Mittwoch, 14. Mai 2014

Gert Börnsen ✝


Sein Onkel Johnny war der Zeichenlehrer von Helmut Schmidt an der Lichtwarkschule in Hamburg. Er war auch der Zeichenlehrer von meinem Vater, weil der mit Helmut Schmidt in einer Klasse war. Gerts Vater war als Schiffbauer von Hamburg nach Bremen gekommen. Schiffbau war irgendwie erblich in der Familie. Weil sein Vater in diesen Bremer Vorort gezogen war, kam Gert eines Tages an meine Schule, sein jüngerer Bruder auch. Der hat in schöner Familientradition Schiffstechnik studiert, ist dann aber Politiker geworden. Wie Gert.

Wir haben zusammen viel Zeit in Photolabors verbracht, als wir jung waren. Gerts Bruder Arne photographierte auch. Ich habe im Laufe von mehr als einem halben Jahrhundert viele Photos von Gert  gemacht. Keins davon ist im Internet, es gibt glücklicherweise noch eine Zone des Privaten. Er hatte schon früh eine alte Leica, um die ich ihn beneidete. Auch das riesige Tonbandgerät in seinem Wohnzimmer fand ich toll. Um manche Dinge beneidete ich ihn nicht. Also zum Beispiel die Katja Ebstein Platten. Aber er hatte auch den ganzen Degenhardt. Hannes Wader sowieso.

Er sammelte moderne Kunst. Wir fuhren zusammen nach Sonderburg, um Möbel zu kaufen, dänische Möbel waren damals en vogue. Für seine große Leidenschaft, die Ornothologie, konnte er mich nicht gewinnen. Zu jedem vorbeifliegenden Vogel hatte er den richtigen Namen parat, so wie er von jedem Schiff auf der Weser die Bruttoregistertonnen richtig schätzen konnte. Es war enervierend, mit ihm spazieren zu gehen, wenn man sich immer Sätze wie Weibliche Stockente von links oder Ähnliches anhören muss. Über die Nacht auf dem Hammekahn namens Regenfleuter will ich lieber nicht reden. Aber das tat unserer Freundschaft keinen Abbruch. Die Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten kamen immer termingerecht, diese Festtage haben wir in all den Jahrzehnten nie vergessen, wo wir auch waren und was wir auch taten. Die stilvollen Whiskygläser (die wohl von Harjes aus Vegesack stammten), die er mir einmal geschenkt hat, haben - wie unsere Freundschaft - über ein halbes Jahrhundert gehalten.

Ich habe durch ihn bekannte Leute kennengelernt, aber der Jahrmarkt der Eitelkeiten der Politik war nicht meine Welt. Ich beobachtete seine Welt, so wie Thackeray das getan haben würde, mit Distanz und Ironie. Doch ich war auf all seinen Partys und bei vielen seiner öffentlichen Auftritte. Ich kannte das Innenleben seiner Partei. Und all seine Frauen. Alle Geheimnisse sind gut bei mir aufgehoben. Ich ging freiwillig zur Bundeswehr, er studierte in Berlin, da konnte er nicht eingezogen werden. Dann kamen die Swinging Sixties, das Leben lag vor uns: It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair, we had everything before us, we had nothing before us, we were all going direct to Heaven, we were all going direct the other way— in short, the period was so far like the present period, that some of its noisiest authorities insisted on its being received, for good or for evil, in the superlative degree of comparison only.

Nach dem Studium verschlug es ihn nach Kiel, da sahen wir uns ständig. Wir hatten beide einen Bart. Rauchten beide Pfeife, er trank Rotwein, ich Bier. Er konnte noch Platt snacken, wie Jochen Steffen, dessen persönlicher Referent er geworden war. Ich kann es auch noch. Wir konnten auch stundenlang zusammen schweigen. Wir hätten gute Angler abgegeben, aber ich mag keinen Fisch. Manchmal überraschte er mich mit ungeahnten Seiten. So vor Jahren, als er mir plötzlich gestand, dass er in all den Jahrzehnten, trotz Ehefrauen und Lebensgefährtinnen, nur seine Jugendliebe aus unserem Heimatort wirklich geliebt hat. Ich fand das sehr rührend.

Er hatte politische Ideale, zu denen er stand und für die er kämpfte. Er verehrte Jochen Steffen, der das Beste war, was dieser Partei hier oben im Land passieren konnte. Nicht nur, weil er einmal als Kuddl Schnööf den deutschen Kleinkunstpreis gewonnen hatte. Gert war einmal ein mächtiger Mann. Man konnte es ihm nicht ansehen, er umgab sich nicht mit den Insignien der Macht. Er blieb ein vernünftiger Norddeutscher, ebenso normal wie Jochen Steffen. Er war wie Jochen Steffen ein Mann der klaren Worte und war immer geradlinig und aufrichtig. Er hatte nichts von diesen glattgeleckten Politikern in ihren Einheitsanzügen an sich, die heute den Fernsehschirm bevölkern. Im Alter sah er mit seinen weißen Haaren und dem weißen Bart aus wie ein französischer Weinbauer. Irgendwann wurde er abgewählt, da war er über zwanzig Jahre Abgeordneter gewesen. Man kann nicht alle Richtungskämpfe gewinnen.

Ich glaube, dass der Wahlspruch seiner Partei in diesem Bundesland homo homini lupus est ist. Ich fand es schäbig, was eine junge Journalistin namens Susanne Gaschke damals über ihn in der Zeit schrieb. Sie versuchte sich ja später selbst als Politikerin, über den kläglichen Ausgang wollen wir lieber nicht reden. Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich, hat Max Weber gesagt. Ich weiß das nur, weil Gert es gern zitierte. Nach dem Ende seiner politischen Karriere ist er in keinen Talkshows aufgetreten, wie das so viele Politrentner tun. Ich fand, das hatte Stil.

Mein Freund Gert Börnsen ist vor Tagen gestorben. War es zu früh? Oder war es angesichts seiner Krankheit eine Erlösung? Ich weiß es nicht. Doch ist das Mehr oder Weniger in unserer eigenen Lebensdauer nicht weniger lächerlich, wenn wir sie vergleichen mit der Ewigkeit oder auch mit der Dauer der Berge, der Flüsse, der Sterne, der Bäume und sogar einiger Tiere. Sondern die Natur zwingt uns auch dazu. "Tretet aus dieser Welt heraus", sagt sie, wie Ihr hereingetreten seid. Denselben Übergang, den Ihr gemacht habt vom Tode zum Leben, ohne Leidenschaft und ohne Angst, macht ihn wieder vom Leben zum Tode. Der Tod ist ein Stück der Weltordnung; er ist ein Stück des Lebens der Welt.

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