Martin Roth wirkt müde, und das liegt nicht allein an dieser 29-jährigen Praktikantin, die gerade anderthalb Tage lang seine volle Aufmerksamkeit gefordert hat. Das ist jetzt nicht der Anfang eines schlechten Romans, in dem der Romanheld Martin Roth von anderthalb Tagen Sex ermüdet ist. Nein, dies ist deutscher Journalismus, es stand in der ➱Zeit. Der Verfasser, offensichtlich ein verhinderter Romanautor in der Courths-Maler Tradition, fährt fort: Er führte sie durch sein Museum, zu Skulpturen und Gemälden, Couture-Kleidern und Designermöbeln; sie plauderten angeregt mit Restauratoren, und zur Mittagszeit ließ Roth in seinem Büro Sandwiches servieren. Ach, ich liebe diesen Stil, voll von dem, was der Engländer purple passages nennt. Eine Homestory der ganz besonderen Art, die eine breite Schleimspur über die Seite der Zeit zieht. Wenn ich beim Zahnarzt im Wartezimmer die Gala oder ähnliche Blätter lese, dann erwarte ich nichts anderes. Aber dies ist die Zeit, kann man da nicht noch Reste eines seriösen Journalismus erwarten?
Nicht nur 29-jährige Praktikantinnen ermüden Martin Roth: Roth kippt einen Espresso. Eben hat er sich im Spiegel angeschaut und für zu blass befunden. Sein neues Leben, sagt er, »zieht viel Energie aus dem Leib«. Und was ist es, was ihn müde und blass werden lässt? Die Antwort ist: Seine ständigen Touren, die er unternimmt, um sich besser zurechtzufinden in dem weitläufigen wie verwinkelten Kulturpalast. Ja, das ist schon enervierend, wenn man sich am Arbeitsplatz ständig verläuft.
Das Ganze endet mit einem geradezu poetischen Absatz: Es ist schon Abend, als Martin Roth in die Eingangshalle seines Museums strebt. Sie ist bunt von Menschen. Einige tanzen, ein DJ legt auf. Bei einem Renaissance-Brunnen nippen Hipster an Espresso Martini. Nebenan lauschen sie Vorträgen über Postmoderne – Stil und Subversion 1970–1990. Die V&A-Ausstellung liefert diesmal das Motto für den monatlichen Themenabend »Friday Late«, inzwischen ein Pflichttermin für Londons junge Kreative. Von einer Empore aus blickt Roth auf die Szene. »Wahnsinn, nicht?«, ruft er. Dann geht er wieder arbeiten.
Ja, und wie es bei Eichendorff heißt: von fern schallte immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln flogen vom Schloß durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau rauschte dazwischen herauf – und es war alles, alles gut!
Ich könnte jetzt natürlich eine philologische Stilanalyse des Zeit-Textes machen, das habe ich gelernt, das ist jahrzehntelang mein Beruf gewesen. Aber ich kann das auch lassen, weil bei solchen Texten vor meinem inneren Auge automatisch die Sprechblase eines Comics auftaucht, in der Kotz Würg! steht. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen. Aber wo bleibt das Positive? Das Positive ist, dass wir einen neuen Hoffnungsträger haben, dieser Martin Roth ist in der Darstellung der Zeit ja larger than life, geradezu ein Renaissance Man, da bieten sich doch noch ganz andere Aufgaben an als Direktor des Victoria und Albert Museums zu sein. Und für den Verfasser des Artikels gelten die Sätze von Gustav Freytag aus dem Lustspiel Die Journalisten: Achten Sie vor allem auf Ihren Stil..., guter Stil ist die Hauptsache. Schreiben Sie gewichtig, schreiben Sie tief, man verlangt das heut zu Tage von einer Zeitung, daß sie tief ist. Man sollte tief schreiben aber nicht mit tief sinken verwechseln.
Was mich an der Homestory der Zeit ein klein wenig irritiert, sind die folgenden Sätze: Sir Mark trat unnahbar auf. Als sich Martin Roth der Belegschaft vorstellte, sprach er über seine Frau, die drei Kinder – und die Exfrau. »Seine Rede war so persönlich, dass vielen von uns der Atem stockte«, sagt eine britische Mitarbeiterin. Es war Roths erste kleine Revolution. Ich weiß nicht, ob das Wort Belegschaft hier richtig gewählt ist, aber ich weiß, dass mir auch der Atem stocken würde, wenn ich Engländer wäre. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in der Öffentlichkeit von Frau, Kindern und Exfrau zu reden, dass würde kein englischer Gentleman tun. Kein wohl erzogener Mann würde das tun. Wir wissen natürlich, wer so etwas machen würde - jetzt einmal von Atze Schröder abgesehen. Richtig: Politiker. Hat Herr Roth nicht vielleicht auch noch einen Hund, der der Erwähnung wert gewesen wäre? Richard Nixon hat mit seiner Checkers Rede ja großen Erfolg gehabt.
Sir Mark trat unnahbar auf. Really? Mark Jones ist Engländer, die sind nun mal so. Sir Mark Jones, der gerade Master des St Cross College in Oxford geworden ist, hat das V&A in zehn Jahren gründlich modernisiert. Siebzig Prozent des Museumskomplexes wurden umgebaut. Ich habe in all den Jahren seiner Amtszeit im Observer nichts Negatives über ihn lesen können. Von Unnahbarkeit war da nie die Rede, eher stand da affable and unassuming, manchmal charismatic. Und dass er mit dem Fahrrad zur Arbeit kam. Er hat seine Arbeit still gemacht, für ihn war es kein Showbusiness, das größte Kunstgewerbe- und Designmuseum der Welt zu leiten. Da war er ganz anders als Sir Nicholas Serota, der Direktor vom Tate (dessen Wikipedia Artikel auch fünfmal so lang ist wie der von Jones). Und natürlich war er auch nicht so flamboyant wie Robert Neil MacGregor, der Direktor des British Museum. Der ist ja alle naselang im Fernsehen und macht Schlagzeilen mit dem Schwur, die Elgin Marbles niemals an Griechenland zurückzugeben. Wäre im Augenblick wohl auch keine gute Idee, die verscheuern die glatt weiter.
His leaving speech was a model of modesty, schrieb der Evening Standard vor Monaten, von Sir Mark trat unnahbar auf redete in England niemand. Vielleicht hätte der Zeit Journalist mal seine Hausaufgaben machen sollen, bevor er die Lobeshymne auf Martin Roth schrieb. Mark Jones, der im letzten Jahr als Knight Bachelor für services to the arts geadelt wurde, hat in zehn Jahren die höchsten Besucherzahlen in der Geschichte des Museums erreicht. Er hat auch die kulturellen Kontakte zu dem südostasiatischen Raum vertieft (das V&A hatte 1879 vom India Office das Indian Museum übernommen, eine der größten Sammlungen indischer Kunst). Er hat zu der Gegend ein besonderes Verhältnis, weil er mal ein halbes Jahr am National Museum of Singapore hospitiert hat. Mark Jones kommt aus einer Gelehrtenfamilie, seine Mutter ist die Historikerin Ann Paludan, sein Urgroßvater war der berühmte Gilbert Murray. Aber das wird er im Museum nicht erzählt haben. Weil er sein Privatleben wie alle upper middle class Engländer privat hält.
His leaving speech was a model of modesty, schrieb der Evening Standard vor Monaten, von Sir Mark trat unnahbar auf redete in England niemand. Vielleicht hätte der Zeit Journalist mal seine Hausaufgaben machen sollen, bevor er die Lobeshymne auf Martin Roth schrieb. Mark Jones, der im letzten Jahr als Knight Bachelor für services to the arts geadelt wurde, hat in zehn Jahren die höchsten Besucherzahlen in der Geschichte des Museums erreicht. Er hat auch die kulturellen Kontakte zu dem südostasiatischen Raum vertieft (das V&A hatte 1879 vom India Office das Indian Museum übernommen, eine der größten Sammlungen indischer Kunst). Er hat zu der Gegend ein besonderes Verhältnis, weil er mal ein halbes Jahr am National Museum of Singapore hospitiert hat. Mark Jones kommt aus einer Gelehrtenfamilie, seine Mutter ist die Historikerin Ann Paludan, sein Urgroßvater war der berühmte Gilbert Murray. Aber das wird er im Museum nicht erzählt haben. Weil er sein Privatleben wie alle upper middle class Engländer privat hält.
In ➱Bonn wurde gerade die Ausstellung Art and Design for All: The Victoria and Albert Museum eröffnet. Die Ausstellung geht noch bis zum 15. April 2012, der Katalog kostet 32 €.
Sehr interessant.
AntwortenLöschenSchöne Darstellung falscher Predigen und korrekter Attribute.
Apropos: Heute, 22:30 Uhr WDR WestArt gucken. V&A in Bonn!