Donnerstag, 9. Juni 2011
Claudio Arrau
Achtzig Jahre auf der Bühne, das muss ihm mal jemand nachmachen. Also gut, Mieczysław Horszowski ist noch älter geworden als er und hatte als Neunzigjähriger noch ein Comeback. Manche Pianisten sterben jung wie Dinu Lipatti, aber viele werden auch sehr alt. Und spielen bis zu ihrem Tod. Wie Claudio Arrau, wie Rubinstein, Horowitz, Horszowski und Backhaus. Wilhelm Kempff ist zwar auch 96 geworden, aber der hatte schon mit 85 Jahren aufgehört. Claudio Arrau ist heute vor zwanzig Jahren gestorben. In dem Jahr sterben drei große Pianisten innerhalb von vier Wochen: Rudolf Serkin (8. Mai), Wilhelm Kempff (23. Mai) und Claudio Arrau. Der kleine (er ist wirklich nur einen Meter und fünfzig klein) Mieczysław Horszowski wird sie alle um zwei Jahre überleben.
Im Internet kann man einen photographischen Abdruck von Horszowskis rechter Hand als Poster kaufen, und selbst wenn kein Zollstock für die Größenrelation daneben liegt, kann man sehen, dass es eine sehr kleine Hand ist. Konnte er überhaupt eine Oktave greifen? Claudio Arrau ist auch relativ klein und zierlich gewesen, aber seine Hände waren für die rasantesten Läufe und die schwierigsten Noten groß genug. Kleine Leute kleiden sich häufig elegant, um von ihrer Größe abzulenken, und Arrau ist immer elegant gewesen. Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Die an der Herrenmode interessierten Leser beachten bitte das Tweedjackett auf dem Photo unten. Zwei Knöpfe am Ärmel (und natürlich echte Knopflöcher), mehr braucht ein Sportjackett auch nicht am Ärmel zu haben!
Das Outfit von Friedrich Gulda wäre ihm sehr fremd gewesen (selbst wenn er auf dem Photo unten ein etwas extravagantes Hemd zu seinem Tweedjackett trägt). Ich erwähne Gulda, weil der bei all seinem Talent ein völliges Gegenbild zu Arrau gewesen ist. Über Gulda habe ich ja ➱letztens etwas geschrieben. Kaum stand das im Netz, fiel mir ein, dass ich ein Jahr ➱zuvor auch schon über ihn geschrieben habe. Das war mir ein wenig peinlich, aber ich habe mich glücklicherweise kaum wiederholt. Ich weiß schon nicht mehr, was ich vor Monaten geschrieben habe. Ich sollte mal eine Pause machen. Und da ich gestern früh die Zahl von 200.000 Seitenzugriffen (in einem Jahr und 7 Tagen) erreicht habe, lasse ich es vielleicht mal etwas langsamer angehen. On verra.
Der kleine Titan, wie man Arrau genannt hat, hat bis zu hundertfünfzig Konzerte im Jahr gegeben, selten eins absagen müssen. Hat nie Starallüren gehabt. Er hat auch nie über seine Kollegen geschludert. Im Alter hat er manche Dirigenten kritisiert, Toscanini weil er weder Sängern noch Instrumentalisten Zeit zum Atmen ließ. Viel Brio, viel Drive, ungeheure Hitzigkeit - aber keine Empathie. Mit Furtwängler ist er gut ausgekommen, aber das einzige Mal, dass er mit Karajan zusammen auftrat, zählt zu seinen unglücklichsten Erlebnissen. Der chilenische Gentleman, der einen großen Teil seines Lebens in Deutschland verbracht hat und der österreichische Herrenmensch auf dem Ego Trip passten einfach nicht zusammen.
Arrau ist wie Wilhelm Kempff jemand gewesen, der alles überzeugend spielen konnte, solche Pianisten sind selten. Und er hat auch beinahe alles gespielt. Rachmaninow mochte er nicht. Über den hat er gesagt: Er war ein brillanter Pianist. Aber seine Musik? Reich an Noten und arm an Sinn. Das gefällt mir ausnehmend, weil ich Rachmaninow eigentlich nicht ausstehen kann. Seien wir ehrlich: Rachmaninow ist doch nur dazu da, um Marilyn Monroe in ➱The Seven Year Itch rumzukriegen und dafür, dass sich David Helfgott sein Leben ruiniert. Ich will gerne zugeben, dass ich alle Rachmaninow CDs besitze, gespielt von dem Engländer Howard Shelley. Der ist ein Nachfahre von Percy Bysshe Shelley und gilt als Rachmaninow Experte. Steht auf jeden Fall auf den CDs. Ich habe die im Packen spottbillig gekauft, lagen wie Blei jahrelang beim Händler.
Das könnte den CDs von Claudio Arrau nicht passieren, man kann sie eigentlich alle hören. Ich habe viel Brahms und Beethoven von ihm. Nichts von Mozart, das kann er bestimmt auch, aber da gibt es andere. Meine Vorlieben habe ich ja im letzten Jahr ➱hier kundgetan. Ich möchte da nur hinzufügen, dass es mir nach jahrzehntelangem Suchen endlich gelungen ist, die Mozart CDs, die mir von Tuija Hakkila noch fehlten, am anderen Ende der Welt aufzutreiben. Was ich von Arrau unbedingt empfehlen kann, ist sein Schubert, das sind seine letzten Aufnahmen gewesen. The Final Sessions steht auch auf der Philips Kassette. Schubert stellt den Pianisten, so Claudio Arrau, vor die Schwierigkeit an einen Punkt der Reife und Tiefgründigkeit zu gelangen, an der man die verschiedenen Elemente seiner Musik zusammenbringen kann. Schubert ist das äußerste Problem der Interpretation. Von daher sind diese Final Sessions sicherlich auch eine Art Vermächtnis.
Auf dem Plattencover der Mozartaufnahmen oben sehen wir Arrau beim Lesen, wahrscheinlich liest er hier Noten. Er ist ein sehr genauer Leser von Noten gewesen, Texttreue ist für ihn sehr wichtig gewesen. Aber in dem Bücherschrank sehen wir auch richtige Bücher, Arrau ist ein großer Leser gewesen, hat jeden Tag mindestens so viele Stunden gelesen wie er am Klavier geübt hat. Joachim Kaiser hat in seinem Buch Große Pianisten in unserer Zeit das Claudio Arrau Kapitel mit dem Satz beendet: Arrau ist der nobelste, der sorgfältigste, der seriöseste Pianist unserer Zeit. Mehr kann man eigentlich nicht sagen.
Jetzt kann ich eigentlich nur noch empfehlen, einmal in dieses Video auf ➱YouTube hineinzuschauen, wo Arrau den zweiten Satz von Beethovens Opus 111 spielt. Die letzte Klaviersonate, wo man so schön bei diesem molto cantabile Satz Wiesengrund, o Wiesengrund singen kann. Es ist atemberaubend, wie er das angeht.
Der Vater der dänischen Königin Margrethe ist ein bedeutender Pianist (und Dirigent) gewesen. Ich weiß jetzt nicht, ob Prince Philip (auch nur ein Knopf am Ärmel des Sportjacketts) auch Piano spielt. Klavierkonzerte hat er sich bei offiziellen Gelegenheiten ja genug anhören müssen. Einen Spieltrieb hat er aber sicherlich. Als er mit seiner Gattin 1965 zum Staatsbesuch in Deutschland war, hatte die Firma Daimler Benz dem königlichen Paar eine neue große Limousine zu Verfügung gestellt. Mit elektrischen Fensterhebern, das gab es vorher überhaupt nicht. Philip hat so lange mit den Knöpfen gespielt, bis die gesamte Elektrik des Mercedes 600 Pullman zusammenbrach und der Wagen in der Mitte von Bonn liegen blieb. Aber auch wenn er vielleicht lieber eine brass band mit Militärmusik hören mag, wir wollen ganz herzlich zu seinem 90. Geburtstag am morgigen Tag gratulieren.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen