Donnerstag, 4. Mai 2017

Wilhelm Lehmann, Naturdichter


Über Wilhelm Lehmann schreiben heißt: Über einen nahezu Unbekannten, wenn nicht in weiten Kreisen bereits Vergessenen schreiben, steht in einer Studienarbeit, die x-fach im Netz feilgeboten wird. Das ist natürlich kompletter Quatsch, so etwas konnte Werner Siebert 1947 in der ➱Zeit schreiben, aber in einer Arbeit aus dem Jahre 2005 haben die Sätze nichts verloren. Wilhelm Lehmann ist nicht vergssen. Er hat zwar mit dem Vergessensein kokettiert, mit Sätzen wie: Ich habe darunter gelitten, in meinen besten Jahren kaum gelesen zu werden. Sagt er in den fünfziger Jahren sagt, da hat er allerdings gerade wieder Konjunktur.

Wilhelm Lehmann hat heute Geburtstag, vor fünf Jahren habe ich zu seinem 130. Geburtstag den Post ➱Signale geschrieben. Der Post ist am Abend bei einer kleinen Feier der Wilhelm Lehmann Gesellschaft in Eckernförde vorgelesen worden, das war eine Ehre für mich. Im März 2010 tauchte Lehmann zum ersten Mal in meinem Blog in dem Post ➱London auf. Und sein wunderschönes Gedicht ➱Fahrt über den Plöner See konnte ich natürlich auch nicht auslassen. Ich hatte vor Jahrzehnten das Glück, den englischen Dichter und Übersetzer ➱Michael Hamburger zu treffen, woraus eine schöne Brieffreundschaft entstand. Er hat mir viel über Lehmann erzählt. Und mir auch empfohlen, was ich lesen sollte.

Ich besaß die von ➱Karl Krolow besorgte Suhrkamp Ausgabe der Gedichte und die kleine Gesamtwürdigung von Heinz Bruns: Wilhelm Lehmann, sein Leben und Dichten: Eine Chronik. Die war bei ➱Mühlau erschienen, lag da immer im Grabbelkasten. Dichter sind nichts wert, die kommen schon mal schnell in den Grabbelkasten. Ich habe auch ein Exemplar für Michael Hamburger gekauft und es ihm nach England geschickt. Er hatte das natürlich schon, hat sich aber trotzdem gefreut. Ich habe diese beiden Bücher hier genannt, weil sie preiswert eine gute Einführung in das Werk des Dichters aus Eckernförde geben können.

Ich hätte mit den beiden Büchern zufrieden sein können, aber dann kam dieser Tag, an dem mir ein Kollege sagte: Nehmen Sie sich was Sie wollen aus dem Regal. Er war der Redakteur einer kleinen Literaturzeitung, und das Regal an der Wand war voll mit Büchern. Alles Rezensionsexemplare von Verlagen. Bücher, die mich anflehten, dass ich sie rezensieren möge. Ich musterte das Regal kurz, für so etwas brauche ich nicht lange. Ich habe einen Blick für Bücher. Ich griff ins Regal und nahm mir Wilhelm Lehmanns Sämtliche Gedichte, den ersten Band der achtbändigen Gesammelten Werke des Klett-Cotta Verlags. Der Band ist leider nicht so preiswert wie Karl Krolows Edition, er kostet 38€. Man kann ihn aber schon für die Hälte bekommen. Ob Sie 19 oder 38 Euro dafür ausgeben, die 536 Seiten sind es auf jeden Fall wert. Nicht nur wegen des Inhalts und der Annotationen, sie sind auch schön gedruckt. Falls Sie sich an die große Klett-Cotta Ausgabe nicht herantrauen, dann hätte ich noch einen preiswerten Tip, nämlich Wilhelm Lehmann: Ein Lesebuch: Ausgewählte Lyrik und Prosa, herausgegeben von Heinrich Detering und Uwe Pörksen.

Ist bei Wallstein erschienen, wie auch die Biographie Lehmanns von David Scrase. Die habe ich gelesen, kann mich aber nicht daran erinnern, sie gelesen zu haben. Hat keine Spuren hinterlassen. Überhaupt keine. Ist kein gutes Zeichen, ich empfehle die mal sicherheitshalber nicht. Beim Wallstein Verlag erscheint auch Sichtbare Zeit, das Journal der Wilhelm Lehmann Gesellschaft. Ich habe den von Uwe Pörksen herausgegeben Band III, der den Titel Wilhelm Lehmann zwischen Naturwissen und Poesie hat. Ich erwähne den Band, weil ich heute, wie der Titel des Posts sagt, auf den Naturdichter Lehmann hinaus will. Das Etikett ➱Naturdichter klebt ja an ihm, seitdem er sein Bukolisches Tagebuch veröffentlicht hat. Dem Text vorangestellt ist ein Zitat von von Arnim: Nur darum werden die eigenen, unbedeutenden Lebensereignisse gern ein Anlaß der Dichtung, weil wir sie mit mehr Wahrheit angeschaut haben, als uns an den größern Weltbegebenheiten gemeinhin vergönnt ist. Vielleicht ist das auch ein Motto von Wilhelm Lehmann.

Den Band III habe ich im ➱Antiquariat mitgenommen, weil da ein Aufsatz von Axel Goodbody drin war. War auch ein Aufsatz von Peter Handke drin, aber der interessierte mich nicht so sehr. Axel Goodbody kenne ich, weil ich ihn als Lektor von Dublin nach Kiel geholt habe. Auf die Leute, die uns ➱Eda Sagarra vom Trinity College empfahl, konnte man sich immer verlassen. Axel hat dann hier seine Dissertation geschrieben, in der es um die deutsche Naturlyrik ging, von Novalis und Eichendorff bis Wilhelm Lehmann. Es ist ein weiter Weg von der Blauen Blume der Romantik bis zum ➱Wiesenschaumkraut. Das Große im Kleinen zu sehen, ist das Thema des Naturdichters. Da ist Lehmann ➱Barthold Heinrich Brockes ähnlich, ohne dessen Hang zur Religion. Dass einer seiner Gedichtbände Der grüne Gott heißt, ist von schöner heidnischer Symbolik. Für Peter Rühmkorf war Lehmanns Beschwörung des Mythos nur Anlass für die kleine Sottise Rückkehr des Mythos aus dem Geist der Kleingärtnerei.

Nicht jeder von Lehmanns Kollegen und Kritikern konnte die Konzentration auf die eigenen, unbedeutenden Lebensereignisse und die Botanik goutieren. So schrieb Hans Egon Holthusen bei der Interpretation eines Lehmann Gedichts: Welt ist für ihn Natur, Zeit ist Jahreszeit, der Mensch in seinen sozialen Relationen, in seiner metaphysischen und religiösen Bestimmbarkeit wird nicht gesehen, er ist in einen ausweglosen Dschungel von Vegetation verbannt, ein Wesen ohne übernatürliche Hoffnung.

Noch witziger (und bösartiger) brachte das Johannes Bobrowski in Naturdichter Lehmann zum Ausdruck:

Gründelnd immer im Grund der tiefsten Natur, daß wir wähnten
Alge geworden ihn schon, Ameise, Spinn’ oder Lurch, –
da erscheint er, und just zum Monatsersten, zu welchem
Zwecke denn? Freundlich quittiert, pünktlich er seine Pension.

Für diejenigen, die noch nie ein Naturgedicht von Wilhelm Lehmann gelesen haben, stelle ich einmal die Sonnenwende hier hin:

In zarte Schlinge faßt den Fuß, 
Den staubigen, das Zittergras.
Mir deucht die Wasserprimel blaß
Von langen Tages langem Kuß.

Da schon die Rosenkrone fiel,
Die Ulmennuß, der Ahornstiel,
Nimmt sie ein Wind sich noch zum Spiel
Auf ihren letzten Wegen.
Mit Mottenleib und Fliegenrest
Hält sie der Spinnenfaden fest.
Die Hitze kocht den Spinnenstrick
Im überhellen Mittagslicht
So hell, daß mir das Auge bricht;
Er schlingt sich auch um mein Genick,
So will ich mich nicht regen.

Mein Haar, dem Wind ein Zeitvertreib, 
Mit Rosenkrone, Fliegenleib, 
Mit Ulmennuß und Ahornstiel
Und mit dem Grashalm, schnell gemäht,
Vom Spinnenfaden eingenäht,
Kann ich mich nicht mehr regen -
Mit allem, was dem Staub verfiel 
Und dem die Schönheit nichts genützt,
Von nichts als vom Gedicht beschützt
Auf allen meinen Wegen.

Kann man dem Gedicht entnehmen, dass es im Juni 1933 geschrieben wurde (vor einem Gewitter, wie Lehmann vermerkte)? In dem Gedicht finden sich keine Sätze wie: Wir Nationalsozialisten stehen auf dem Boden des Führerprinzips. Wir alle, jeder an seiner statt, sind dazu aufgerufen, die Hammerschläge des Dritten Reiches auszuführen. Die stammen vom neuen Bürgermeister von Eckernförde, der in der selben Partei wie Lehmann ist. Denn der Dichter ist im Mai in die NSDAP eingetreten, gegen seine innersten Überzeugungen. Er hat sich immer dafür geschämt (da ist er ganz anders als ➱Manfred Hausmann). Helmuth Lemke (hier in schmucker Uniform) hat sich nie dafür geschämt, er wird noch Ministerpräsident von Schleswig-Holstein werdn. Wenn wir das Gedicht Sonnenwende mit diesem Hintergrundwissen noch einmal lesen, dann bekommen Sätze wie Vom Spinnenfaden eingenäht, Kann ich mich nicht mehr regen eine ganz andere Bedeutung. Und wir können auch glauben, dass der Dichter sich von nichts als vom Gedicht beschützt fühlt.

Manchmal konnte es Lehmann nicht mehr ertragen, als Naturlyriker abgestempelt zu werden. Er war ja niemand, der mit Botanisiertrommel, Knickerbockerhosen und Baskenmütze durch die Wiesen von Osterby und Windeby lief. Und er hatte ja ganz andere Sachen geschrieben. So zum Beispiel diese unnachahmlichen Zeilen in dem Gedicht ➱In Solothurn:

Die Wasser rauschen, Eichendorff zum Dank.
Hôtel de la Couronne. Mit goldnen Gittern schweifen die Balkone.
Ein Auto hielt. War sie’s, die in den Sitz sich schwang?
Adieu! Dein Reiseschal des Windes Fang.

Der Literaturwissenschaftler Werner Ross schrieb 1961 in der NZZ über Die Botanik des Dichters: Kein Kräutlein, blüht, kein Hälmlein wächst, das ihm nicht zum Zauberstab diente. Die Götter und Feen stehen auf Abruf bereit. ... Ist das Göttliche der Natur, das die Griechen naiv gefabelt, Spinoza und Goethe tief gedacht haben, wirklich so zum Zugreifen nahe? Der Dichter schreibt im Grunde nur e i n Gedicht, sagt Lehmann einmal, und wirklich sind alle zweihundertsiebzig Seiten seiner Gedichtbücher nur Variationen zum Thema dieses einen Gedichts aber halten Traum und Trance, Entzücken und Verklärung so lange durch? Möchte man nicht auch einmal einem Ermatten, einem Befremden, einem Sich Verschließen der immer freundlichen Großen Mutter begegnen? Ein unverdächtiger Zeuge ist der große Altmeister selbst, Goethe, der Dichter und Botaniker .... Und dann spielte Werner Ross Goethe gegen Lehmann aus (lesen Sie ➱hier mehr).

Lehmann antwortete mit einem Gedicht, das er nach dem Titel des Essays von Werner Ross auch Botanik des Dichters nannte:

Goethen raste sie im Blut.
Ist das nicht gefährlich?
'Mischest du Botanik ein,
Bitte, Dichter, spärlich!'

Wer so überlegen rät
Klassisch inspiriert,
Seinem Goethe hat er erst
Goethe wegkastriert.

Hüte dich vor Einsamkeit
als der schlimmsten Droge,
Schlimmer noch, Naturgefühls
Ganz verfluchtem Soge.

Allzu schneller Zauberei
Darf man sich nicht fügen.
Götter, Feen griffbereit,
Das sind leere Lügen.

Stets Natur? Das macht mich toll.
Darf die große Mutter nie
Ihren Sohn verdrießen,
Ihrer strahlenden Magie
Er sich nie verschließen?
Zu viel Licht, zu wenig Schatten!
Mehr Befremden, mehr Ermatten
Will das dichterische Soll.

Siedle doch zu besserm Nutz
Auf polierter Straße,
Balancier ins Gleichgewicht
Der gewohnten Maße.

Fast dreihundert Seiten lang
Spricht Natur. Zu viel!
Sittliche Geselligkeit
Mangelt deinem Spiel.

Duckt sich unter diesem Rat
Meiner Verse Liebestat?
Leider gibst du ihn zu spät,
Alter Mann ist der Poet,
Doch auch wär er wieder jung,
Nicht gelobt er Besserung.

Arme Verse, seid getrost,
Ihm nicht recht geheuer.
Tut nur immer, was ihr tut!
Wenn ihr solchen Leser bost
Eines andern andrem Mut
Bleibt ihr weiter teuer.

Lehmann verstand es, sich zu wehren, in Prosa oder Versen. Er ist jahrzehntelang Lehrer gewesen, da lernt man das Überleben. Für Professor Hugo Friedrich hatte er die schönen Sätze übrig: Zu Unwahrheit endlich zergeht die Theorie, wenn sie in die Hände eines dritten oder vierten Erben fällt. Aus der Tiefe geraten wir ins Seichte, wenn der Romanist Hugo Friedrich zu der Feststellung gelangt: moderne Lyrik sei eine kühle Angelegenheit geworden. Gefällt mir ungemein. Meine etwas bösartigen Bemerkungen über Hugo Friedrich finden sich ➱hier. Und auch für Werner Ross hatte er noch etwas wirklich Häßliches parat:

Selbst ein unfruchtbares Wesen
kann aus Goethe allerlei erlesen.
Vor Gefahren, glaubst du, müßest du mich warnen.
Ruhig wächst der Baum, magst du ihn auch beharnen.
Feind der Dichtung, Unzulänglichkeit dein Fluch:
Und begegnet dir Venus, du bleibst ein Eunuch.

Was wären wir ohne Schopenhauers Eristische Dialektik?

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