Freitag, 17. Dezember 2010
Weihnachtszeit
Wir haben, seit ich angefangen habe, diese Akten [...] zu kollationieren, das bekommen, was man einen schönen Winter nennt – erfrischenden, jahreszeitgemäßen Frost, wenig Heulstürme, aber viel Schnee.
Auch in der Nacht, in der ich jetzt weiterschreibe, schneit es wieder. Unaufhörlich rieselt seit dem Nachmittag das weiße Gewirbel nieder und macht die Erde still, glatt und rein. Wenn ich ans Fenster trete und nach der nächsten Gaslaterne hinübersehe, kann ich mich nur schwer von dem schönen Schauspiel losreißen: von allen Naturerscheinungen bringt der Schneefall (vom warmen Zimmer aus gesehen) die behaglichsten Bilder und Traumminuten mit sich. Der Schnee wärmt. Ich kenne Leute, egoistische Zärtlinge, die es sich behaglich vorstellen, von ihm zugedeckt als haus- und heimatloser, hungriger Wanderer auf der Landstraße müde einzuschlafen und sich aus der ungemütlichen, bitteren Wirklichkeit sanft hinauszuträumen:
Erhebt euch, ihr Täler,
Sinkt nieder, ihr Höhn;
Ihr hindert mich ja,
Meine Liebste zu sehn; –
wie kommt es nur, daß mir das alte welsche Lied, schön wie irgendein deutsches – den ganzen Abend durch nicht aus dem Sinn will? Daß ich es immer von neuem summen muß, während der Schnee fällt, die Täler ausfüllt und die Berge niederdrückt, indem er sich weiß, farblos auf sie legt?
Als ich das bei Wilhelm Raabe in Die Akten des Vogelsangs las, dachte ich mir: diese schöne Stelle merkst du dir. Vielleicht kann man das im Winter noch einmal für den Blog brauchen. Da wußte ich nicht, dass der Winter so schnell kommen würde.
Der Winter in der Literatur ist immer viel schöner als im wirklichen Leben. Wahrscheinlich, weil so vieles in der Literatur schöner ist, als im wirklichen Leben. Sonst brauchten wir vielleicht die Literatur gar nicht. Als die Herren Bouvard und Pécuchet in Flauberts gleichnamigem Roman die Welt (mal wieder) nicht so richtig verstehen heißt es...woraus sie schlossen, daß die äußeren Tatsachen nicht alles bedeuten. Man muß sie vervollständigen durch die Psychologie. Ohne die Einbildungskraft ist die Geschichte lückenhaft. "Lassen wir uns ein paar historische Romane kommen!" Zuerst lasen sie Walter Scott. Es war, als entdeckten sie eine neue Welt. Und dann fasst Flaubert die Romanwelt Scotts auf einer halben Seite am Anfang von Kapitel V zusammen - brillant.
Hilft uns Scott beim Thema Schnee? Gut, er hat gesagt We build statues out of snow, and weep to see them melt, aber gibt es bei ihm so richtig schöne Winterbeschreibungen wie bei Raabe? Der Schnee im Kapitel XXVII von Guy Mannering scheint von der Theaterbühne auf den Helden geworfen zu werden. Und das Weihnachtsgedicht Marmion (Heap on more wood! – the wind is chill; But let it whistle as it will, We’ll keep our Christmas merry still...) kommt ganz ohne Schnee aus. Aber der amerikanische Scott, James Fenimore Cooper, der hat wunderbare Schneelandschaften und eine geradezu holländische Winterstimmung - und in seiner Jugend ist der Staat New York ja noch fest in der Hand der Holländer. Das merkt man in seinem Roman The Pioneers, der beinahe ein holländischen Genrebild ist.
It was near the setting of the sun, on a clear, cold day in December, when a sleigh was moving slowly up one of the mountains in the district we have described. The day had been fine for the season, and but two or three large clouds, whose color seemed brightened by the light reflected from the mass of snow that covered the earth, floated in a sky of the purest blue. The road wound along the brow of a precipice, and on one side was upheld by a foundation of logs piled one upon the other, while a narrow excavation in the mountain in the opposite direction had made a passage of sufficient width for the ordinary travelling of that day. But logs, excavation, and every thing that did not reach several feet above the earth lay alike buried beneath the snow. A single track, barely wide enough to receive the sleigh, denoted the route of the highway, and this was sunk nearly two feet below the surrounding surface.
Seitenlang Schnee. Und natürlich darf bei Cooper als kleine Reverenz an den den Dichter des Winters ein Motto vorweg aus ➱James Thomsons Winter nicht fehlen (obgleich er natürlich auch etwas aus Cowpers The Task hätte nehmen können, da ist auch viel Winter drin). Die Romanautoren machen jetzt den Landschaftsmalern Konkurrenz. Der englische Roman und die englische Landschaftsmalerei entstehen zur gleichen Zeit im 18. Jahrhundert. Und - ut pictora poesis - die Romanautoren (und ihre Leser) haben noch viel Zeit, und so finden lange Landschaftsbeschreibungen ihren Weg in den Roman.
Ausführlich geschilderte Kutschen- oder Schlittenfahrten und viel Schnee finden sich nicht nur bei Cooper, wir finden es auch in Fontanes ➱Roman Vor dem Sturm. Da beginnt die Handlung gleich in einer Kutsche: Draußen umfing sie Nacht und Stille; der Himmel klärte sich, und die ersten Sterne traten hervor. Ein leiser, aber scharfer Ostwind fuhr über das Schneefeld, und der Held unserer Geschichte, Lewin von Vitzewitz, der seinem väterlichen Gute Hohen-Vietz zufuhr, um die Weihnachtsfeiertage daselbst zu verbringen, wandte sich jetzt, mit einem Anflug von märkischem Dialekt, an den neben ihm sitzenden Gefährten. »Nun, Krist, wie wär es? Wir müssen wohl einheizen.« Dabei legte er Daumen und Zeigefinger ans Kinn und paffte mit den Lippen. Dies »wir« war nur eine Vertraulichkeitswendung; Lewin selbst rauchte nicht. Krist aber, der von dem Augenblick an, wo sie die Stadt im Rücken hatten, diese Aufforderung erwartet haben mochte, legte ohne weiteres die Leinen in die Hand seines jungen Herrn und fuhr in die Manteltasche, erst um eine kurze Pfeife mit bleiernem Abguß, dann um ein neues Paket Tabak daraus hervorzuholen. Und von nun an haben wir beinahe nur noch Schnee. Und mit viel liebevoller Detailtreue geschilderte Kutschenfahrten, Kutscher und Pferde werden vom Autor ebenso detailliert geschildert wie die aristokratische Herrschaft. Manchmal ein wenig zu viel des Details, Fontane übt noch, es ist sein erster Roman.
Wir sitzen als Leser mit Lewin von Vitzewitz in der Kutsche. Aber wir können die Unbilden der Witterung leicht ertragen, weil wir als Leser in zwei Räumen zu Hause sind. Einmal in der Kutsche, die in der Winternacht nach Hohen-Vietz fährt und einmal in unserem warmen Wohnzimmer. Die Raumerfahrung eines Romans ist für den Leser eine Erfahrung der Differenz. George Orwell hat diese Differenz der Räume einmal sehr nett in seinem Essay Decline of the English Murder beschrieben.
It is Sunday afternoon, preferably before the war. The wife is already asleep in the armchair, and the children have been sent out for a nice long walk. You put your feet up on the sofa, settle your spectacles on your nose, and open the News of the World. Roast beef and Yorkshire, or roast pork and apple sauce, followed up by suet pudding and driven home, as it were, by a cup of mahogany-brown tea, have put you in just the right mood. Your pipe is drawing sweetly, the sofa cushions are soft underneath you, the fire is well alight, the air is warm and stagnant. In these blissful circumstances, what is it that you want to read about? Naturally, about a murder. Es könnte natürlich auch das Schottland von Sir Walter Scott sein oder die großen Wälder des Staates New York von James Fenimore Cooper, aber auf keinen Fall ein Roman, der in einem geheizten englischen Wohnzimmer spielt. Wir wollen jetzt eine andere Welt.
➱Wilhelm Raabe weiß das mit den beiden Welten, deshalb fügt er in Klammern vom warmen Zimmer aus gesehen in den Satz von allen Naturerscheinungen bringt der Schneefall die behaglichsten Bilder und Traumminuten mit sich ein. Und wir lesen es gerne. Und denken nicht daran, ob wir am Morgen mit unseren neuen Winterreifen wieder aus der kleinen Schneewächte herauskommen, die sich in der Nacht um unser Auto gebildet hat. Diese Probleme haben Romanautoren nicht.
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Your pipe is drawing sweetly ;)))
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