Mittwoch, 17. Mai 2023

Après moi le déluge


Am frühen Abend, wir waren gerade auf dem Hof der Kasseler Jugendherberge beim Kicken, kam ein Bus mit blonden Schwedinnen an. Denen wir natürlich mit unseren Fußballkünsten imponieren wollten. Was mir durch einen missglückten Fallrückzieher von Klaus Lindner, für den er von jedem Schiedsrichter die rote Karte bekommen hätte, einen Nasenbeinbruch eintrug. Und meine Chancen sehr minimierte, bei den blonden Schwedinnen in der Nacht noch anzukommen. Im Rot Kreuz Krankenhaus hatte ein Jungarzt Nachtdienst, der keine Lust hatte, meinen Nasenbeinbruch zu behandeln. Hat meinen Kopf einmal links und einmal rechts gedreht und gesagt: Schädelbasisbruch haben Sie keinen. Nach einer durchwachten Nacht habe ich am nächsten Morgen mit meinem Freund Wuddel einen Arzt in der unbekannten Stadt gesucht. Wir nahmen nach einigen Kilometern Wanderung den ersten, auf dessen Schild HNO stand. Der hat den Nasenbeinbruch fachmännisch gerichtet, ein Pflaster drüber, fertig. Ich hatte keinen Krankenschein, war in keiner Kasse, ich habe meine Adresse hinterlassen, er hat meinem Vater nie eine Rechnung geschickt. Ärzte behandelten sich untereinander damals noch ohne Honorare. Das ist heute nicht mehr so. Eigentlich wollte ich sofort wieder zurück ins Bett, aber der sadistische Herbergsvater (der mir in der Nacht immerhin eine emaillierte Schale ans Bett gebracht hat, damit ich das Blut da reinspucken konnte) holt mich da wieder raus, Wuddel und ich müssen zwei Stunden lang im Hof Kartoffeln schälen. Dafür packt er uns dann zur Belohnung zu einer ganz fremden Jugendgruppe in den Bus, die einen Nachmittagsausflug macht.

Irgendwann gibt es einen Halt an einer Talsperre oder einem großen See. Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich liege neben Wuddel unter einem schattenspendenden Baum im Gras, oben auf einem Hügel. Noch weiter oben steht der Bus an der Straße. Tief unter uns ist das Wasser. Über uns ein wunderbarer Sommerhimmel mit weißen Wattewölckchen, die Zeit steht still. Gut, ich habe eine kleine Gehirnerschütterung und habe die ganzen Schmerzmittel geschluckt, die mir der Doc gegeben hat. Ich bin high, und ich erlebe das alles ein wenig in slow motion. Das ist mir schon klar. Man hat immer wieder diese Augenblicke, in denen man alles registriert. In denen einem ist, als ob man träumt. And I asked myself about the present: how wide it was, how deep it was, how much was mine to keep. Eine blonde Schwedin an meiner Seite wäre jetzt auch schön gewesen, aber ich bin froh, dass Wuddel bei mir ist. Ich muss nachher, tüddelig wie ich bin, noch den Hügel hoch. Was für mich ein kurzer Augenblick eines besoffenen Glücks war, war für die Menschen hier achtzehn Jahre zuvor eine Tragödie.

Heute vor achtzig Jahren haben die Engländer im Rahmen der Operation Chastise (chastise heißt Züchtigung) Angriffe mit neuartigen Rollbomben gegen die Edertalsperre, die Möhnetalsperre und die Sorpetalsperre geflogen. Das ist für die Engländer ein gefeierter Sieg gewesen. Der englische König wird die Piloten einen Monat später im Buckingham Palace auszeichnen. Wing Commander Guy Penrose Gibson erhält das Victoria Cross

Der Film The Dam Buster kam 1955 in die Kinos und hatte großen Erfolg in England: On paper 'The Dam Busters' is exciting but the film works brilliantly in allowing the suspense to slowly build as the viewer invests their hopes and fears into this remarkable story. The reward is a slick conclusion that rattles along at a pace that would put many Hollywood blockbusters to shame, sagte die BBC. Das Drehbuch zu dem Film hatte (nach Paul Brickhills Roman The Dam Busters) kein Geringerer als R.C. Sheriff geschrieben, der für Goodbye, Mr. Chips eine Oscar Nominierung erhalten hatte. Vor zehn Jahren hat man mit alten Lancaster Bombern den Angriff in England über dem Derwent Reservoir in Derbyshire noch einmal simuliert, so etwas lieben die Engländer ja. Vor allem, weil die Lancaster Piloten genau an dieser Stelle den Angriff auf die deutschen Talsperren eingeübt haben. Zu der ganzen Operation Chastise habe ich hier eine interessante einstündige Dokumentation.

Ich habe mittlerweile Paul Brickhills Roman gelesen, und ich besitze eine DVD des gleichnamigen Films. Damals, an dem schönen Sommertag, wusste ich mit meiner gebrochenen Nase nichts über die Operation Chastise, jetzt weiß ich beinahe alles darüber. Die 617. Staffel der Royal Air Force, die heute noch existiert, gab sich nach den Angriffen ein Abzeichen, das drei Blitze, eine gebrochenen Damm und das Motto Après moi le déluge zeigt. Aber die Sintflut, die Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung des Ruhrgebiets für Wochen lahmlegt, tötet auch mehr als tausend Zwangsarbeiter und alliierte Gefangene in ihren Lagern.

Luftmarschall Harris war gegen die Operation Chastise, ihm schwebte schon damals so etwas wie Dresden vor. Wir verdanken ihm Sätze wie: Trotz all dem, was in Hamburg geschehen ist, bleibt das Bomben eine relativ humane Methode. Und zu Dresden hat er 1947 in seinem Buch Bomber offensive auch etwas zu sagen: I know that the destruction of so large and splendid a city at this late stage of the war was considered unnecessary even by a good many people who admit that our earlier attacks were as fully justified as any other operation of war. Here I will only say that the attack on Dresden was at the time considered a military necessity by much more important people than myself. Arthur Harris ist der einzige britische Air Marshall, der nach dem Krieg kein Viscount oder Lord wird, nur einen einfachen Baronet Titel hat man für ihn übrig.

Wenn es nach Harris gegangen wäre, hätte es überhaupt keine Spitfires gegeben, es wären nur Bomber gebaut worden. Aber es waren die Spitfires, die die Battle of Britain gewonnen haben. Für Harris ist carpet bombing die Devise, neben dem Spitzmnamen Bomber hat er noch einen zweiten Spitznamen: Butcher, der Schlächter. Den hat er von den RAF Piloten bekommen, jeder zweite RAF Soldat unter seinem Kommando verliert das Leben. Weil Harris Deutschland brennen sehen will. Lübeck bombardiert er, bevor er Dresden bombardiert. Mal zur Probe, weil historische Stadtkerne so schön brennen. Hat er gesagt. Cologne, Lubeck, Rostock—Those are only just the beginning, sagt er 1942 in einem Film der Royal Air Force. Das Flächenbombardement hatte Harris schon zwanzig Jahre vor der Operation Gomorrah mit Erfolg im Irak ausprobiert. Wenige Jahre nach seinem Tod hat Queen Mum ein Denkmal für Harris enthüllt. Viele Engländer waren der Meinung, dass sie da doch ein paar Pink Gins zuviel getrunken hätte und besser zu Hause geblieben wäre. So it goes.

Dieses So it goes steht ebenso wie der oben zitierte Satz And I asked myself about the present: how wide it was, how deep it was, how much was mine to keep in Kurt Vonneguts Roman Slaughterhouse Five. Vonnegut war als Kriegsgefangener in Dresden, er hat die Schrecken der Bombennacht erlebt. Wenn wir heute an die Dresdener Bombennacht und deren Opfer denken, scheinen wir seit dem Jahr 2014 nur über Rechtsradikale zu reden. Vonneguts Romanheld Billy Pilgrim hätte das seltsam gefunden. Sind die Neonazis dafür da, dass wir es vermeiden können, über Dresden nachzudenken? Die ehemalige Piraten Politikerin Mercedes Reichstein protestierte so gegen Pegida. Sie hatte sich mit dem Spruch Bomber Harris Do It Again und nopegida beschriften lassen und das Photo bei Twitter eingestellt. Ist vielleicht sophisticated, aber musste das sein? Kann man, soll man solche Scherze machen? 

Das bringt mich zu Kurt Vonnegut, der nach einem Dresden Besuch in den 1960er Jahren gesagt hat: There is nothing intelligent to say about a massacre. The Dresden atrocity, tremendously expensive and meticulously planned, was so meaningless, finally, that only one person on the entire planet got any benefit from it. I am that person. I wrote this book, which earned a lot of money for me and made my reputation, such as it is. One way or another, I got two or three dollars for every person killed. Some business I'm in. Hier treibt einer mit dem Entsetzen Scherz, aber Vonnegut darf zu dieser bitteren Ironie greifen. Er war dabei.

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