Dienstag, 5. Juli 2011

Literaturgeschichte


Fritz Martini ist heute vor 20 Jahren gestorben. Seine Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart begleitete seit 1949 Germanistikstudenten durch das Studium. Sie war bei Kröner in Stuttgart erschienen, wo ja eine Vielzahl von guten Nachschlagewerken verlegt worden sind, man denke an die nützlichen Bücher von Gero von Wilpert. Das Werk war weltweit verbreitet und kam im Laufe der Jahre in italienischer, englischer, spanischer, portugiesischer, polnischer, japanischer und jugoslawischer Übersetzung heraus. 2003 erschien die Literaturgeschichte in der 19. Auflage im Komet Verlag (Köln). Der Komet Verlag ist ein Resteverwurster, der vergriffene Bücher in einer billigen Aufmachung wieder auf den Markt bringt. Ich will da nicht zu kritisch sein, weil ich mal für 10 Euro Winfried Englers Lexikon der französischen Literatur (ursprünglich auch ein Kröner Titel) gekauft habe. Ein erstklassiges Buch! Da nehme ich den Einband und die schlechte Papierqualität in Kauf.

Ich besitze die Deutsche Literaturgeschichte von Martini nicht. Ich habe sie mir mal während meines Studiums von einem Freund geliehen, habe sie ihm aber nach zwei Tagen zurückgegeben. Unerträglich, kann man nicht lesen. Das passagenweise recht wolkige Werk, so der Spiegel in seinem Nachruf auf Martini, blieb trotz oder wegen seines schlichten Konzepts, jede Dichtung als Spiegel ihrer Zeit zu lesen, ... bis heute brauchbar. Weil wir offensichtlich nichts Besseres hatten.

Fritz Martini war schon 1933 in der NSDAP und in der SA, seine Habilitation Das Bauerntum im deutschen Schrifttum. Von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert hat die Machthaber sicherlich auch erfreut. Martini hat über Wilhelm Raabe promoviert und galt seitdem als Raabe Spezialist. Das ist mir ein klein wenig unheimlich. Denn es gibt da noch einen anderen Raabe Spezialisten, der Hans Oppermann heißt. Der hat auch den Wilhelm Raabe Band in der Reihe der Rowohlt Monographien geschrieben, war Mitherausgeber des Jahrbuches der Raabe Gesellschaft und hat an vielen Bänden der Werkausgabe mitgearbeitet. Es ist erstaunlich - oder vielleicht auch nicht - dass die Propagandisten der Nazi Ideologie wie Benno von WieseElisabeth Frenzel (auch Kröner Autorin), Hans Schwerte und Fritz Martini nach dem Krieg wieder Konjunktur haben. Erst mit der so genannten 68er Revolution wird man die Karrieren unserer Vorzeigegermanisten kritisch hinterfragen

Da ist Martini (links) ja noch gut davongekommen, wenn man die Elogen auf ➱dieser Seite liest. Aber warum haben wir keine gute einbändige Literaturgeschichte der deutschen Literatur? Also außer ➱Klabunds Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde? Für die englische und amerikanische Literatur fallen mir gleich mehrere ein. Gut, wir haben eine von Wolfgang Beutin herausgegebene Literaturgeschichte, die zuerst 1979 bei Metzler erschien und seitdem immer wieder überarbeitet worden ist. Und deren Fehlerhaftigkeit von Rezensenten immer wieder mitleidlos besprochen wurde. Besser als die von Martini ist sie wahrscheinlich, aber ihr Schwergewicht (immerhin ein Drittel des Buches) liegt zu sehr auf der deutschsprachigen Literatur nach 1945.

Dann haben wir natürlich noch das voluminöse Werk von Helmut de Boor und Richard Newald. Die Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, die ab 1949 in zwölf Bänden bei Beck in München erschienen ist. Und wir haben die Deutsche Philologie im Aufriß von Wolfgang Stammler, nach einem halben Jahrhundert immer noch eine Fundgrube. Das Gute an dem Standardwerk von de Boor und Newald ist, dass der C.H. Beck Verlag sich zu Neubearbeitungen bereit gefunden hat. Und in einem Fall sogar einen ganzen Band (Band VI) durch einen völlig neuen ersetzt hat. Und den vertraute man zwei Dänen (Sven Aage Jørgensen, Per Øhrgaard) und einem in Dänemark lehrenden Deutschen (Klaus Bohnen) an. Das Ergebnis, Geschichte der deutschen Literatur 1740-1789: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik, ist wahrscheinlich der beste Band der ganzen Reihe.

Da müssen die Ausländer kommen, um der deutschen Germanistik zu zeigen, wie man das richtig macht. Das gilt auch für den wunderbaren kleinen Band German Literature: A Very Short Introduction der Oxford University Press. Die hat eine ganze Reihe von Very Short Introductions, die Boyd Tonkin im Independent als: Expert, concise but far from bland, Oxford's 'Very Short Introductions' series must rank by now as a thinking reader's Wikipedia bezeichnete. Die 170-seitige Übersicht über die deutsche Literatur wurde von keinem Geringeren als Nicholas Boyle geschrieben, dem wir auch eine höchst originelle Goethe Biographie verdanken. Auf jeden Fall die ersten beiden Bände derselben. Auf den dritten Band warten Leser und Fachwelt immer noch. Die deutsche Übersetzung (die leider nicht sehr gut ist) ist bei Beck erschienen, und der Beck Verlag hat sich auch die Very Short Introduction gegriffen und sie vor zwei Jahren auf Deutsch herausgebracht. Damit machen sie natürlich ihrem großen de Boor-Newald selbst Konkurrenz. Wer will heute noch etwas in zwölf Bänden lesen, wenn er es auf 170 Seiten haben kann?

Die Franzosen waren da mal die Vorreiter bei der Präsentation des kompakten Wissens. 1941, während der deutschen Okkupation, hatte Paul Angoulvent die Reihe Que sais-je? bei der Presses Universitaires de France begründet. Billigdruck, immer die gleiche Länge (ca. 120 Seiten), aber das Wissen der ganzen Welt war in diesen kleinen Bänden mit dem Reihentitel des berühmten Satzes von Montaigne. In Deutschland gab es ab 1957 beim Hamburger Verlag Johannes Maria Hoeppner Übersetzungen davon, aber es sind nur zwanzig von fünfzig angekündigten Bänden erschienen. Ich weiß nicht, ob die die deutsche Literatur im Programm hatten, die chinesische und die russische schon. Ich besitze auch die Bände zur englischen und amerikanischen Literatur, die mir schon zu Schülerzeiten ein schönes Wissen bescherten. Wenn auch der Hamburger Hoeppner Verlag irgendwie untergegangen ist, die einmalige französische Reihe Que sais je? gibt es siebzig Jahre nach ihrer Gründung noch immer.

In meinem irgendwann aufgegeben Germanistikstudium (ich hatte genügend Studienfächer) kam die deutsche Literatur nach 1945 nicht vor, dafür aber viel Mittelalter und Barock. In Die kurze Geschichte der deutschen Literatur von Heinz Schlaffer kommt die deutsche Literatur nach 1945 auch nicht vor, allerdings die vor Goethe auch nicht. Was schade ist, denn ich mag Walter von der Vogelweide und Gottfried von Straßburg. Und die Barockdichtung. Auch wenn ich nach der Lektüre von Lohensteins Sophonisbe sagen muss, dass man das nicht unbedingt zu lesen braucht. Aber Schlaffer hat mit seinem Essay in Buchlänge Furore gemacht, "Minima Banalia" oder essayistisches Meisterwerk? fragte die Seite TourLiteratur. Bevor Sie jetzt vier Euro und acht Cent locker machen (der billigste Preis bei Amazon Marketplace), lesen Sie doch erstmal all die Rezensionen auf der TourLiteratur Seite. Oder lesen Sie einfach alles, was ich von Zeit zu Zeit empfehle.

Denn das ist das Problem aller Literaturgeschichten: um kommensurabel zu sein und zwischen zwei Buchdeckel zu passen, präsentieren sie immer nur den Mainstream. Die interessanten Sachen bleiben auf der Strecke. Für so schöne Dinge wie Der schwarze Herr Bahßetup von Albert Vigoleis Thelen oder Der blaue Kammerherr von Wolf von Niebelschütz ist meist kein Platz. Bei mir wird Albert Vigoleis Thelen irgendwann mal vorkommen (Wolf von Niebelschütz habe ich ja immerhin schon einmal gestreift).

Wenn ich bei den ganz kurzen Literaturgeschichten schon einen englischen Gelehrten wie Nicholas Boyle empfohlen habe, dann lohnt bei längeren Werken auch ein Blick über die deutschen Grenzen. Denn immerhin hat die Cambridge University Press seit 1997 für einen Fuffi (Paperback edition) auch einen respektablen Band, The Cambridge History of German Literature, im Programm. Herausgegeben von der Professorin Helen Watanabe-O'Kelly. Die von David E. Wellbery (und anderen) herausgegebene Literaturgeschichte der Harvard University Press ist mittlerweile als Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur auch in deutscher Sprache erschienen. 1219 Seiten, Berlin University Press, ist ein wenig teurer. Falls ich Sie jetzt mit dem Angebot ein wenig verwirrt haben sollte, fangen Sie doch einfach mal mit der vergnüglichen Literaturgeschichte von Klabund an, kostet 10,90 € und lohnt unbedingt die Lektüre.

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