

Sonntag, 14. Januar 2018

Pidgin English


Es war zappenduster. Mein Kommandeur hatte mich losgeschickt, damit ich den Colonel eines Panzerbataillons überreden sollte, mit seinen Panzern noch ein paar Kilometer vorzurücken. Mein Fahrer hatte Schwierigkeiten, in der Dunkelheit den Jeep auf dem Weg zu halten. Nach einigen Kilometern sahen wir einen englischen Soldaten, ich erkundigte mich nach seiner Einheit. Der Soldat nahm Haltung an und bellte: Sir! Er konnte meinen Dienstgrad in der Dunkelheit nicht sehen, aber das Englisch, das ich sprach, sagte ihm, dass ich ein Offizier sein musste. Hätte ich nicht mein schönes Schulenglisch gesprochen, hätte er vielleicht gesagt: Piss off, fella. Diese kleine Geschichte mag illustrieren, dass Englisch nicht gleich Englisch ist. Es ist eine Klassensprache.

Gemeinhin gilt das Pidgin English als die unterste Form des Englischen. Die Königin spricht das nicht. Die Königin spricht etwas, was die Deutschen Oxford Englisch nennen, was für die Linguisten aber RP ist (ich habe ➱hier ein Beispiel). RP heißt Received Pronunciation, nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Engländer spricht das. Daniel Jones definierte 1916 für sein Aussprachewörterbuch RP als den Akzent most usually heard in everyday speech in the families of Southern English persons whose menfolk have been educated at the great public boarding schools.

Wenn man das spricht, dann ist man ganz oben. Dieser Verwandlungsvorgang, der jetzt nicht Kleider machen Leute, sondern Aussprache definiert die Klasse heißt, ist manchmal schon seltsam. Mrs. Thatcher, von ihrer Herkunft definitiv lower middle class, bemühte sich ihre Leben lang, königlicher als die Königin zu sprechen. Das ist ebenso komisch wie die Mrs Malaprop in Sheridans Theaterstück The Rivals. Man nimmt heute übrigens an, dass ➱George Bernard Shaw Daniel Jones als Vorlage für seinen Professor Henry Higgins in Pygmalion genommen hat.

Julie Burchill, die damalige Königin der englischen Subkultur, hat 1985 (damals war das ➱Sloane Ranger Handbook ein Bestseller in England) mit leichter Verzweiflung geschrieben: Dies ist immer noch das einzige Land in der englischsprechenden Welt oder Europa, in dem der Akzent eher von der sozialen Klasse als vom Landstrich abhängig ist - die Leute beurteilen Macht eher nach Akzent als nach Reichtum oder guter Bildung. Bildung zählt immer noch nichts in diesem Land, wenn man nicht so spricht wie die Bessergestellten; und wenn man so redet, kann man so doof sein, wie man will, und trotzdem aufsteigen ... Doch solche Sätze von einer Frau, die in der Punk Szene angefangen hat und von der journalistischen Konkurrenz als Trendnutte bezeichnet wurde, lassen die Upper Class kalt. Neuerdings behaupten Linguisten, dass die Königin schon gar nicht mehr RP spräche, sondern zum ➱estuary neige. Das lassen wir mal beiseite. Theresa May ist strohdoof, aber sie hat den richtigen Akzent, das reicht für die englische Oberklasse aus. Von John Majors Idee der ➱classless society ist nichts übriggeblieben.

Die BBC hatte jahrzehntelang nur Sprecher beschäftigt, die RP sprachen, aber seit Ende der 60er Jahre konnte man auch ➱regionale Akzente hören. Nicht gerade das Cockney, mit dem ➱Michael Caine aufwuchs, aber eben auch nicht das Englisch, das Professor Higgins auf der Bühne spricht. Gegen regionale Akzente ist nichts zu sagen, das haben wir im Deutschen auch. Das hat bei uns nichts mit einer sozialen Klasse zu tun. Wenn eine Bank mit dem Spruch Wir können alles. Außer Hochdeutsch wirbt, dann kann sie damit Erfolg haben. Für ➱Sir Philip Sidney sprach man in Sachsen das beste Deutsch, Sprachwissenschaftler sagen, dass in ➱Hannover das beste Deutsch gesprochen wird. Wenn Sie einen regionalen Akzent hören wollen (außer Jürgen von Mangers ➱Schwiegermuttermörder), dann kann ich ➱Lernt Rheinisch mit Konrad Adenauer empfehlen.

Wenn man Englisch als Fremdsprache vermittelt, ist es natürlich nützlich, einen ➱Standard anzunehmen. Da bietet sich RP an. Ich hatte einmal einen Examenskandidaten, der vorher Kapitän gewesen war. Es machte ihm keinen Spaß mehr, auf ➱ausgeflaggten Schiffen mit der Pistole in der Hand eine Mannschaft zu befehligen, mit der er sich nur im grauenhaftesten Pidgin English verständigen konnte. Die Prüfung verlief sehr gut. Bis wir zu dem Teil kamen, der auf Englisch abgehalten wird. Und da staunte ich. Und die Herren vom Prüfungsamt erst recht. Der Akzent der malaischen Mannschaft hatte offensichtlich auf unseren Kapitän abgefärbt. Grammatisch war alles korrekt, es war nicht das Englisch von ➱Oettinger, aber da war dieses grauenhafte Pidgin English in der Aussprache. Wir berieten uns nach der Prüfung und empfahlen dem Kandidaten einen längeren Aufenthalt in England. Den hatte er sowieso geplant. Er ist ein guter Lehrer geworden, irgendwo an der Westküste, wo er das Meer sehen konnte.

Ich habe Pidgin English eben so behandelt, wie man es gemeinhin umgangssprachlich versteht. Das ist nicht ganz richtig. Pidgin und Kreol sind Sprachen, reduzierte Sprachen, aber Sprachen. Und Fremdsprachen für viele Sprecher. Die Pidgin- und Kreolsprachen quer durch die Welt haben nur etwas miteinander gemein, wenn sie von der gleichen Ausgangsprache abstammen. Das Louisiana Creole kommt vom Französischen, Hawaiianisches Pidgin vom Englischen etc. Millionen auf der Welt sprechen Pidgin English, es ist eine Lingua Franca, wie es das Latein einst war. Auf das Latein wollte sich der Papst Johannes Paul nicht verlassen, als er 1984 Papua-Neuguinea besuchte, da hat er in Pidgin English gepredigt.

Millionen Menschen auf der Welt kennen die Bibel nur im Pidgin English. Ich zitiere einmal die Schöpfungsgeschichte im hawaiianischen Pidgin English:

God Make Da World

1 Da time wen eryting had start, God wen make da sky an da world.
2 Da world come so no mo notting inside, no mo shape notting. On top da wild ocean dat cova eryting, neva had light notting. Ony had God Spirit dea, moving aroun ova da watta.
Day Numba One
3 Den God say, “I like light fo shine!” an da light start fo shine.
4 God see how good da light. Den he put da light on one side, an da dark on da odda side.
5 Da light time, he give um da name “Day time.” Da dark time, he give um da name “Nite time.” So, had da nite time an da day time, az day numba one.
Day Numba Two
6 Den God say, “I like get someting inside da middo, fo no let da watta up dea an da watta undaneat come togedda!”
7 An dass wat God wen do. God make someting fo no let da watta up dea an da watta undaneat come togedda.
8 Da ting inside da middo, God give um da name “Da Sky.” Had da nite time an da day time, az day numba two.
Day Numba Three
9 Den God say, “I like da watta unda da sky come togedda one place, so dat get dry land!” An dass wat God wen do.
10 Da dry groun, God give um da name “Land,” an da watta dat wen come togedda one side, he give um da name “Sea.” God look da dry groun an da sea, an he tell, “Real, real good, all dat!”
11 Den God say, “I like da land, get all diffren kine plant grow! Da kine plants dat make dea own kine seed, an da kine trees dat make da fruits wit da seed inside, eryting!” An dass wat God wen do.
12 So da land wen make all diffren kine plant grow, da kine plants dat make dea own kine seed, an da kine trees dat make da fruits wit dea own kine seed inside, eryting. An God look da plants, an he tell, “Real, real good, all dat!”
13 Had da nite time an da day time, az day numba three.

Bei Monsignore ➱Ronald Knox klingt das in seiner ➱Bibelübersetzung natürlich etwas anders. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, dass die Pidgin Version sehr eindrucksvoll und eingängig ist. Einfach und schlicht, für jeden zu begreifen. All this God saw, and found it good heißt es in der Hochsprache, Real, real good, all dat! im Pidgin. Klingt ein wenig nach Donald Trump, aber über dessen Sprachverarmung wollen wir jetzt nicht reden. Das ist kein Pidgin, das ist nur schlechtes Englisch. Ich habe Sie in ein Labyrinth der Sprachen geführt. Und dabei sind wir auf Dialekte und Soziolekte noch gar nicht eingegangen. Ich hätte ➱hier ein Zipfelchen vom Ariadnefaden, damit Sie einen kleinen Überblick bekommen.

Und dann habe ich, weil heute Sonntag ist, noch das ➱Vaterunser im Hawaiian Pidgin English. Gott versteht das, er versteht jeden, der zu ihm spricht, ob er RP oder Pidgin spricht. Da bin ich sicher.

Freitag, 12. Januar 2018

Genie


Webster's Dictionary definiert das Wort genius in seiner fünften und letzten Bedeutung als b: extraordinary intellectual power especially as manifested in creative activity c: a person endowed with extraordinary mental superiority; especially: a person with a very high IQ. Für Goethe wäre das ein bisschen wenig gewesen: Aber im höhern Sinne kommt doch alles darauf an, welchen Kreis das Genie sich bezeichnet, in welchem es wirken, was es für Elemente zusammenfaßt, aus denen es bilden will. Wir sind mit dieser Definition in der Zeit des Geniekults, aber diese Zeit ist vorbei. Oder auch nicht. Denn aus der neuen Welt kommen Nachrichten, die die Diskussion um das, was ein Genie ausmacht, neu beleben. Der Twitterkönig hat sich in der Geniefrage zu Wort gemeldet und versichert uns, dass er, Donald John Trump, ein Genie sei. Und nicht nur das, er ist ein stable genius, Sie können sich ➱hier eine Erklärung anschauen, was mit einem stable genius gemeint ist. Der Stern titelte diese Woche Das Tollhaus; schön und gut, wir haben das ja alles geahnt, was das Buch Fire and Fury jetzt ans Licht bringt.

Wie viele Amerikaner, hat Donald Trump das, was man eine short attention span nennt. Komplexe Dinge sind zu schwierig für den stable genius. Er ist ständig am Klagen: The time is out of joint: O cursed spite, That ever I was born to set it right! Seine Mitarbeiter sind jetzt dazu übergegangen, ihm die Lage der Welt auf eine einfache Weise beizubringen. Das behauptet auf jeden Fall mein ➱Lieblingskarikaturist, der mir gerade diesen Cartoon zuschickte.

Das Buch Fire and Fury wirft natürlich wieder einmal die Frage nach dem Geisteszustand Trumps auf. Ich möchte da keine Diagnose abgeben, aber ich habe hier ein hübsches Zitat von dem berühmten Clifford Geertz. Griffbereit. Habe ich mir mal vor Jahrzehnten auf eine DIN A6 Karteikarte geschrieben. Geertz sagt dort über die Definition der Kultur: Cultural systems must have a minimal degree of coherence, else we would not call them systems; and, by observation, they normally have a great deal more. Und dann fügt er hinzu: But there is nothing so coherent as a paranoid’s delusion or a swindler’s story.

Ich habe das schon in dem Post ➱Jonathan Swift zitiert (wo es damals auch um den Herrn von und zu ➱Guttenberg ging), aber es ist ein Zitat, dessen letzten Satz man immer wieder gebrauchen kann.

Mittwoch, 10. Januar 2018

Ronald Knox


Heute vor einundsechzig Jahren wurde Harold Macmillan englischer Premierminister. Er taucht in diesem Blog in den Posts ➱Christine Keeler und ➱I took on the sins of everybody, of a generation, really auf. Zwei Posts (die eigenlich dasselbe sind), die bei Keelers Tod erstaunliche Leserzahlen bekamen. Der Cartoon hier, der Macmillan in der Pose von Christine Keeler zeigt, ist natürlich auch in den beiden Posts zu sehen. Christine Keeler wird in dem Wikipedia Artikel zu Harold Macmillan nicht namentlich erwähnt, da muss man schon das Keyword Profumo Affaire anklicken. Dort wird sie als Mannequin bezeichnet, ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist für ein Schnuckelchen, dem es gelang Macmillans Regierung zu stürzen.

Harold Macmillans Leben und Werk ist genügend beschrieben worden, das können wir uns heute schenken. Wir wenden uns einmal diesem Herren zu, einem der engsten Freunde von Harold Macmillan. Der Mann mit dem dog collar ist in Deutschland nicht so bekannt. Er heißt Ronald Arbuthnott Knox. Er war ein einflussreicher Theologe, der von der Aglican Church zum Katholizismus wechselte, Apostolischer Protonotar bei Papst Pius XII wurde und dann in den Ruhestand ging, um die ➱Vulgata neu zu übersetzen. Er brauchte dafür keine Assistenten, er brauchte nur seine Schreibmaschine, seine Pfeifen und genügend Tabak. ➱Lady Daphne Acton sorgte für eine Unterkunft im Park von Aldenham. Der Vater von Ronald Knox war Bischof, er enterbte seinen Sohn, als der Katholik wurde. Das hat der Großvater mütterlicherseits, der auch anglikanischer Bischof war, nicht mehr erlebt. Ronald Knox ist nicht nur Theologe, er macht auch ganz andere Dinge, für die ihn viele liebten.

Er schreibt nämlich ➱Krimis. Einen seiner ersten - und vielleicht seinen besten - kann man sogar auf deutsch lesen. Ebenso ➱Die drei Gashähne, ➱Fußspuren an der Schleuse und ➱Der Tote im Silo. Richard K. Flesch vom Rowohlt Verlag hatte sich Anfang der sechziger Jahre die beiden besten für seine Krimireihe gesichert, die anderen erschienen bei Herder. Flesch, der in dem Post ➱Sjöwall Wahlöö vorkommt, hatte ein feines Näschen für Qualität, das auch nicht von seinem legendären Whiskykonsum beeinträchtigt wurde. Man kann die Romane von Ronald Knox glücklicherweise immer noch finden, mit etwas Glück sogar eine schöne alte Ausgabe (ich besitze zwei Erstausgaben).

Wir sind mit den Romanen von Ronald Knox in einer Zeit, die man The Golden Age of Detective Fiction genannt hat, als Kriminalromane von Absolventen von Oxford und Cambridge geschrieben werden. Knox hat nicht nur Krimis geschrieben, er hat sich auch Gedanken über das Genre gemacht. Studies in the Literature of Sherlock Holmes hieß der leicht satirische Vortrag, den er 1911 gehalten hat. Er hat ihn später in seinem Buch Essays in Satire veröffentlicht, Sie können ihn ➱hier lesen. If anyone objects, that the study of Holmes literature is unworthy of scholarly attention, I might content myself with replying that to the scholarly mind anything is worthy of study, if that study be thorough and systematic. Das ist ein wichtiger Satz. Wenn man sich als Wissenschaftler mit dem Krimi beschäftigt, dann muss man ihn auch ernstnehmen.

Es hat mehr als vierzig Jahre gedauert, bis ein deutscher Wissenschaftler auf diese Idee gekommen ist. Er heißt Fritz Wölcken, seine Habilitationsschrift aus den fünfziger Jahren ist vor drei Jahren neu aufgelegt worden. Ich habe hier im ➱Culturmag eine schöne Würdigung von Wölckens Buch gefunden. Es war eine Pionierarbeit, in den sechziger und siebziger Jahren schrieb dann jeder über den Detektivroman. Leider waren das häufig ideologisch gefärbte Arbeiten, die aus mehr Theorie als einer substantiellen Kenntnis der Kriminalliteratur bestanden. Da war Ronald Knox' Satz If anyone objects, that the study of Holmes literature is unworthy of scholarly attention, I might content myself with replying that to the scholarly mind anything is worthy of study, if that study be thorough and systematic leider in Vergessenheit geraten.

Ronald Knox hat auch ein Regelwerk für den Krimi aufgestellt, zehn goldene Regeln, an die sich Autoren halten sollten. Sie können sie ➱hier lesen. Das Ganze ist wahrscheinlich nicht so ernst gemeint, Knox hatte immer einen Hang zur Satire. Wie seine Freunde G.K. Chesterton (für den er die Totenmesse halten wird) und Hilaire Belloc. Die zehn Regeln für Krimiautoren sind Knox nicht wirklich wichtig, wichtig ist ihm, den Katholiken Richtlinien zu geben, was sie glauben sollen Let him trust orthodox tradition to determine what he is to believe, and common sense to determine what is orthodox tradition. 

Und dann ist da noch etwas über Ronald Knox zu sagen, etwas, das nichts mit Theologie und Krimis zu tun hat. Sondern mit der BBC. Die zwanziger Jahre sind die große Zeit des Radios, Ronald Knox wird viel für die BBC arbeiten. Und in einer Sendung lässt er seinem Hang zur Satire vollen Lauf. Am 16 Januar 1926 sendete die BBC einen Bericht, der ➱Broadcasting the Barricades hieß. Angeblich war England in Aufruhr: Unemployed demonstration in London. The crowd has now passed along Whitehall and, at the suggestion of Mr Popplebury, Secretary of the National Movement for Abolishing Theatre Queues, is preparing to demolish the Houses of Parliament with trench mortars. Der Glockenturm von ➱Big Ben bricht zusammen, und noch Schlimmeres kommt: One moment, please. Fresh reports, which have just come to hand, announce that the crowd have secured the person of Mr Wotherspoon, the Minister of Traffic, who was attempting to make his escape in disguise. He has now been hanged from a lamp-post in the Vauxhall Bridge Road. Zwischen den Katastrophennachrichten wird immer wieder Tanzmusik aus dem Savoy Hotel eingespielt.

Die BBC sendet am Abend eine Erklärung: Some listeners, who heard only part of Rev. Father Knox's talk at 7:40 this evening, did not realize the humorous innuendoes underlying his imaginary news items, and have unease as to the fate of London, Big Ben and other places and objects mentioned in the talk. As a matter of fact, the preliminary announcement stated that the talk was a skit on broadcasting, and the whole talk was, of course, a burlesque, and we hope that any listeners who did not realize it will accept our sincere apologies for any uneasiness caused. London is safe. Big Ben is still chiming, and all is well. Der Direktor der BBC John Reith, der auf allen Photos aussieht, als ob er nicht lachen könne, ist begeistert. Die Hörer übrigens auch, 2.307 Hörer fanden die Sendung gut, nur 249 kritisieren diesen ersten Fall von fake news. Orson Welles ist mit seinem ➱War of the Worlds noch weit weg. ➱Kellyanne und dieser Mann, der die Intelligenz einer Zimmerpflanze hat, sich aber für ein Genie hält, sind noch weit in der Zukunft.

Ronald Knox verstand die ganze Aufregung nicht: I had no idea that listeners would take what I said seriously. Even now, I cannot quite see how anyone could have misinterpreted my remarks. I am sure that my 'news reports' were so far-fetched that no-one who thought them out could have been alarmed. Wenn es für Knox nur ein Spaß war, so war Broadcasting the Barricades doch noch mehr, es zeigte, wie man das Radio mißbrauchen kann. Joseph Goebbels (der erstaunlicherweise englische ➱Romane liest) wird der Welt schon zeigen, wie das geht.

Ein Jahr nach der Radiosendung veröffentlicht Monsignore Knox The Belief of Catholics (hier ein ➱Exzerpt), ein Buch, das den Katholiken ihren Glauben erklärt. Knox ist der wortgewandteste und intelligenteste Apologet der katholischen Kirche in England in den Jahren zwischen den Weltkriegen. Man zitiert ihn noch heute gerne. Als Ronald Knox 1957 stirbt, lässt es sich der frischgebackene Premierminister Harold Macmillan nicht nehmen, die Totenmesse für seinen Freund zu besuchen. Die Londoner Times schrieb über Knox: the wittiest churchman in England since Sydney Smith; he was as earnest as he was witty and devout as he was diverting. Und für Time war er Britain’s outstanding Roman Catholic scholar, most versatile writer, and gentlest man.

Montag, 8. Januar 2018

elbidabbelju


Diese Illustration aus dem Jahre 1904 zeigt eine der Regeln des Crickets, die man als leg before wicket (kurz lbw) bezeichnet, die sorgt bei jedem Spiel immer wieder für heiße Diskussionen. Der rote Cricketball könnte das wicket treffen, aber er trifft nur den Beinschutz des batsman. Der wicket keeper hinter dem batsman hat schon mit einem sehnsüchtigen Blick zum Schiedsrichter den Arm gehoben und ruft wahrscheinlich ➱Howzat. Und dann hebt der Schiedsrichter (der bei diesem Spiel nicht referee wie im Fußball, sondern umpire heißt) den Zeigefinger, und der batsman muss den Platz verlassen. Beifall für ihn gibt es immer, dies ist ein Spiel für Gentlemen:

Like rattle of dry seeds in pods
The warm crowd faintly clapped;
The boys who came to watch their gods,
The tired old men who napped.

The members sat in their strong deckchairs,
And sometimes glanced at the play,
They smoked and talked of stocks and shares,
And the bar stayed open all day.


Es ist eine komplizierte Sache, ich habe hier einen kleinen ➱Film, der die Regel illustrieren kann. Vielleicht verwirrt er aber nur. Nicht einmal alle Engländer verstehen die Regel, deshalb hat die BBC hier eine schöne Seite, auf der alles erklärt wird. Und den vollen Text der Regel 36 können Sie auf der Seite des MCC lesen. Es ist eine alte Regel. Sehr alt.

Wir müssen mal eben ins 18. Jahrhundert springen, ein Jahrhundert, zu dem es hier eine Vielzahl von Posts gibt, die alle Links in dem Post ➱Robert Walpole haben. Es ist ein Jahrhundert, in dem England die Welt erobert. Manchmal verlieren sie auch wieder etwas: Die amerikanischen Kolonien zum Beispiel. Oder Menorca. Und Gibraltar wäre auch beinahe verloren gegangen (lesen Sie mehr dazu in dem Post, der ➱Hoya heißt). Dieser Herr hier ist einer von denen, die überall für England kämpfen (er starb am 8. Januar 1787 friedlich zu Hause in Bath). Er heißt Sir William Draper. Auf diesem Bild aus dem Jahre 1765 von ➱Thomas Gainsborough trägt der General schöne hellbraune Handschuhe und den Order of the Bath auf der Brust. Drapers Freund Christopher Anstey, mit dem er in Eton war, hat das Bild Gainsboroughs (und die Büste, die Joseph Wilton von Draper angefertigt hatte) mit einem Gedicht kommentiert:

Freely I'd give ye cups of gold,
Rich with the curious works of old;
With coins and medals I'd present ye,
And send ye rings and seals in plenty;
Reward ye like the valiant Greeks,
If I, like Deard, could make antiques.
But gifts like these, my generous Friend,
Nor you expect, nor I can send.
Something to eat, I'd have you know it,
Is no small present from a Poet;
And tho' I took some little pains
In weaving my Pindaric strains,
You're welcome, if my verse displeases,
To d--n my book, and eat my cheeses;
Still will I venture to acquaint ye,
Tho' I, like Gainsborough, cou'd paint ye;
Tho' I with Wilton's art, could give
The animated stone to live;
Yet not the picture, or the busto,
Are things that heroes ought to trust to.
Good generals and statesmen too,
From verse alone, must claim their due;
And oft the friendly Muse supplies
What an ungrateful world denies:
Not the swift flight of threat'ning Lally,
Not every bold successful sally,
Under your banners from Madras,
Tho' told on marble, or on brass:
Not India's distant spoils brought home,
To grace our Henry's lofty dome;
Without the Muses just regard,
Can give the Conqueror his reward.--
--Spite of the law's unjust delay,
Your guerdon still the Muse shall pay
With faithful steps your fame attend,
And speed the wishes of your friend.


William Draper war, wie gesagt, in Eton. Und er hat in Cambridge studiert, sogar ein Examen gemacht. Er ergriff allerdings keinen geistlichen Beruf, wie alle dachten, er ging zur Armee. Eton und Cambridge sind sicherlich für die militärische Karriere gut, noch besser ist es wahrscheinlich, wenn man eine Urenkelin von Charles II heiratet. Gainsborough wird auch Lady Caroline Beauclerk malen, allerdings ist ihr Bild wesentlich kleiner als das ihres Gatten. Lady Caroline wird nicht viel von ihrem Gatten sehen, denn der ist mit dem Regiment ihres Onkels überall dabei, wo Krieg ist. Zuerst in ➱Culloden, dann in Flandern, in Indien und Amerika. Er wird Manila für die Krone gewinnen. Und ➱Menorca verlieren.

Ich könnte jetzt stundenlang über Sir William weiterschreiben, aber ich lasse das und verweise auf das Buch Pitt's Gallant Conqueror. Denn ich will auf das lbw des Posttitels zurückkommen. Damit hat unser General etwas zu tun. Im Jahre 1774, als er mal gerade nicht Krieg führt (drei Jahre später ist er in Amerika), ist Sir William der Vorsitzende eines Komitees aus Adligen und Gentlemen (ein Herzog ist auch dabei), die sich im Star and Garter in der Pall Mall treffen. Die Straße spricht man übrigens ➱pæl mæl aus, es ist das gleiche Wort wie die ➱Palmaille in Hamburg.

Die Herren haben Wichtiges zu besprechen. Es geht nicht um das Wohl der Nation, es geht um wirklich wichtige Dinge. Es geht um Cricket. Einige der Teilnehmer möchten es verbieten, dass auf Cricketspiele gewettet wird. Dieser Herr hier, der ein eigenes Cricketteam hat und sehr viel Geld beim Cricket verwettet, ist energisch dagegen. Es ist John Frederick Sackville, der dritte Duke of Dorset, gemalt von ➱Joshua Reynolds. Sackville kauft auch massenhaft Bilder von Reynolds auf, für ihn sind die Bilder ein Spekulationsobjekt. Man lässt die Sache mit dem Wettverbot erst einmal fallen und widmet sich dem nächsten Punkt der Tagesordnung: Cricketregeln. Da ist man sich schnell einig. Vor allem bei der neuen Regel, die es zuvor nicht gab: elbidabbelju. Die Regel gibt es immer noch. Und auf Cricketspiele wird immer noch gewettet.

Die Engländer erobern im 18. Jahrhundert die Welt, davon träumen Sie vielleicht noch immer. Sie bringen fremden Nationen das Cricketspiel bei, von den West Indies bis Indien und Australien. Müssen dann aber mitansehen, dass sie von denen geschlagen werden, gerade jetzt ganz furchtbar in ➱Australien (der Film fängt gleich mit einem lbw an). Theresa May, die Cricket liebt und Geoffrey Boycott schätzt, wird wahrscheinlich am Wochenende vor dem Fernseher gesessen haben, um sich den Untergang Englands anzugucken. Daraus kann man für den Brexit und die Zukunft Englands lernen.

Was ich vom Cricket verstehe, verdanke ich meinem Freund Georg. Das steht schon in dem Post ➱Fußballmannschaft. Alles, was da steht, ist wahr. Wenn Sie mehr über Cricket wissen wollen, dann kann ich den Post ➱Cricket empfehlen. Ist ein Bestseller, der fünfstellige Leserzahlen hat, da können Sie nichts falsch machen. Ich habe in dem Post ➱Vollmond auch noch eine nette kleine Geschichte über den bekannten und beliebten Schiedsrichter Dickie Bird. Und einen Film, in dem ein Cricketspiel eine große Rolle spielt, hätte ich auch anzubieten, es ist ➱The Go-Between. Harold Pinter, der eine eigene Cricketmannschaft hatte, hat das Drehbuch geschrieben. Die amerikanischen Geldgeber wollten die Cricketszene streichen. Amerikaner verstehen nichts von Cricket, deshalb spielen sie Baseball. Harold Pinter und der Regisseur Joseph Losey haben die Szene nicht gestrichen. Geht einfach nicht.

Als ➱William Wordsworth aus den Wirren der französischen Revolution nach England zurückkommt, schreibt er ein Sonnet, das Composed in the Valley near Dover, on the Day of Landing heißt. Und in diesem Sonnet fehlt das Cricket (those boys who in yon meadow-ground In white-sleeved shirts are playing) genausowenig wie in dem Roman und dem Film The Go-Between. Weil es zu England gehört:

Here, on our native soil, we breathe once more. 
The cock that crows, the smoke that curls, that sound 
Of bells; those boys who in yon meadow-ground 
In white-sleeved shirts are playing; and the roar 
Of the waves breaking on the chalky shore;-- 
All, all are English. Oft have I looked round 
With joy in Kent's green vales; but never found 
Myself so satisfied in heart before. 
Europe is yet in bonds; but let that pass, 
Thought for another moment. Thou art free, 
My Country! and 'tis joy enough and pride 
For one hour's perfect bliss, to tread the grass 
Of England once again, and hear and see, 
With such a dear Companion at my side.

Freitag, 5. Januar 2018

Otto Ubbelohde


Dieses bezaubernde junge Mädchen kennen Sie schon, es findet sich in dem Post, der Worpswede heißt. Der Maler Otto Ubbelohde, der es gemalt hat, war mit einer Bremerin verheiratet. Deshalb zog es ihn wohl nach Worpswede, allerdings zog es ihn auch häufig in die bayrische Künstlerkolonie Dachau. Otto Ubbelohde, der heute vor 151 Jahren geboren wurde, kam aus Marburg. Dass es ihn nach Bremen verschlug, hat einen einfachen Grund, es sind verwandtschaftiche Beziehungen.

Denn die Johanna Ernestine (Hanna) aus der Künstlerfamilie Unger, die er heiraten wird, ist seine Cousine. Das verschweigt uns der Wikipedia Artikel. Der Maler hat seine Frau immer wieder gemalt, hier ganz in weiß, ein Bild, das uns an die Skagener Maler denken läßt. Diese Bilder der heure bleue, auf denen weißgekleidete Damen den Strand entlang schweben. Wahrscheinlich sind weiße Kleider weder am Strand noch im Moor sehr praktisch, aber sie sind nun einmal ein Kleidungsstück, mit dem die Bourgeoisie zeigt, dass sie Diener hat, die die Kleidung waschen können. Das gilt auch für die Sportarten Tennis und Cricket, die Ende des 19. Jahrhunderts auch für Damen chic wurden. Die Frau in Weiß ist auch auf dem Cover des Katalogbuches Otto Ubbelohde: Kunst und Lebensreform um 1900 (Darmstadt 2001).

Mit diesem englischen Plaid ist Hanna Ubbelohde natürlich viel praktischer gekleidet, sie geht damit beinahe in der Natur auf. So etwas sieht man heute selten, aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um 1900 findet man das Plaid häufig beim englischen Landadel und der künstlerischen Bohème. Erstaunlicherweise habe ich in den Ausstellungen Ein Hauch von Eleganz: 200 Jahre Mode in Bremen (Focke Museum Bremen 1984) und Kleid und Bild: Mode und Malerei. Klassizismus bis Art Deco (Hannover 1983) kein einziges Plaid gesehen. Die Kataloge zu beiden Ausstellungen kann man heute noch finden, es sind sehr interessante und schöne Kataloge. Wenn Sie den Post Damenmode anklicken, werden Sie sehen, dass es in diesem Blog nicht nur Herrenmode gibt, wie häufig behauptet wird.

Aber ich komme mal eben zur Herrenmode. Dieses Bild kommt jetzt ein wenig wie ein Schock. Wenn Sie jetzt Aääh, mach das weg!!! stöhnen, haben Sie vollkommen recht. Aber es hat auch etwas mit Mode zu tun. Und damit meine ich nicht die kleinen Jungen in Lederhosen mit Hosenträger (so etwas habe ich auch noch getragen, als ich klein war), sondern das, was der Herr rechts im Bild trägt. Es handelt sich natürlich um Martin Heidegger, der in diesem Blog selten vorkommt. Er hat einen Post, der Heidegger heißt, mehr gibt es zu dem Mann nicht. Wenn er hier auftaucht, dann hat das einen simplen Grund: Otto Ubbelohde hat ihm einen Lodenananzug mit Kniebundhosen entworfen. Die Marburger Studenten nannten den seinen existentiellen Anzug. Dies hier auf dem Photo ist er nicht, ein klein wenig exzentrisch ist er aber auf jeden Fall.

Ubbelohde (hier mit seiner Gattin) hat es nicht mehr erlebt, dass Heidegger den von ihm entworfenen Anzug mit den engen Breeches und dem langen Rock trug, er starb schon 1922 mit 55 Jahren. Dass er einen Anzug entwarf, war kein Zufall, er hatte sich lange mit Gedanken zu einer Reform der deutschen Herrenkleidung beschäftigt. Sein Ideal war, dass sich die Herrenmode wieder der Volkstracht annäherte. Er ist nicht der einzige, der sich solche Gedanken macht. Seit der englischen ästhetischen Bewegung, die Shaw dazu bringt Anzüge von Jaeger zu tragen, hat es immer wieder solche Tendenzen gegeben. Aud dem Monte Verità trägt man keine Straßenanzüge.

Wir vergessen Heidegger schnell wieder und widmen uns einmal diesem wunderbar gemalten Damenhut, den Hanna hier trägt. Erstaunlicherweise ist die Malerei nicht das, womit der Künstler sein Brot verdient - er verdient sein Geld als Illustrator. Er hat Grimms Kinder- und Hausmärchen und tausenderlei Bücher illustriert, Ex Libris und Vorsatzblätter und den Hessenkunst Kalender entworfen. Seine letzte große Illustrationsarbeit betraf in seinem Todesjahr das Werk Eichendorffs, Eichendorffs Gedichte mit den Zeichnungen von Ubbelohde gibt es heute noch als Insel Taschenbuch.

Die Worpsweder der Gründergeneration mochten Otto Ubbelohde nicht so sehr, 1889 war er nicht groß aufgefallen, da hatte er sein Studium an der Münchener Akademie noch nicht beendet, aber bei den beiden Sommeraufenthalten 1894 und 1895 kommt es zum Bruch mit den Worpswedern. Obgleich er eigentlich ein Mann der Moderne ist, Mitbegründer der Münchener Sezession ist und sich  an vielen Künstlervereinigungen (wie den Vereinigten Werkstätten für Kunst und Kunsthandwerk) beteiligt, ist er in der Willingshäuser Malerkolonie, wo er seit  1902 ist, besser aufgehoben als in Worpswede.

Ubbelohde ist ein letzter Romantiker, er träumt von der unverfälschten Natur, er trägt Bauerntracht wie Hänsel und Gretel, wenn er sie für Grimms Märchen zeichnet. Es gibt heute noch einen Otto Ubbelohde Preis, dessen Kriterien Denkmalpflege, Heimatkunst, Heimatgeschichte, Pflege des 'heimischen Brauchtums' und Beschäftigung mit dem Werk Otto Ubbelohdes sind. Im Ersten Weltkrieg wird er sich mit patriotischer Propaganda hervortun und eine Vielzahl von Büchlein des Schaffstein Verlags illustrieren. Also solche Büchlein, die Ein Heldentod und Denn wir fahren gegen Engeland! Luft- und Seekriegsgeschichten heißen. Hätte ich das mit dem England Buch vorher gewusst, dann hätte ich das natürlich in den Post gen Engeland hineingeschrieben.

Ubbelohde war ein hervorragender Portraitist (dafür hatte er an der Münchener Akademie eine Auszeichnung erhalten) und ein hervorragender Landschaftsmaler. Was hätte aus ihm werden können, wenn er sich nicht auf die Illustration von Sagen und Märchen und das verquaste deutsche Brauchtum kapriziert hätte? Auf das Sterntaler Bild, das seit den Kindertagen in meinem Kopf ist, könnte ich gerne verzichten.