Donnerstag, 31. Juli 2014

Ruderverein


Das hier, das war der größte Tag des Vegesacker Rudervereins. Die Männer in dem Boot gewannen bei den Olympischen Spielen in Helsinki 1952 die Silbermedaille im Zweier mit Steuermann. Der Steuermann hieß Helmut Noll, er war der ältere Bruder von dem Noll, mit dem ich zur Volksschule ging. Er war mit achtzehn der jüngste Teilnehmer der Olympischen Spiele und bekam im gleichen Jahr noch das Silberne Lorberblatt verliehen. Als unsere drei Helden aus Helsinki zurückkehrten, stand der Ort Kopf. Wir hatten einen Tag schulfrei, und das Haus des Rudervereins in der Strandstraße war bunt geschmückt. Die Silbermedaille bedeutete für uns im Ort das, was zwei Jahre später die Weltmeisterschaft in ➱Bern für Deutschland war.

Die beiden anderen Ruderer hießen Helmut Heinhold und Heinz Manchen. Heinz Manchen ist in einem Familienphotoalbum verewigt, weil meine Mutter auf dem Ball in der Strandlust, den es für die Helden gab, mehrfach mit ihm getanzt hat. Und dabei natürlich photographiert wurde. So eine Mütze wie Helmut Noll hatte ich auch mal, die gehörte eigentlich meinem Bruder, der Mitglied im Ruderverein gewesen war. Das blaue Tatzenkreuz auf der Mütze taucht auch wieder in der Vereinsflagge auf. Es ist eine farbliche Variante des weinroten Hanseatenkreuzes, das auch unser Stadtwappen ziert. Ich war nie im Ruderverein, bin aber später zu den Ruderbällen in der Strandlust gegangen, die ein gesellschaftliches Ereignis waren. Sonst war da ja nicht viel. Mein Bruder mochte die Mütze nicht, so habe ich sie bekommen. Auf einer Vielzahl von Urlaubsphotos, die an Nord- und Ostsee gemacht wurden, bin ich damit zu sehen. Ich glaube, sie liegt noch irgendwo im Schrank. Die Aversion gegen die Vereinsinsignien hatten bei meinem Bruder einen Grund: eine Wochenendwanderfahrt mit dem Vierer ohne Steuermann hatte nach wenigen Flusskilometern ganz schmählich mit einer Kollision mit einem Schlepper geendet. Vielleicht hätten sie einen Vierer mit Steuermann nehmen sollen.

Ich besaß auch mal eine Anstecknadel, die meinem Vater verliehen worden war. Der ruderte zwar nicht, war aber förderndes Mitglied. Ich habe sie Ignaz Miller geschenkt, weil der der einzige war, der die großen Erfolge des Vegesacker Rudervereins kannte. Denn die Silbermedaille 1952 war kein Zufall gewesen, in der Nachkriegszeit und in den fünfziger Jahren heimsten die Ruderer des VRV erste Plätze und Meisterschaften nur so ein. Ignaz Miller, der damals der Chefredakteur der Zeitschrift Watch International der IWC in Schaffhausen war, ruderte auch. Bei der ➱IWC gehörte Rudern zum guten Ton, weil der letzte Besitzer Hans Ernst Homberger ein berühmter Ruderer gewesen war, der auch mal eine Silbermedaille im Rudern gewonnen hatte. Dieses Gebäude im heute schon klassischen Bauhausstil war die Heimat des VRV. Hier hatte mein Vater auch seine Ehrennadel bekommen, was allerdings ein sehr peinlicher Abend war. Vor ihm wurde unser Nachbar geehrt, der dem Alkohol schon mehr als ihm guttat zugesprochen hatte. Er wankte hackevoll zum Mikrophon und so brüllte lange ein Verb mit sechs Buchstaben, das mit f anfing, hinein, bis jemand endlich auf die Idee kam, den Saft des Mikros abzudrehen. Himmel, war das komisch.

Irgendwie war dieser Abend auch der Beginn vom Ende des Rudervereins in Vegesack. Der Verein zog an die Lesum, das Haus wurde an eine Frau vermietet, die sich dreihundert Papageien hielt und das Haus bunt bemalte. Seitdem wird es in touristischen Prospekten als Papageienhaus vermarktet. Selbst auf einer offiziellen Seite der Stadt Bremen kann man Sätze lesen wie: Das Bildhauersymposion 1984 fand als Atelier unter freiem Himmel in der Weseruferpromenade 2 (ehemaliges Papageienhaus) statt. Wörter, die die Welt verändern, die Weseruferpromenade hieß früher schlicht Strandstraße. Dass das 1927 von Ernst Becker-Sassenhof (lesen Sie ➱hier einen langen Post zu dem Architekten) gebaute Haus des Rudervereins ein architektonisches Kleinod des Neuen Bauens ist, setzt sich nicht so durch wie das zugkräftige Papageienhaus. Das Landesdenkmalamt hat das Boots- und Vereinshaus nach der Episode mit den Psittaciformes aufwendig restaurieren lassen, heute dient es Künstlern als Atelier.

Und die Strandstraße, sorry: Weseruferpromenade (hier auf einem Bild von Willi Vogel, der in diesem Blog natürlich einen ➱Post hat) bringt mich zurück in die Vergangenheit. Als da hinter dem kleinen Mäuerchen noch ein richtiger Strand war. Heute ist da eine Spundwand und ein Gitterzaun. Aber kein Sandstrand. Doch dafür heißt es Weseruferpromenade. Und es gibt den hölzernen Anleger nicht mehr, von dem aus die Boot des VRV ins Wasser gelassen wurden, nachdem sie mit einem kleinen Wagen auf Schienen vom Bootshaus zum Anleger geschoben worden waren. Wenn die Boote nicht da waren, gehörte der Anleger uns kleinen Steppkes. Wir lagen auf den Brettern und ließen die Arme im Wasser baumeln. Manchmal fingen wir kleine Aale, warfen sie aber gleich wieder in die Weser. Natürlich nicht, ohne die Trophäe einmal hochgehalten zu haben. Das Wasser war damals noch keine trübe braune Brühe - wie schnell hat sich das alles geändert.

Früher, als die Sommer heißer und schöner waren (was sie in der Erinnerung an Kindertage immer sind) konnte man auf dem ➱Schönebecker Sand noch baden. Das Paradies meiner Kindheit mit dem riesigen Sandstrand, wo ich bei dem Bademeister Hermann Plebansky (der selbst gar nicht schwimmen konnte, wie ich Jahre später erfuhr) in der Weser Schwimmen gelernt habe, ist nicht mehr da. Die Weser ist zu dreckig, um darin zu baden. Es sind diese verlorenen Paradiese, denen wir nachtrauern: der Anleger des Rudervereins, der Schönebecker Sand und die Wälder von Eggestedt.

Damals erschien uns unsere kleine Stadt, die einst ➱Anton Raiser und Friedrich Engels bewundert hatten, perfekt: Wir hatten unsere Gewinner der Silbermedaille. Und Bundespräsident ➱Heuss war hier gewesen, um einen Kreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger zu taufen, schließlich kam der ➱Gründer der DGzRS aus unserem Ort. Und die Werften boomten. Wir konnten nicht ahnen, was die Zukunft bringen würde. Das Hochwasser von 1962, das das Haus neben dem Ruderverein (in dem unser Direx wohnte) unter Wasser setzte, war nicht das Schlimmste (sie können ➱hier den Bericht eines Zeitzeugen lesen). Das Haus hatte sich einst der Architekt Becker-Sassenhof als Wohnhaus gebaut, inzwischen hat man es abgerissen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass das VRV Haus noch steht, weil man den halben Ort abgerissen hat. Dem Hamburger Journalisten Günther Schwarberg, der auch aus Vegesack kommt (und der die Skandalgeschichte von ➱Walter Többens öffentlich gemacht hat), war es eine leidenschaftliche Photoreportage im Stern wert. Man kann die Geschichte über die Zerstörung des Ortes noch in Kurzfassung (und ohne Bilder) in Schwarbergs Buch Das vergesse ich nie unter dem Kapiteltitel 1974: Meine Heimatstadt wird abgerissen nachlesen.

Natürlich bin ich schon mal gerudert, schließlich hatten wir am Zwischenahner Meer unser Boot mit dem Namen F 47 liegen (das aber in Wirklichkeit eigentlich No Moss hieß, lesen Sie ➱hier mehr zu dem Boot). Das war bei Abeking und Rasmussen gebaut, und Henry Rasmussen war 1900 auch zusammen mit dem Stadtdirektor Johann Friedrich Rohr einer der Gründer des Vegesacker Rudervereins gewesen, der damals noch ganz bescheiden unten im Garten des Hotels Bellevue logierte (Bild). Die Boote des Clubs wurden aber nicht von Rasmussen, sondern von Lürssen gebaut, der Werft, die eines Tages durch ihre ➱Schnellboote berühmt wurde. Aber das hat nichts mehr mit dem Rudersport zu tun. Genau genommen zählte Friedrich Lürssen auch mit zu den Gründern des Vereins, denn bevor der sich am 15.12.1900 gründete, war er ein Teil des 1893 gegründeten Vereins Wassersport: Verein für Segeln und Rudern auf der Unterweser gewesen.

Da wo der Ruderverein heute sitzt, in Grohn an der Lesum, da bin ich auch schon einmal gerudert. Ich erzähle die Geschichte gerne, obgleich sie ein wenig peinlich ist. Käpt'n Janssen hatte mir erlaubt, jederzeit das Ruderboot zu benutzen, das auf dem Rasen seines Hauses an der Lesummündung lag. Und da bin ich einmal mit meinem Freund Ekke (der den Lesern dieses Blogs schon bekannte Karikaturist ist übrigens ➱hier zu sehen) die Lesum hinauf gerudert.

Es ist ja ein hübscher Fluss, der sich für Ruderpartien perfekt eignet. Das da oben auf der Grohner Düne (rechts unten ist das Haus von ➱Admiral Brommy) ist eine kleine neugotische ➱Ruine. Vom Turm aus hatte man eine tolle Aussicht über Lesum und Weser, bis weit hinein ins Stedinger Land. Ich weiß das, weil mein Vater mal überlegte, das Gemäuer zu kaufen, aber es war doch zu baufällig.

Es war ein schöner warmer Sommertag, als wir damals losruderten, perfekt für eine Ruderpartie. Wir konnten an die Romanfiguren von ➱Marga Bercks Sommer in Lesmona denken, während wir dahinglitten. In dem Roman wird ja auch viel gerudert: Die anderen Vormittage rudern wir, er rudert meist hinüber ans andere Ufer.... Er spricht oft englisch, und ich antworte deutsch. Im Boot ziehe ich immer meine Schuhe aus, wie ich es von jeher tat. Es ist so befreiend ohne Hut und ohne Schuhe. Dann lege ich mich gemütlich in meine Kissen und sehe in den Himmel oder in Percys Augen, was dasselbe ist.

Wir hätten natürlich auch Daisy, Daisy, give me your answer, do, I'm half crazy all for the love of you singen können, das wir bei ➱James Tröbs gelernt hatten. Das wird im Roman auch gesungen. Wir hätten auch die englischen Kinderreime singen können:

Row, row, row your boat,
Gently down the stream.
Merrily, merrily, merrily, merrily,
Life is but a dream.

Doch als wir die Lesumbrücke erreicht hatten - da wo früher Burmesters Ashanti, die größte Yacht Deutschlands lag - und uns auf den Rückweg machten, da merkten wir, dass wir einen schlimmen Fehler gemacht hatten. Wir hatten nicht an die Flut gedacht. Die Schönheiten des Flusses, die schon bei Friedrich Engels erwähnt werden (Die Lesum bildet mit ihren Hügeln ganz niedliche Ufer, die sogar romantisch sein sollen, wie der Schulmeister von Grohn, einem Dorfe bei Vegesack, auf Ehre versicherte), interessierten uns jetzt nicht mehr. Wir hatten nur noch das Ziel, die acht Kilometer bis zur Lesummündung zu bewältigen. Das Boot war schwer (und die Riemen saßen auch nicht richtig in den Dollen), schwer wie der Fährkahn, mit dem man von Grohn nach Lesumbrook übersetzen konnte, wenn man zur Moorlosen Kirche wandern wollte. 

Da brauchte man nur eine Glocke zu läuten oder Hol Ober (so hieß auch die kleine Fähre, die uns zum Schönebecker Sand brachte) zu rufen und schon kam der Fährmann. Dies Bild ist von 1890, aber der Bootstyp hatte sich auch in den fünfziger Jahren nicht verändert. To cut a long story short, die acht Kilometer gegen die immer stärker werdende Flut waren fürchterlich. Da konnten wir fluchen wie römische Galeerensklaven, es half nichts, das Boot musste zurück. Als wir es endlich auf den Rasen von Kapitän Janssens Garten zogen, haben wir uns erst einmal daneben gelegt. Na ja, gut, dass keine Frauen dabei waren. Und wenigstens hat es nicht geregnet. So wie am Ende des wunderbaren kleinen Romans Three Men in a Boat von Jerome K. Jerome (➱hier im Volltext). Und da ich bei Engländern bin, muss ich das hübsche Bild von Ernest Board noch einmal zeigen, das ich schon in dem Post über ➱Thomas Eakins verwendet habe.

Wir haben auch außer einem Muskelkater (und leichten Verletzungen des Egos) keine bleibenden Schäden davongetragen. Ich habe später natürlich wieder gerudert, mit F47 ging das ganz leicht (Ekke ist sogar Mitglied des Rudervereins geworden). Auf dem Zwischenahner Meer gibt es auch keine Ebbe und keine Flut. Und wenn ich es mir recht überlege, dann besitze ich die Mütze des Rudervereins eigentlich wirklich zu Recht. Sie hat mich mal zehn Mark gekostet. Denn als ich damals meinen klatschnassen Bruder nach der verpatzten Wanderfahrt mit all seinem nassen Gepäck beim Ruderverein abholte, hielt mich vor der ➱Strandlust ein Polizist an. Und belehrte mich, dass ich die Strandstraße gar nicht hätte befahren dürfen. Als ich auf der Polizeiwache mein Ticket bezahlte, sagte der Reviervorsteher zu mir: Tja, Dschunge, das iss Pech. Warum musst Du auch den einzigen Kollegen erwischen, der kein Patient bei Deinem Vater ist.


2 Kommentare:

  1. Das ist eine wirklich schöne Heimatgeschichte. Wirklich, diese Sachen lese ich von Ihnen wirklich gern. Auch wenn ich den Kindervers nur kenne aus dem Mund vom Dr. Leonard McCoy kenne, der versucht dieses Liedchen einem Mr. Spock beizubringen, mit dem er und Cptn. James Tiberias Kirk am Lagerfeuer sitzt. Sorry...

    AntwortenLöschen
  2. Wirklich tolle Heimatgeschichte. So ein Ruderverein ist einfach was tolles.

    Lg Hannah vom

    Seilzug Ruderblog

    AntwortenLöschen