Samstag, 25. Mai 2013

Steve Cochran


Man kann sich Antonionis Film Il Grido ohne den Ton ansehen - es sind die besten Filme, die ohne Ton verständlich sind. Michelangelo Antonionis Film lebt von seinen Bildern. Schöne Bilder, durchkomponierte Bilder. Das hier links ist Dorian Gray (die eigentlich Maria Luisa Mangini heißt), rechts ist Steve Cochran. Der ist Amerikaner, spielt hier aber überzeugend einen Italiener. Steve Cochran wurde am 25. Mai 1917 geboren, das gibt mir Gelegenheit, endlich einmal über Antonionis Il Grido zu schreiben. Ich habe den Film ja wohl schon mehrmals erwähnt. Seit ich ihn an einem heißen Sommertag in den Sixties (wo das Kino so schön kalt war) gesehen habe, gehen mir die Bilder nicht aus dem Kopf.

Steve Cochran nahm das italienische Angebot damals gerne an, seine Hollywood Karriere lief nicht so gut. Falls man überhaupt von einer Karriere sprechen kann. Er ist ganz groß in Nebenrollen (The Best Years of Our Lives [1946] und White Heat [1949] gehören sicher zu seinen besten Filmen), doch Gangster oder Boxer in B-Pictures zu spielen wurde ihm langsam zu langweilig. Er macht mehr Schlagzeilen mit seinen Weibergeschichten, das Englische hat für Leute wie ihn den schönen Ausdruck womanizer erfunden. Zusätzlich zu seinen drei Ehefrauen werden von der Presse noch Mae West, Jayne Mansfield, Joan Crawford, Merle Oberon, Kay Kendall, Ida Lupino und Mamie Van Doren zu seinen Eroberungen gezählt. Was Kay Kendall an ihm fand, weiß ich wirklich nicht. Die passt nicht so richtig in das Beuteschema. Dass sie etwas mit dem Herzog von Edinburgh gehabt haben soll, das mag ich schon eher glauben. Wir vergessen das Ganze jetzt einmal und erinnern uns an die wunderbare Kay Kendall in dem englischen Klassiker ➱Genevieve.

Es sind viele Amerikaner in Italien in den fünfziger Jahren. Manche kommen, weil sie zu Hause (wie Betsy Blair) auf der Schwarzen Liste der selbsternannten Kommunistenjäger wie McCarthy stehen. Manche kommen, um sich ihre Anzüge von italienischen Schneidern machen zu lassen. Oder Sie sind Kunden bei der gerade gegründeten Firma Brioni wie John Wayne oder Anthony Quinn. Der hatte im Jahr vor Antonionis Il Grido in Fellinis La Strada gespielt. Zusammen mit dem jungen Amerikaner Richard Basehart. den wir aus der Moby-Dick Verfilmung kennen. Kirk Douglas spielt hier in Italien den Odysseus in Mario Camerinis Ulisse, John Huston dreht hier Beat the Devil.

Vielleicht sind die amerikanischen Schauspieler in dieser Zeit bei italienischen Regisseuren deshalb so beliebt, weil man auf den amerikanischen Markt schielt. Viele Amerikaner haben Italien bei der Eroberung kennengelernt, viele sind italienischer Herkunft - die werden doch jetzt italienische Filme sehen wollen. Auf die Frage: Why did you choose an American actor to play the part of a worker from the Polesine? Maybe this is what disturbed some critics, hat Antonioni geantwortet: The distributors definitely wanted a foreigner. They thought that an American name would be more appealing to the public. But I must say that I did like Steve Cochran in the film. If no one knew that he was American, if his name had been 'Sergio Michelini,' no one would have objected to him. 

Antonioni hat mit Steve Cochran und Betsy Blair (hier im Bild) zwei Amerikaner im Film. Deren Stimmen mussten natürlich synchronisiert werden (erstaunlicherweise ließ Antonioni aber auch die Stimme von Dorian Gray durch seine spätere Lieblingsschauspielerin Monica Vitti synchronisieren). Lyn Shaw hat auch einen englischen Namen, aber die braucht er nicht zu synchronisieren, denn sie ist wahrscheinlich auch Italienerin.

Obgleich diese Schönheit (häufiger Lynn Shaw geschrieben) eine große Unbekannte bleibt. Man weiß so gut wie nichts über sie, außer dass sie in den fifties mehrfach auf dem Cover von nicht so seriösen englischen Magazinen auftaucht und vielleicht eine Beziehung zu dem englischen Dichter A.S.J. Tessimond gehabt hat. Das Nachkriegsitalien hat ja eine Vielzahl von Filmschönheiten zu bieten, die nicht alle (wie Gina Lollobrigida oder Sophia Loren) in Deutschland berühmt werden. Einen wunderbaren Überblick bietet der italienische Photograph Federico Patellani in seinem Band La plus belle, c'est toi / La piu bella sei tu. Ein Band, der auch für Modeinteressierte interessant ist. Leider schon vergriffen, aber Sie können sich ➱hier alle Photos von Patellani anschauen. Gibt einen eindrucksvollen Einblick in das Nachkriegsitalien.

Steve Cochran (hier im Dufflecoat zusammen mit Antonioni - das Photo läßt etwas von dem schlechten Wetter bei den Dreharbeiten ahnen) ist angeblich nach Italien gekommen, weil er hoffte, hier als Regisseur arbeiten zu können. Auf jeden Fall behauptete das Antonioni. Um es sofort mit which was just absurd! zu kommentieren. Neben den beiden Amerikanern wirkt hier noch eine Italienerin mit, die schon in Hollywood Karriere gemacht hat. Aber jetzt froh ist, David Selznick (der sie zu einer zweiten Greta Garbo machen wollte) entkommen zu sein: Alida Valli. Ihre Filme wie Hitchcocks The Paradine Case (1947), Carol Reeds The Third Man (1949) und Viscontis Senso (1954) hatten sie zu einem Weltstar gemacht.

Selbst wenn ein Film wie Il Grido im Milieu der kleinen Leute spielt und die Damen keine Pelzmäntel mehr tragen wie in den vorangegangen Filmen Cronaca di un amore oder La signora senza camelie, schöne Frauen kann ein Film für einen italienischen Regisseur gar nicht genug haben. Für einen franzöischen Regisseur auch nicht, wie Truffaut so schön sagte Le cinéma c'est de l'art de faire faire de jolies choses à de jolies. Allerdings muss man einschränkend sagen, dass es in Il Grido nicht um jolies choses geht. Dieses Road Movie ante litteram zeigt eher eine Welt der Tristesse, der Tristesse der Landschaft wie der Gefühle. Es ist ein Film, den Antonioni in den nächsten Jahren immer wieder drehen wird, von L'avventura bis Il deserto rosso. Andere Schauspieler, andere Schauplätze, andere Milieus, aber immer der gleiche Film.

Die Bilder sind wie Landschaften der Seele. In der tristen, armseligen Ebene des Po wallen die Nebel, umhüllen die zerfallenden Häuser und löschen alle klaren menschlichen Konturen aus. Dort rauscht ein endloser Regen, verklebt die Gesichter, verwandelt die Erde in eine breiige Masse. Und ein bleigrauer Himmel scheint sich tiefer und tiefer herabzusetzen. Allein von diesen Bildern einer Landschaft, wie sie kein Italien-Urlauber jemals geschaut hat, geht eine eigenartige Faszination aus. Und wie wenig zufällig sie ist, macht ein Seitenblick in Antonionis Biographie klar: 1943 drehte er hier seinen ersten Kurzfilm 'Gente del Po' genau an den gleichen Schauplätzen wie 14 Jahre später dieses einsame Meisterwerk ... Antonioni selbst sagt dazu: 'es ist die Geschichte eines Mannes, der den Kompromiß mit dem Leben nicht findet, weil er ein Mensch mit einer großen Seele ist'. Kaum eine Filmkritik beschreibt den Film besser, als diese vor einem halben Jahrhundert geschriebene von Hans Hellmut Kirst.

Kirst, der auch eines Tages beim ZDF für die Sendung Ratschlag für Kinogänger verantwortlich zeichnete, ist nicht der einzige Romanautor, den der Film beeindruckt hat: Fabio rauchte eine Zigarette und dachte über den Mann nach, den er gestern nachmittag in dem Kino in der Calle Larga gesehen hatte, er hatte den Sonntag nachmittag benutzt, um sich Antonionis neuen Film anzusehen, Fabio liebte gute Filme leidenschaftlich, das Schauspiel faszinierte ihn stets von neuem, aber gestern hatte er mehr gesehen als einen Film, er hatte einen Mann beobachtet, den er nicht aus seinen Gedanken brachte, weil er ihn an etwas erinnert hatte, was ihm, Fabio, fehlte. Dieser Mann hatte sich vor seinen Augen in einem Gelände bewegt, das in Fabios Leben eine weiße Fläche geblieben war. Antonioni hatte ihn gezeigt wie ein Gelehrter, der ein seltsames Insekt vorführt; er wies ihn auf einer Fläche aus weißer Leinwand vor, weiter nichts; er überließ es Fabio, seine Schlüsse selbst zu ziehen.

Auf dieses Zitat folgen fünf Seiten (die Sie auf dieser interessanten Seite lesen können), auf denen Fabio Crepaz über den Film nachdenkt. Fabio Crepaz kommt natürlich in dem Roman Die Rote von Alfred Andersch vor. Die Filmfigur Aldo (gespielt von Steve Cochran) hat Fabio existentiell berührt, er denkt sich - während er uns den Film nacherzählt - in Aldo hinein.

In der großen ferraresischen Ebene, unter dem wässerigen Winterhimmel, blieb Aldo bei einem Mädchen, dem eine Tankstelle gehörte. Der Vater des Mädchens war ein alter, etwas verrückter Mann, und Aldo half dem Mädchen. Sie war eine Hübsche, sie war hübscher als Irma, sie war sinnlich und sie war wunderbar im Bett. Aldo hatte Glück. Nur der Vater störte sie. Er hatte eine Mitgliedskarte der Federazione Anarchicain der Tasche, er war vollkommen einsam, es gab am Unterlauf des Po keine Anarchisten mehr wie in der Toscana. Er beging verrückte Dinge, eines Tages griff er einen Nachbarn an, der sich gerade daran gemacht hatte, ein paar Bäume zu fällen. Virginia sagte zu Aldo: 'Es ist besser, wir bringen ihn ins Ricovero.' Sie stand vor der Kommode, während sie es sagte, sie sagte es wie beiläufig, aber Aldo warf ihr einen schnellen Blick zu, er wußte, wie es gemeint war. 

Wieder eine, dachte er haßerfüllt, die einen Mann wegschickt, weil er ihr lästig geworden ist. Die Tankstelle befand sich in der Nähe von Porto Tolle, an der neuen Straße von Ravenna nach Venedig, und sie brachten den Alten in das Altersheim von Ravenna. Virginia wollte es so. Aldo betrachtete die alten Männer, die in den kalten Korridoren des Ricovero saßen und warteten. Der alte Anarchist war gerne auf der Ebene um Porto Tolle umhergestreift. Antonioni war es darauf angekommen, zu zeigen, daß die Beziehung Aldos zu Virginia der Liebe so ähnlich war wie nur möglich. Hätte Aldo Irma vergessen können, so wäre er einer vollkommenen Täuschung erlegen, ja vielleicht wäre es ihm möglich gewesen, Virginia trotz ihres kleinen Charakters zu lieben. Den letzteren Schluß verneinte Fabio nach einigem Nachdenken, nicht so sehr wegen Virginias Charakter – die Möglichkeit der Liebe hing nicht von den Fehlern oder Vorzügen der Liebenden ab –, sondern weil er wußte, daß ein Ersatz nicht langsam in etwas Echtes umgebildet werden kann.

Einen genialeren Interpreten als Fabio Crepaz hätte sich Antonioni für seinen Film gar nicht wünschen können. Und einen besseren Aldo als Steve Cochran auch nicht. Cochran bewegt sich durch diesen Film, als hätte er sein ganzes Leben in der Po Ebene gelebt, als wäre dies sein wirkliches Leben. Die Suche nach der Liebe sieht bei Antonioni anders aus als in einem Hollywood Film (schauen Sie sich doch einmal Steve Cochran in Tomorrow is Another Day an): Dieser Aldo war für Fabio der fremdeste aller Menschen. Fabio sah ihm zu, als beobachte er einen Polarforscher, der sich über Grönlands Inlandeis bewegte. In einem Gebiet, das für Fabio terra incognita war, ging Aldo so sicher umher, als wandle er im Traum. Es gelang Fabio nicht, seine Besessenheit zu verachten. Aldo kannte etwas, was Fabio nicht kannte.

Antonioni hat Cochran nicht gemocht, er hielt ihn schlichtweg für doof. Steve Cochran konnte Antonioni auch nicht ausstehen. Es ist erstaunlich, welche schauspielerische Leistung der gegenseitige Hass hervorbringt. Michelangelo Antonio ist ein genialer Regisseur, aber er ist auch ein intellektueller Snob. Ich gebe hier einmal ein Interview wieder, das mit Antonioni geführt wurde. Ich habe die Fragenden (Studenten, Professoren, Filmkritiker) zur Vereinfachung mit einem F markiert, es kommt hier nicht auf ihre Namen an:

F: Okay, then here is my question: In your films, you have worked with the following three actors: Lucia Bose, Steve Cochran, and Monica Vitti. Three kinds of experiences, three different types of actors: Lucia Bose, who has done very little before she started working with you; Steve Cochran, whose experience is that of a school much different than ours; and Monica Vitti, who comes to films from the stage. Which of the three gave you the most difficulty?
Antonioni: Steve Cochran. Because he is the least intelligent of the three.
F: Just a moment. Only a short while ago you said you didn't want intelligent actors; you wanted it this way yourself, so why do you regret it now?
Antonioni: Let me explain. He was less intelligent in the sense that when I specifically asked him to do something, he simply refused to do it. I gave him certain directions and told him to follow those directions to the letter, would abruptly tell me, 'No.' 'Why not?' I would ask him. And he would reply, 'Because I'm not a puppet.' Now that was too much to tolerate-after all, there's a limit to everything. As a result, I had to direct him by using tricks without ever telling him what it was I wanted.
F: But it was resolved one way or the other. Either Cochran finally resigned himself to following your directions or else this underhand method you used went well. Because the end results were excellent.
Antonioni: No, because he just went ahead and did everything he want­ed - only he never became aware of the tricks I had to use in order to get what I wanted from him. 

Am Anfang des Filmes steht der Mechaniker Aldo auf einem Fabrikturm, von wo ich mein Haus sah, den Fluß, mein Kind... Am Ende des Filmes sieht er seine Welt noch einmal von dem Turm, dann stürzt er in die Tiefe. Wir wissen nicht, ob es Selbstmord oder ein Schwindelanfall ist. Der französische Filmkritiker Gérard Gozlan schrieb damals in der Filmzeitschrift Positif einen langen Artikel über den Film, der von den Kritkern sehr unterschiedlich aufgenommen wurde:

Da liegt der Skandal: ein Mann begeht Selbstmord, weil ihn eine Frau verlassen hat; ein Mann begeht Selbstmord aus Liebe, da liegt der Widerspruch. Auch hier könnte Brecht von einer 'Krise des Empfindens' sprechen, die für unsere verfaulten Traditionen und das Versagen einer ganzen Skala unserer Gefühle bezeichnend ist, die nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmen ... 'Il Grido' ist nicht, wie man gern behauptet, ein Film zum Ruhm der ewigen Liebe, sondern ganz einfach ein kritischer Film, dessen Held weder schwach noch ohnmächtig, sondern einzig und allein von Sinnen ist: Il Grido ist der Film der Gefühlsverwirrung ... die Macht und Tragweite dieses Liebesfilms macht uns nachdenklich vor der Auffassung unserer Liebe, unserem Liebeswahnsinn, unserer Liebesleidenschaft, unserem Liebesempfinden usw... Ach, ich weiß nicht, dieser ganze Pseudomarxismus der sechziger Jahre ist langweilig geworden. Da bleibe ich doch lieber bei Alfred Andersch:

Am Ende der Stationen seines Dramas führte Antonioni Aldo in ein schwarzes Paradies ohne Scham, als wolle er ihm beweisen, daß sein Drama auch dort noch nicht endete, wo es mit allen Konventionen der Liebe vorbei war. Schließlich hätte Aldo sich sagen können, daß seine ganze Affäre nicht so wichtig sei, wenn es möglich war, die Beziehungen zwischen den Menschen auf eine so einfache Weise zu regeln, wie die Tagelöhner der Emilia sie übten. Aber Antonioni ließ Aldo hartnäckig an der Idee seiner Liebe festhalten, was immer auch die Ethnologen der primitiven Stämme, der Gesellschaften im Urzustand, dazu sagen mochten. Fabio bewunderte Antonionis Eigensinn... Aber wenn ich kennengelernt hätte, was Aldo kannte, überlegte Fabio, woran hätte ich es erkannt? Woran erkennt man die Liebe? Er suchte nach dem richtigen Wort, es konnte nur ein einziges Wort für das Wesen der Liebe geben, und er fand das Wort: es hieß Abhängigkeit.

Mehr Michelangelo Antonioni in diesem Blog unter ➱Swinging London, ➱Michelangelo Antonioni, ➱Antonioni. Als ich das erste Mal über Antonioni schrieb, endet der Post mit: Ich merke gerade, dass ich jetzt Tage (oder Wochen) über Antonioni weiter schreiben könnte. Ich höre erst einmal auf und stelle das ein. Vielleicht ein anderes Mal. So dacht ich. Nächstens mehr, wie Hölderlin am Ende von Hyperion sagt. Ich habe drei Jahre gebraucht, um dieses Nächstens mehr wahr zu machen. Aber ich war am Anfang meines Blogger Lebens, ich wußte noch nicht, wohin es mich führen würde.

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