Samstag, 19. November 2011

Winterreise


Lieber Schober! Ich bin krank. Ich habe schon elf Tage nichts gegessen und nichts getrunken, und wandle matt und schwankend von Sessel zu Bett und zurück...Sey also so gut, mir in dieser verzweiflungsvollen Lage durch Lectüre zu Hilfe zu kommen. Von Cooper habe ich gelesen: Den letzten der Mohikaner, den Spion, den Lootsen und die Ansiedler. Solltest Du vielleicht noch was von ihm haben, so beschwöre ich Dich, mir solches bey der Frau v. Bogner im Kaffeeh. zu depositiren. Mein Bruder, die Gewissenhaftigkeit selbst, wird solches am gewissenhaftesten mir überbringen. Oder auch etwas Anderes. Dein Freund Schubert.

Das schreibt Schubert auf seinem Krankenbett, kurz vor seinem Tod. Er liebt die Romane von James Fenimore Cooper (Goethe mochte sie auch). Interessant scheint mir, dass er die Ansiedler erwähnt. Der vollständige Titel des Romans ist Die Ansiedler oder die Quellen des Susquehannah (The Pioneers), er war vier Jahre vor Schuberts Tod zum ersten Mal auf Deutsch erschienen. Es kommt viel Schnee in diesem Roman vor. Sehr viel Schnee, gleich zu Anfang.

Und mit dem vielen Schnee in Coopers Pioneers und den augenblicklichen Temperaturen komme ich mal eben auf Schuberts Winterreise, die Schubert ein Jahr vor seinem Tod (er ist heute vor 183 Jahren gestorben) vollendet hatte. Da war der Dichter des Textes, ➱Wilhelm Müller, gerade gestorben. Wahrscheinlich hat er nie erfahren, dass ein Komponist in Wien seine Lieder vertont hatte. Die ersten, die den Zyklus gesungen hörten, waren Schuberts Freunde: Schubert war durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, erwiderte er nur: "Nun ihr werdet bald hören und begreifen". Eines Tages sagte er zu mir: "Komme heute zu Schober, ich werde euch einen Kranz schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu hören, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war". Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze Winterreise durch. Wir waren durch die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, es habe ihm nur ein Lied "Der Lindenbaum" gefallen. Schubert sprach hierauf nur: Mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen. Und er hatte Recht, bald waren wir von dem Eindruck dieser wehmütigen Lieder begeistert...

So hat es Schuberts Freund Joseph von Spaun berichtet. Er schwärmte auch davon, wie Johann Michael Vogl (Bariton), am Klavier vom Komponisten begleitet, diese Lieder gesungen hat. Der hat ja viel zur Verbreitung von Schuberts Liedern getan. Dass sich der Der Lindenbaum sofort durchsetzen würde, leuchtet jedem ein. Aber der ganze Zyklus hat sich, seit es die Schallplatte gibt, doch erstaunlich spät bei Sängern und Publikum durchgesetzt. Inzwischen gibt es so viele Aufnahme von der Winterreise, dass man sie gar nicht mehr übersehen kann, diese schöne ➱Liste ist wahrscheinlich nicht einmal vollständig.

Die Winterreise meiner Jugend, unzählig oft auf meinem Braun ➱Schneewittchensarg abgespielt, war natürlich die 1955er Aufnahme von Dietrich Fischer-Dieskau mit Gerald Moore am Klavier. Fischer-Dieskau hatte Teile aus dem Liederzyklus schon während seiner Gefangenschaft in Italien gesungen. Die Winterreise sollte ihn nie loslassen, ich weiß nicht, wie oft er sie noch gesungen hat. Die erste Tonaufnahme wurde am 19. Januar 1948 in Berlin gemacht, am Klavier war Klaus Billing. Die Aufnahme ist heute noch lieferbar, Fans von FiDi müssen sie natürlich besitzen. Man kann sie trotz aller Schwächen der Aufnahme sicher auch heute noch mit Gewinn hören (man kann ➱hier die einzelnen Lieder anspielen). Es war nicht die erste deutsche Aufnahme in dieser Zeit, wir dürfen nicht vergessen, dass es damals schon zwei Aufnahmen mit Peter Anders gab.

Wenn auch Fischer-Dieskau mit zahlreichen unterschiedlichen Aufnahmen die fünfziger und sechziger Jahre beherrschte, ganz ohne Konkurrenz ist er nicht. Ich lasse einmal die Aufnahme von Hans Hotter unerwähnt, weil ich finde, dass seine Stimme nicht zur Winterreise passt (ich habe die bei EMI in der Reihe Great Recordings of the Century erschienene Aufnahme natürlich). Jemand der Wagner singt, sollte nicht Schubert singen. Und da ich gerade beim Mäkeln bin: so sehr ich ➱Peter Schreier bei der Schönen Müllerin mag (sowohl die Aufnahme mit Walter Olbertz als auch die mit Konrad Ragossnig [Gitarre]), seine Winterreise mag ich nicht. Er kommt viel zu dünn rüber und Swjatoslaw Richter spielt Swjatoslaw Richter aber keine Schubert Liedbegleitung.

Die interessantesten Aufnahmen kommen damals von ausländischen Sängern. Und damit meine ich zum Beispiel Gérard Souzay, der eine echte Konkurrenz zu seinem Freund Fischer-Dieskau ist. Auf meiner Billig CD von Belart (World Famous Premium Quality), die nichts anderes als die Philips Aufnahme ist, können sie zwar seinen Namen nicht richtig schreiben, aber sonst ist das eine tolle Aufnahme. Wenn das etwas mickrige Klavier von Dalton Baldwin nicht wäre. Heute kann man so etwas besser aufnehmen, eine Aufnahme wie die von Thomas Quasthoff mit Daniel Barenboim hat solche Schwächen nicht.

Aber das non plus ultra der sechziger Jahre kommt aus England, von dem Gespann ➱Benjamin Britten und Peter Pears. Die schon zwanzig Jahre lang mit Schubert Liedern aufgetreten waren, aber mit der Decca Aufnahme von 1963 haben sie die Plattenwelt wirklich bereichert. Wir sehen jetzt einmal wohlwollend über die manchmal seltsame Aussprache von Peter Pears hinweg. Als Fischer-Dieskau die Winterreise zum ersten Mal aufnahm, war er dreiundzwanzig. Der Tenor Peter Pears ist fünfundfünfzig und singt wie ein Zwanzigjähriger, das ist wirklich erstaunlich. Und noch erstaunlicher ist das Klavierspiel des Komponisten Benjamin Britten. Fernab von jeder deutschen Tradition haben sich Britten und Pears ihren eigenen Schubert erarbeitet: Sometimes one can be quite daunted when one opens the Winterreise – there seems to be nothing on the page...It was not possible for Schubert to indicate exactly the length of rests and pauses, or the colour of the singer's voice or the clarity or smoothness of consonants. This is the responsibility of each individual performer, and at each performance he will make modifications. The composer expects him to, he would be foolish if he did not.

Ich mache erst einmal Schluss für heute, die neueren Aufnahmen stelle ich ein anderes Mal vor. Wenn noch mehr Winter ist und mein Herz an dem Himmel sein eignes Bild gemalt sieht. Wenn nichts als der Winter, der Winter kalt und wild ist. Einen Geheimtip habe ich zum Schluss auch noch, eine Aufnahme fernab der großen Namen und der großen Labels. Und doch die vielleicht ausgewogenste Aufnahme der Winterreise überhaupt. Aufgenommen 1986 in der Lukaskirche in Dresden und 1997 bei Berlin Classics erschienen. Siegfried Lorenz (der die Winterreise schon 1977 in New York gesungen hatte, für so etwas durfte man auch mal aus der DDR) und Norman Shetler haben da etwas ganz Aussergewöhnliches vollbracht, unspektakulär, frei von erkünstelter Dramatik. Und da es es die Idealaufnahme nicht gibt, weil Fritz Wunderlich zwar zweimal die Schöne Müllerin, aber niemals die Winterreise gesungen hat, bleibt das erst einmal der Tagestip.

Die Winterbilder sind von dem norwegischen Maler Ludvig Munthe.

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