Sonntag, 15. Mai 2016

Hammershøis Bäume


Nicht nur seine Innenräume sind leer von Menschen, auch die Landschaften, die er gemalt hat, sind menschenleer. Man hat ihn den dänischen Vermeer genannt. Vielleicht hätte er es lieber gehabt, wenn man ihn den dänischen Whistler genannt hätte. Den hat er bewundert, hat ihn aber nie getroffen. Landschaften sind nicht unbedingt das, was man mit dem Namen Vilhelm Hammershøi (der heute Geburtstag hat) assoziiert, aber ich muss mal eben dieses Bild zeigen. Weil ich das hübsche Gedicht The Landscapes of Vilhelm Hammershøi von der irischen Dichterin Vona Groarke habe. Das wollte ich eigentlich schon im Poetry Month April hier plazieren, aber irgendwie wurde der Monat zu schnell voll. Macht aber nichts, für ein Gedicht ist in diesem Blog immer Platz:

Between water reading itself a story
with no people in it

and fields, illegible, and a sky
that promises nothing,

least of all what will happen now,
are the trees

that do not believe in
any version of themselves

not even the one in which
they are apparently everyday trees

and not a sequence of wooden frames
for ordinary leaves.

Man ist überrascht, wie viele Bäume man im Werk von Hammershøi findet. Das bringt mich jetzt zu Marcel Proust, fragen Sie mich bitte nicht weshalb. Ich hätte darauf eine Antwort. Ich hatte gerade in Tage der Freuden dieses wunderbare Zitat von Proust gelesen: Ein leichter Windhauch verwirrt auf eine Sekunde die funkelnde, düstere Starre, schwach beben die Bäume, sie wiegen das Licht auf ihren Wipfeln und bewegen den Schatten zu ihren Füßen. Das brachte mich zu einem anderen Zitat mit Bäumen bei Proust. Und das ist mir ein wenig peinlich.

Weil ich vor Jahren durch eine TV Sendung merkte, dass ich eine wichtige Stelle in À la recherche du temps perdu vergessen hatte. In einer französischen Sendung bei arte sprachen ganz normale Menschen wie ein Pariser Taxifahrer (und andere) über ihre Proust Lektüre. Eine der befragten Personen sprach emphatisch von einer Romanstelle mit Bäumen. Was für Bäume? fragte ich mich. Ich hatte die Bäume in Im Schatten junger Mädchenblüte vergessen, die der Erzähler auf einer Kutschfahrt mit Madame de Villeparisis sieht. Das war mir sehr peinlich. Ich musste den halben Roman noch einmal lesen (mit dem Computer kann man die Romanstelle heute schneller finden, hat aber bei der Suche nicht das Lesevergnügen), und da waren die Bäume:

Indessen kamen sie auf mich zu, mythische Erscheinung vielleicht, ein Reigen von Hexen, von Nornen, die mir ihr Orakel verkünden wollten. Ich neigte eher dazu, sie für Erscheinungen aus der Vergangenheit zu halten, teure Kindheitsgefährten, entschwundene Freunde, die gemeinsame Erinnerungen wachrufen wollten. Wie Schatten schienen sie mich zu bitten, ich möchte sie mit mir nehmen, dem Dasein wiedergeben. In ihren kindlichen, leidenschaftlich bewegten Gesichtern erkannte ich die ohnmächtige Trauer eines geliebten Wesens wieder, das den Gebrauch der Sprache verloren hat, das fühlt, es werde uns nicht sagen können, was es ausdrücken will und was wir nicht zu erraten vermögen. [...] Ich sah die Bäume entschwinden, sie streckten verzweifelt die Arme aus, ganz als wollten sie sagen: Was du heute von uns nicht erfährst, wirst du niemals erfahren. Wenn du uns auf den Grund dieses Weges zurücksinken läßt, aus dem wir uns bis zu dir haben heraufheben wollen, wird ein ganzer Teil deiner selbst, den wir dir bringen konnten, für immer verloren sein.

Man findet beim Lesen immer wieder Neues. Oder Altes. Mußte ich vielleicht glauben, sie kämen aus so fernen Jahren meines Lebens herauf, daß die sie umgebende Landschaft in meiner Erinnerung schon völlig ausgelöscht war und daß, wie jene Seiten, die man mit tiefer Bewegung in einem Werk wiederfindet, von dem man meint, man habe es nie gelesen, sie allein noch von allen Dingen aus dem vergessenen Buch meiner Kindheit nicht untergegangen waren?

Wenn ich auch durch die arte Sendung an die Bäume erinnert werden musste, als ich die Romanstelle gefunden hatte, war alles schlagartig wieder da. Ich hätte gar nicht weiterzulesen brauchen. Wenn man Proust vor vielen Jahren gelesen hat, so ist eine erneute Lektüre auch eine Wiederbegegnung mit sich selbst, mit einem Ich, das man einmal gewesen ist. Denn das Gedächtnis, indem es die Vergangenheit in unveränderter Gestalt in die Gegenwart einführt - so nämlich, wie sie sich in dem Augenblick präsentierte, als sie selber noch Gegenwart war - bringt gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der das Leben sich realisiert.

Dank Marcel Proust wissen wir inzwischen auch: In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Dass der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selber erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieses Buches und umgekehrt.

Hätte Proust Hammershøi gemocht? Wir wissen, dass er Vermeer (lesen Sie hier mehr) und Whistler mochte, aber er hat den dänischen Vermeer nicht gekannt. Ich weiß auch nicht, ob Hammershøi je Proust gelesen hat. Der eine geht seiner Erinnerung nach und bevölkert seine Räume randvoll mit Menschen und deren Geschichten. Der andere lässt Staubflocken im Sonnenlicht tanzen. In Zimmern, in denen sich Charles Swann, der Baron Charlus oder die Duchesse de Guermantes niemals aufhalten werden.

Dies ist auch ein Baum von Hammershøi, allerdings ist der von seinem Bruder Svend gemalt, zehn Jahre nachdem Vilhelm seine Landskab fra Kongevejen ved Gentofte. Sommer (ganz oben) gemalt hat. Zu diesem Bild (und den anderen, die Vilhelm Hammershøi an der Straße nach Gentofte gemalt hat, hat der dänische Schriftsteller und Kunsthistoriker Poul Vad etwas Interessantes gesagt: Instead of painting the emotion's sincere but unsentimental connection with the landscape upon the canvas, Hammershøi depicted the dual experience of heartfelt empathy and impassable distance; and instead of painting what is near and distant together in the successive connection inwards into the space of the landscape, he left out everything that could attract attention to the foreground and instead focused sharply on the middle ground; he based the image on the dialectic between the measurable extent of the horizontal plane (from one edge of the frame to the other) and the immeasurable deep space of the air's (and heaven's) perspective.


Ich wünsche all meinen Lesern ein frohes Pfingstfest.

1 Kommentar:

  1. Von denen etlichen Pfingstwundern in Liedkunst, Schreibkunst, Kunstkunst usw.

    Danke für Post!
    Oh, Sie zitieren Marcel Proust:
    "Denn das Gedächtnis, indem es in unveränderter Gestalt in die Gegenwart einführt - so nämlich, wie sie sich in dem Augenblick präsentierte, als sie selber noch Gegenwart war - bringt gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der das Leben sich realisiert."

    cf.: "Der Roman ist eine Landschaft des Gedächtnisses. (...) Das Gedächtnis synchronisiert, wo die Gesellschaft Veränderung nicht mehr zuläßt." (meine Fettung)

    - Ist das oben nicht die Abbreviatur von Prousts Idee?**

    Und wieder Proust:
    "Die Hände der Bäume, die sie uns entgegenstrecken" - das freilich ist, wie ich finde, ein wenig arg.
    Der Grundgedanke, der folgt, ist irschendwie unio mystica für Flaneure. Gibt es, klar.

    Dann kommt eine systematisch bedeutsame Wegkreuzung im europäischen Gedanken-Kataster: Es ist der implizite Leser Konstanzer (Poetik u Hermneutik) Angedenkens. Jauß, Iser.
    Einerseits.
    Andererseits ist diese Bemerkung aber auch - ein wenig zurückgeblieben, weil sie aus der subjektphilosophischen - öh - : Enge? - nicht herausfindet.
    Und das hat Folgen: Wenn alle Bücher nur wir selbst wären: Wozu dann Bücher? Also der Proust-Satz: "In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser seiner selbst", sollte - durch Habermas gewitzt, nun so lauten: Wir gewinnen - und wir verlieren uns, indem wir lesen.
    Gut: Das ist sozusagen ein kleines hiesiges Pfingstwunder: Es ist Habermas per Dylan.
    Geht, weil Dylan im tiefsten Grunde kapiert hat, dass er als song- und danceman gleichsam noch nie allein auf der Welt war...

    ...und was Pfngsten betrifft, so hat Dylan auch da gut aufgepasst: Auf den Wind, von dem die Bibel spricht, der sich zu Pfingsten erhob und die Apostel so beschwingte

    - -


    - -

    the answer / is blowin' in the wind


    Mein inneres Ohr geht gerade 50 Jahre/ am STÜCK / zurück: /THE HOLLIES SING DYLAN

    PS - Hammershois BaIm (Pl. schwäbisch- also a und i separat gesprochen und beides betont) - wirken a wengle doot (wieder schwäbisch...); der Baum vom Bruder Sven verkitscht (die Schleier, die um ihn rumwehen, diese milchig verdoppleten Äste - ).
    Zum dialektischen Schriftsteller und Kunstgeschichtler Poul Vad nur soviel: Bei fast allen Landschaftsbildern ist die Horizontale rekonstruierbar, die Vertikale und die ins Bild hineinführende Sichtachse dagegen offen. Ich halte dafür, sein "dialektischer" Gedanke sei ein rhetorischer Kniff, um diese Grundkalamität in seiner Analyse zu verdecken.
    Indem ich schließe, will ich mich an einen der Bedeutenden unter unseren Zeitgenossen anlehnen: Ah, dialektisch - dann sag mir doch etwas, das nicht dialektisch wäre.

    ** Stammt von Hermann Peter Piwitt - aus dessen Roman Rothschilds, der Proust glaubich viel verdankt. Jedenfalls gibt es eine Nähe der beiden in Sachen Gefühl. Obwohl Piwitt zuweilen bös' über Proust geschimpft hat. Wahrscheinlich aus Hilflosigkeit.

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