Es gibt genügend Moor in Emily Brontës Roman Wuthering Heights, und das Moor, das immer etwas Unheimliches hat, findet sich immer wieder in der Literatur. Da verschwinden Menschen und werden nie wieder gesehen. Oder tauchen als Moorleiche wieder auf. Als ich über ➱Emily Brontë schrieb, kam es mir in den Sinn, einmal über das Moor zu schreiben. Etwas, was mir seit kleinauf vertraut ist, schließlich lag das Teufelsmoor sozusagen vor unserer Haustür. Auch wenn Rilke sagte: Ein grausiges Land, in dem ihr da lebt, er bleibt in ➱Worpswede.
Ich zeichne Ihnen das mal auf, man kann das nur schwer finden, sagte der Mann, mit dem ich am Tisch eines Gasthauses am Zwischenahner Meer saß. Er griff sich einen Bierdeckel vom Nachbartisch, holte einen Kugelschreiber aus der Tasche und begann zu zeichnen. Zeichnen war nicht unbedingt seine Stärke, aber er erklärte alles, was er auf den Bierdeckel brachte. Zuerst dieser lange Birkenweg, dann dreieinhalb Kilometer bis zu dem kleinen Kiefernwäldchen, und dahinter, da isses. Müssen Sie zwanzig Meter rechts reingehen, können Sie vom Weg nich sehen. Es war da, ein perfektes kleines Hochmoor, vielleicht fünfzig Meter breit und fünfzig Meter lang. Ein kleiner Tümpel mittendrin und viel Sonnentau. Den hatte ich schon seit der Volksschule nicht mehr gesehen. Zweimal im Jahr, wenn wir in unserem Schullandheim in Eggestedt waren, hielt uns unser Lehrer Herr Blume einen kleinen Vortrag über das Moor. Er hatte auch immer in einer kleinen Schachtel oder einer Dose eine Fliege dabei, die er an den ➱Sonnentau verfütterte.
Einen Vortrag im Moor ganz anderer Art habe ich Jahrzehnte später gehört. Wir waren im Manöver und wurden um Mitternacht aus unseren Zelten geholt, marschierten dann einen Kilometer über die Plaine und mussten dann antreten. Das Gelände war hell erleuchtet, zwei englische Bergepanzer waren dabei, einen von unseren ➱HS-30 Schützenpanzern aus dem Moor zu ziehen. Und unser Kompaniechef hielt uns einen Vortrag über die Feinde des Panzers. Wozu Minen, Panzerabwehrkanonen und die Panzerfaust gehörten. Aber das Schlimmste, sagte unser Hauptmann mit erhobener Stimme, das wirklich Schlimmste, das ist ein bescheuerter Panzerfahrer, der seinen Panzer im Moor versenkt. Wir durften wegtreten, blieben aber noch, weil wir sehen wollten, ob es den Engländern wirklich gelang, den HS-30 zu retten. Es gelang ihnen, sie machten das offensichtlich nicht zum ersten Mal.
In der Literatur wird das Moor meist mit Schauer und Schrecken verbunden, die meisten von uns kennen noch dieses O, schaurig ists, übers Moor zu gehn von Annette von Droste-Hülshoff. Ich habe die Frau für das melodramatische Gedicht immer gehasst. Aber das Moor in Adalbert Stifters Nachkommenschaften gefällt mir:
Was nötig war, hatte ich schon gestern vorbereitet, Farben, Pinsel, und viele Blätter, darauf gemalt werden konnte; denn ich wollte Moor in Morgenbeleuchtung, Moor in Vormittagbeleuchtung, Moor in Mittagbeleuchtung, Moor in Nachmittagbeleuchtung beginnen, und alle Tage an den Stunden, die dazu geeignet wären, an dem entsprechenden Blatte malen, so lange es der Himmel erlaubte. Moor im Regen hatte ich mir schon vorgenommen von meinem Fenster aus zu malen. Über das Moor im Nebel habe ich noch nicht nachgedacht. Es ist doch ein Glück, daß ich für meinen Kasten eine Vorrichtung erfunden habe, viel ölnasse Blätter in ihm unterbringen zu können, ohne daß sie sich verwischen. Wir wollen mal hoffen, dass unser Maler im Lüpfinger Moor solch schöne Wolken gemalt hat, wie sie Adabert Stifter gemalt hat.
An dieser Stelle möchte ich meinen Lesern sagen, dass ich - obgleich ich mit ➱Adalbert Stifter und ➱Mein Stifter zwei wirkliche schöne Stifter Posts geschrieben habe - mit Nachsommer noch keine Seite weiter bin. Moorgedichte sind auch nicht jedermanns Sache. Ich habe einmal Seamus Heaney getroffen, er war noch kein Nobelpreisträger, hatte aber wunderbare rote Hosenträger. Er war an dem Tag ein klein wenig von Moorleichen besessen. Während wir unser Guinness (das ist ja auch ein Zeuch, das wie Moorwasser schmeckt) tranken, erzählte er mir, dass er sich am nächsten Tag die ➱Moorleiche in Schleswig anschauen wollte und dann nach Silkeborg weiterreisen wollte (aus der Reise ist sein Gedicht ➱Tollund Man entstanden). In Heaneys Gedichtsammlung North wird es noch mehrere bog poems geben.
Mein liebstes Moorgedicht ist von Emily Dickinson (die ➱hier schon einen Post hat), es ist, wie so häufig bei ihr, sehr kurz. Bleibt aber im Kopf:
I never saw a moor,
I never saw the sea;
Yet know I how the heather looks,
And what a wave must be.
I never spoke with God,
Nor visited in heaven;
Yet certain am I of the spot
As if the chart were given.
Ich schreibe diesen Post nicht nur, weil ich von den Brontës noch viel Moor im Kopf habe, sondern auch, weil heute der Todestag von Jürgen Christian Findorff ist. Der hatte ➱hier schon mal einen Post, der aber leider kaum gelesen wurde. Findorff war Tischler, aber eigentlich war er ein Universalgenie. Das mit dem Genie schreibt auch eine hannöversche Kommission nach London: Dieser Mann, der ein wahres Genie ist, und mit einem redlichen Character und vorzüglicher Geschicklichkeit einen unermüdeten Fleiß und gewissenhafte Betriebsamkeit verbindet, hat, durch eine langjährige Erfahrung geleitet, sich eine so gründliche und ausgebreitete Kenntnis erworben. ➱George III versteht den Text, und er gesteht dem Mann, den er 1771 zum Moorcommisar ernannt hat und ihm die Aufsicht über die neuen Kulturen und die Generalwahrnehmung des Moorbauungswerkes zugewiesen hat, endlich ein festes Gehalt zu.
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß
heißt es im zweiten Teil von Goethes Faust, es geht hier um Landgewinnung. Vielleicht hatte Goethe den Deichbau an der Elbe im Sinn. Aber ein halbes Jahrhundert zuvor hatte der Moorkommissar Findorff schon so etwas wahrgemacht, wovon Dr Faust träumte. Der Königlich-Hannoversche Moorkommissar Jürgen Christian Findorff (hier hat ihn ➱Heinrich Vogeler gemalt) verspricht den Ärmsten der Armen ein Stück Land, wenn sie an seinem Plan mitarbeiten, achttausend Gräben und Kanäle zu ziehen. Dafür konnte er nicht jeden gebrauchen: Es ist besser fleißige, als bloß bemittelte Leute zum Anbau zu nehmen…. Vor allen Dingen hüte man sich, Säufer und Prozeßgänger aufzunehmen; diese Leute taugen gar nicht im Mohre, schreibt Findorffs in seinem Moorkatechismus.
Diejenigen, die am Plan von Findorff, aus einer feuchten Wüste urbares Land zu machen, mitarbeiten, denken nicht an Goethes Worte Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß. Für sie heißt es eher Den ersten sien dood, den tweeten sien noot, den drütten sien broot. Das Jahresgehalt, dass der König seinem Moorkommissar spendiert, ist gut angelegt. Ohne ihn wäre das Ganze nie gelungen. Und bei allem ist er bescheiden. Wenn die Gnarrenburger Kirche (die ohne ihn nicht gebaut worden wäre) 1790 feierlich eingeweiht wird, wird der Superintendent Johann Hinrich Pratje zu Findorff sagen: Die Angelegenheit dieses Baues wurde einem Mann übertragen, zu dessen wohlverdientem Ruhm ich alles sagen könnte und würde, wenn ich nicht befürchten müsste, dass ich seine seltene Mäßigkeit und Bescheidenheit beleidigen möchte.
Das Ende des Siebenjährigen Krieges ist der Beginn eines beispiellosen Aufschwungs im Kurfürstentum Hannover. Die Franzosen sind verschwunden, den ➱Cumberland wird man hier auch nie wieder sehen. Jetzt blüht Niedersachsen auf. Johann Hieronymus Schroeter begründet in Lilienthal im Teufelsmoor eine Sternwarte, die zu einer der führenden Sternwarten der Welt werden wird. Sie wird schon in den Posts ➱Zeiss und ➱Astronomie erwähnt. Und natürlich bei ➱Arno (Otto) Schmidt, weil der über Lilienthal sein letztes Werk, das Romanfragment Lilienthal oder die Astronomen, geschrieben hat.
Und dann ist da noch Albrecht Daniel Thaer aus Celle, der sich dort eine solch schöne Villa im englischen Stil leisten kann. Er wird über die englische Landwirtschaft schreiben, aber er war nie in England. Sein Buch wird auch in England gelesen (und gelobt) werden, und unseren Dr Thaer nennt man heute den Begründer der Agrarwissenschaft. George III hatte ihn zu seinem Leibarzt ernannt, kommt aber nie nach Celle oder Hannover, Dr Thaer nicht nach London. Vielleicht ist er aber auch für die ➱englischen Prinzen da, denn in Göttingen studieren drei Söhne von George III.
Was Dr Thaer für sein Studium der englischen Landwirtschaft braucht, das leiht er sich aus der Bibliothek seines Freundes Jobst Anton von Hinüber, einem Amtmann und Wegebauintendant. Und der bedeutendentesten Landwirtschaftsreformer im Kurfürstentum Hannover. Der übrigens auch mit dem Hinübersche Garten einen der frühesten englischen Landschaftsgärten in Deutschland angelegt hat (wenn Sie alles zum englischen Landschaftsgarten wissen wollen, dann klicken Sie bitte ➱hier).
Mit Pflanzen hat auch ➱Albrecht Roth in meinem Heimatort Vegesack zu tun, er ist der erste, der den Fang und Verdauungsmechanismus beim Rundblättrigen Sonnentau beschreibt. George III schenkt ihm auf seine Bitte ein Stück Land an der Weser. Wahrscheinlich glaubt er, der gute Dr Roth wolle da einen englischen Garten anlegen, aber weit gefehlt. Dr Roth, der mit Goethe korrespondieren wird, pflanzt da alles an, was die Seeleute ihm aus der weiten Welt mitbringen. Wenn ich bisher nur Gelehrte aus dem Kurfürstentum Hannover genannt habe, muss ich jetzt auch mal die Bremer erwähnen. Denn Bremen gehört damals auch zu Hannover. Und da gibt es neben Albrecht Roth eine Vielzahl von Naturforschern: Ludolf Treviranus, Franz Carl Mertens und Gustav Focke. Wenn man da noch die Astronomen Olbers und Bessel dazu nimmt, hätte man leicht eine Universität gründen können.
Natürlich haben wir nicht nur Moorkolonisation und Agrarwissenschaft, wir haben auch Kultur im Lande Hannover, vor allem an der Universität Göttingen, die George II gegründet hat. In Bremen haben wir damals nicht so viel Kultur. Heute auch nicht. Seit 1732 gibt es in Hannover den Wöchentlichen hannoverschen Intelligenz-Zettul, seit 1743 kann man in Hannover Tee kaufen. 1778 wird die Königliche Roß-Arzney-Schule gegründet, die erste Tierärztliche Hochschule in Deutschland. Zehn Jahre später veröffentlicht ➱Adolf Freiherr Knigges sein Buch Über den Umgang mit Menschen in Hannover. Die zeitliche Abfolge ist interessant: erst kommen die Pferde, dann das gute Benehmen. Nicht vergessen sollten wir unseren Universalgelehrten Georg Lichtenberg, der George III 1770 durch die Sternwarte von Kew führte und der Lehrer seiner drei Söhne in Göttingen war.
Dieses kleine Panomara hannöverscher Kultur mit dem Moor in Morgenbeleuchtung, Moor in Vormittagbeleuchtung, Moor in Mittagbeleuchtung, Moor in Nachmittagbeleuchtung nach dem Siebenjährigen Krieg musste mal eben sein. Unser Moorkommissar Findorff ist der einzige, der nicht auf der Universität gewesen ist, dennoch kann man ihn den anderen, die in der Zeit der Aufklärung in das Kurfürstentum Hannover Wissenschaft und Kultur bringen, durchaus gleichstellen. Er war zu bescheiden, auf seine Leistungen hinzuweisen: Wenn ich etwas verdient habe, wird es mir ungesucht schon werden.
An meinem Findorff Post von 2014 klebte noch etwas von meiner bisher unvollendenten ➱Autobiographie dran. Und obgleich das heute mal wieder viel zu lang geworden ist, stelle ich das heute auch noch hier her: mein erster Tag im Teufelsmoor. Der Sonntagnachmittag, den ich da beschreibe, liegt über sechzig Jahre zurück, aber ich habe nichts von der Stimmung vergessen. Ich habe etwas geerbt, was in der Familie läuft, von dem ich manchmal nicht weiß, ob es ein Segen oder ein Fluch ist. Es ist dieses Gedächtnis. Ich kann mich an beinahe alles erinnern, noch nach Jahrzehnten. Ich kann es mir visuell wieder vor Augen führen, es ist auch ein eidetisches Gedächtnis. Ich habe den Kopf voller kleiner Filme. Manche Augenblicke im Leben, der genius loci mancher Orte, manche Stimmungen scheinen mich zu überwältigen. Ich scheine gleichzeitig alles zu sehen, hören, riechen. Es ist aber nicht immer schön, an manche Dinge möchte man lieber nicht erinnert werden. An diesen Tag im Moor schon:
Teufelsmoor. Allein schon der Name. Wenn man fünf Jahre alt ist und die ganze Familie aus westfälischen Geschichtenerzählern besteht, in deren Geschichten der Teufel eine Person ist, die Opa oder Onkel Gustav, Onkel Werner oder wem auch immer schon mehrfach begegnet ist, dann hat der Teufel schon eine Bedeutung. Zumal Pastor Hemmelgarn auch jeden Sonntag von der Kanzel herunter gegen den Teufel wettert. Aber irgendwie schien Pastor Hemmelgarns Teufel anders zu sein als der Teufel von Opa. Der Teufel von Opa erschien natürlich nicht, ohne eine schweflige Spur zu hinterlassen: die kannste da noch sehen, in Drebber (oder war es Hilter? oder Dissen? Bad Rothenfelde?). Die Spuren des Teufels waren für mich in meiner Vorstellung gleich neben der Brandspur des Feuerrades, das Opa mitternachts die ganze Dorfstraße herunter verfolgte und dem er nur durch einen Sprung in die Tenne von Vahlenkamps Bauernhaus entkommen konnte, und da an der Tür, da kannste die Brandspur noch sehen. Die Geschichten mit den übernatürlichen Erscheinungen spielten alle in der Heimat meines Großvaters, niemals in Bremen. Immer wenn wir von Bremen kommend die Dammer Berge am Horizont sahen, waren wir in einem Land, in dem sich Sagen, Märchen und familiäre Anekdoten übergangslos mischten. Vorher hatten wir noch eine Pause eingelegt, bei der Opa im Wald verschwand. Erst Jahre später habe ich erfahren, dass dies keine normale Pinkelpause war: der Gang Opas in den Wald war ein Gang zu einem Albert Leo Schlageter-Denkmal, dem Opa rituell seine militärische Reverenz erweisen musste.
Aber über den Teufel redete mein Opa an diesem Sonntag im Teufelsmoor nicht. Während die Familie, Bauern und einige Lohnarbeiter mit Torfstechen und Verladen beschäftigt war, klärte er uns über das Lebenswerk des Königlichen Moorkommissars Jürgen Christian Findorff auf, der dieses Moor der Natur abgerungen hatte und Vater aller Moorbauern genannt wurde. Diese zivilisatorische Leistung wurde verglichen mit Friedrich dem Großen und dem Oderbruch. Diejenigen, die den ganzen Tag gearbeitet und keine Maulaffen feilgehalten hatten, nahmen solche Belehrungen eher unwillig auf, auch wenn sie mit plattdeutschen Weisheiten wie Den ersten sien dood, den tweeten sien noot, den drütten sien broot gewürzt waren. Aber wahrscheinlich erwarteten sie von einem pensionierten Lehrer auch nichts anderes. Findorff kannte ich, ein Bremer Stadtviertel hieß nach ihm, und damals konnte man da auf einem Kanal auch noch die Halbhuntschiffe sehen, die Torf aus dem Teufelsmoor zum Findorffer Torfhafen brachten. Dort war auch ein kleiner Markt mit Buden, das war immer aufregend. Das Oderbruch sagte mir nichts, ich war noch nicht bis zu Fontane vorgedrungen. Ich war ja auch erst fünf.
Der kleine Lastwagen von Onkel Gustav ist in der letzten Woche nicht gewaschen worden, Johnny Otten hatte strikte Anweisung von Gustav, nicht wie üblich morgens den Wasserschlauch zu nehmen. Es ist der gleiche Lastwagen, mit dem Mammi wenige Jahre zuvor ihre Schwiegermutter aus dem Feuersturm von Hamburg herausgeholt hat. Jetzt steht er staubüberzogen am Straßenrand, und man kann die blaue Schrift Färberei, Wäscherei, Chem. Reinigung nur ahnen. Camouflage, sagt Opa, und ich weiß nicht, was das ist. Meine Mutter und Tante Tilla tragen geblümte Baumwollkleider und Gummistiefel. Sie kochen Kaffee auf einem Karbidkocher, der noch aus Wehrmachtsbeständen stammt. Wir Kinder dürfen uns dem Karbidkocher nicht nähern. Zu gefährlich, verkündet Opa und erzählt Schauergeschichten von explodierenden Karbidöfen. Im Schauergeschichtenerzählen ist er gut. Oma strickt an einem Pullover, der bestimmt wieder aus dieser immer kratzigen Wolle meiner Kindheit sein wird.
Der Frühsommertag geht zu Ende, es wird langsam dunkel. Der Lastwagen ist mit Torf beladen. Alle sitzen auf der anderen Seite der Birkenallee, die eigentlich nur ein besserer Knüppeldamm ist, unter einer kleinen Baumgruppe. Es sind die einzigen Bäume weit und breit, die Birken zählt hier keiner als Bäume. Man kann hier ungehindert bis zum Horizont sehen. In der Ferne gibt es eine kleine Erhebung und etwas Wald, das muss der Weyerberg sein. Der Sage nach ist er entstanden, als der schlaue Fischer Dietrich den gefürchteten Riesen Hüklüt überredet hatte, sich den Sand der Bremer Düne in die Taschen zu stopfen. Woraufhin dieser prompt im Teufelsmoor versank, noch einmal in die Tasche griff und eine Handvoll Sand nach Dietrich schleuderte, und das ist nun der Weyerberg. Neben dem Berg muss Worpswede sein. Wo die Roten wohnen, sagt mein Opa. Ich weiß nicht, wer die Roten sind. Aber für meinen Großvater, den kaisertreuen Hauptmann des Ersten Weltkriegs, Träger des EK I und des weinroten Hanseatenkreuzes, sind sie überall. Ein Bettlaken ist auf dem Heideboden ausgebreitet, darauf stehen Kaffeetassen und anderes Geschirr. Die Fahrräder sind an einen Baumstamm gelehnt. Unser Schäferhund Hasso liegt hechelnd im Schatten. Ein Kuchen wird angeschnitten, Gustav holt eine Flasche Doppelkorn aus dem Fahrerhaus.
Es wechselt kein Geld den Besitzer an diesem Sonntagnachmittag, Geld gibt es nicht, oder wenn es welches gibt, dann ist es nichts wert. Niemand weiß, was die Währungsreform demnächst bringt. Mein Vater, Onkel Gustav und die Moorbauern stehen in einer kleinen Gruppe zusammen und trinken Doppelkorn. Die Ladung Torf wird in Naturalien bezahlt werden. Gustav wird die Wäsche der Bauern waschen, Kleider und Mäntel umfärben. Und bei meinem Vater ist die nächste Zahnbehandlung umsonst. Die Währungsreform kommt wenige Wochen später, dann werde ich mit meiner Mutter in einer langen Schlange vor dem Backsteingebäude der Oberschule stehen. Später darf ich Oma und Opa ihr Geld bringen, Opa guckt die Scheine skeptisch an. Die Generationen, die noch in einem Deutschland geboren wurde, das noch einen Kaiser hatte, haben schon alle möglichen Geldscheine gesehen. Findorff fängt mit hundert Reichstalern an, wir fangen mit vierzig Mark an, jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Vor allem, wenn man noch Kind ist.
Ich schreibe diesen Post nicht nur, weil ich von den Brontës noch viel Moor im Kopf habe, sondern auch, weil heute der Todestag von Jürgen Christian Findorff ist. Der hatte ➱hier schon mal einen Post, der aber leider kaum gelesen wurde. Findorff war Tischler, aber eigentlich war er ein Universalgenie. Das mit dem Genie schreibt auch eine hannöversche Kommission nach London: Dieser Mann, der ein wahres Genie ist, und mit einem redlichen Character und vorzüglicher Geschicklichkeit einen unermüdeten Fleiß und gewissenhafte Betriebsamkeit verbindet, hat, durch eine langjährige Erfahrung geleitet, sich eine so gründliche und ausgebreitete Kenntnis erworben. ➱George III versteht den Text, und er gesteht dem Mann, den er 1771 zum Moorcommisar ernannt hat und ihm die Aufsicht über die neuen Kulturen und die Generalwahrnehmung des Moorbauungswerkes zugewiesen hat, endlich ein festes Gehalt zu.
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß
heißt es im zweiten Teil von Goethes Faust, es geht hier um Landgewinnung. Vielleicht hatte Goethe den Deichbau an der Elbe im Sinn. Aber ein halbes Jahrhundert zuvor hatte der Moorkommissar Findorff schon so etwas wahrgemacht, wovon Dr Faust träumte. Der Königlich-Hannoversche Moorkommissar Jürgen Christian Findorff (hier hat ihn ➱Heinrich Vogeler gemalt) verspricht den Ärmsten der Armen ein Stück Land, wenn sie an seinem Plan mitarbeiten, achttausend Gräben und Kanäle zu ziehen. Dafür konnte er nicht jeden gebrauchen: Es ist besser fleißige, als bloß bemittelte Leute zum Anbau zu nehmen…. Vor allen Dingen hüte man sich, Säufer und Prozeßgänger aufzunehmen; diese Leute taugen gar nicht im Mohre, schreibt Findorffs in seinem Moorkatechismus.
Diejenigen, die am Plan von Findorff, aus einer feuchten Wüste urbares Land zu machen, mitarbeiten, denken nicht an Goethes Worte Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß. Für sie heißt es eher Den ersten sien dood, den tweeten sien noot, den drütten sien broot. Das Jahresgehalt, dass der König seinem Moorkommissar spendiert, ist gut angelegt. Ohne ihn wäre das Ganze nie gelungen. Und bei allem ist er bescheiden. Wenn die Gnarrenburger Kirche (die ohne ihn nicht gebaut worden wäre) 1790 feierlich eingeweiht wird, wird der Superintendent Johann Hinrich Pratje zu Findorff sagen: Die Angelegenheit dieses Baues wurde einem Mann übertragen, zu dessen wohlverdientem Ruhm ich alles sagen könnte und würde, wenn ich nicht befürchten müsste, dass ich seine seltene Mäßigkeit und Bescheidenheit beleidigen möchte.
Das Ende des Siebenjährigen Krieges ist der Beginn eines beispiellosen Aufschwungs im Kurfürstentum Hannover. Die Franzosen sind verschwunden, den ➱Cumberland wird man hier auch nie wieder sehen. Jetzt blüht Niedersachsen auf. Johann Hieronymus Schroeter begründet in Lilienthal im Teufelsmoor eine Sternwarte, die zu einer der führenden Sternwarten der Welt werden wird. Sie wird schon in den Posts ➱Zeiss und ➱Astronomie erwähnt. Und natürlich bei ➱Arno (Otto) Schmidt, weil der über Lilienthal sein letztes Werk, das Romanfragment Lilienthal oder die Astronomen, geschrieben hat.
Und dann ist da noch Albrecht Daniel Thaer aus Celle, der sich dort eine solch schöne Villa im englischen Stil leisten kann. Er wird über die englische Landwirtschaft schreiben, aber er war nie in England. Sein Buch wird auch in England gelesen (und gelobt) werden, und unseren Dr Thaer nennt man heute den Begründer der Agrarwissenschaft. George III hatte ihn zu seinem Leibarzt ernannt, kommt aber nie nach Celle oder Hannover, Dr Thaer nicht nach London. Vielleicht ist er aber auch für die ➱englischen Prinzen da, denn in Göttingen studieren drei Söhne von George III.
Was Dr Thaer für sein Studium der englischen Landwirtschaft braucht, das leiht er sich aus der Bibliothek seines Freundes Jobst Anton von Hinüber, einem Amtmann und Wegebauintendant. Und der bedeutendentesten Landwirtschaftsreformer im Kurfürstentum Hannover. Der übrigens auch mit dem Hinübersche Garten einen der frühesten englischen Landschaftsgärten in Deutschland angelegt hat (wenn Sie alles zum englischen Landschaftsgarten wissen wollen, dann klicken Sie bitte ➱hier).
Mit Pflanzen hat auch ➱Albrecht Roth in meinem Heimatort Vegesack zu tun, er ist der erste, der den Fang und Verdauungsmechanismus beim Rundblättrigen Sonnentau beschreibt. George III schenkt ihm auf seine Bitte ein Stück Land an der Weser. Wahrscheinlich glaubt er, der gute Dr Roth wolle da einen englischen Garten anlegen, aber weit gefehlt. Dr Roth, der mit Goethe korrespondieren wird, pflanzt da alles an, was die Seeleute ihm aus der weiten Welt mitbringen. Wenn ich bisher nur Gelehrte aus dem Kurfürstentum Hannover genannt habe, muss ich jetzt auch mal die Bremer erwähnen. Denn Bremen gehört damals auch zu Hannover. Und da gibt es neben Albrecht Roth eine Vielzahl von Naturforschern: Ludolf Treviranus, Franz Carl Mertens und Gustav Focke. Wenn man da noch die Astronomen Olbers und Bessel dazu nimmt, hätte man leicht eine Universität gründen können.
Dieses kleine Panomara hannöverscher Kultur mit dem Moor in Morgenbeleuchtung, Moor in Vormittagbeleuchtung, Moor in Mittagbeleuchtung, Moor in Nachmittagbeleuchtung nach dem Siebenjährigen Krieg musste mal eben sein. Unser Moorkommissar Findorff ist der einzige, der nicht auf der Universität gewesen ist, dennoch kann man ihn den anderen, die in der Zeit der Aufklärung in das Kurfürstentum Hannover Wissenschaft und Kultur bringen, durchaus gleichstellen. Er war zu bescheiden, auf seine Leistungen hinzuweisen: Wenn ich etwas verdient habe, wird es mir ungesucht schon werden.
An meinem Findorff Post von 2014 klebte noch etwas von meiner bisher unvollendenten ➱Autobiographie dran. Und obgleich das heute mal wieder viel zu lang geworden ist, stelle ich das heute auch noch hier her: mein erster Tag im Teufelsmoor. Der Sonntagnachmittag, den ich da beschreibe, liegt über sechzig Jahre zurück, aber ich habe nichts von der Stimmung vergessen. Ich habe etwas geerbt, was in der Familie läuft, von dem ich manchmal nicht weiß, ob es ein Segen oder ein Fluch ist. Es ist dieses Gedächtnis. Ich kann mich an beinahe alles erinnern, noch nach Jahrzehnten. Ich kann es mir visuell wieder vor Augen führen, es ist auch ein eidetisches Gedächtnis. Ich habe den Kopf voller kleiner Filme. Manche Augenblicke im Leben, der genius loci mancher Orte, manche Stimmungen scheinen mich zu überwältigen. Ich scheine gleichzeitig alles zu sehen, hören, riechen. Es ist aber nicht immer schön, an manche Dinge möchte man lieber nicht erinnert werden. An diesen Tag im Moor schon:
Teufelsmoor. Allein schon der Name. Wenn man fünf Jahre alt ist und die ganze Familie aus westfälischen Geschichtenerzählern besteht, in deren Geschichten der Teufel eine Person ist, die Opa oder Onkel Gustav, Onkel Werner oder wem auch immer schon mehrfach begegnet ist, dann hat der Teufel schon eine Bedeutung. Zumal Pastor Hemmelgarn auch jeden Sonntag von der Kanzel herunter gegen den Teufel wettert. Aber irgendwie schien Pastor Hemmelgarns Teufel anders zu sein als der Teufel von Opa. Der Teufel von Opa erschien natürlich nicht, ohne eine schweflige Spur zu hinterlassen: die kannste da noch sehen, in Drebber (oder war es Hilter? oder Dissen? Bad Rothenfelde?). Die Spuren des Teufels waren für mich in meiner Vorstellung gleich neben der Brandspur des Feuerrades, das Opa mitternachts die ganze Dorfstraße herunter verfolgte und dem er nur durch einen Sprung in die Tenne von Vahlenkamps Bauernhaus entkommen konnte, und da an der Tür, da kannste die Brandspur noch sehen. Die Geschichten mit den übernatürlichen Erscheinungen spielten alle in der Heimat meines Großvaters, niemals in Bremen. Immer wenn wir von Bremen kommend die Dammer Berge am Horizont sahen, waren wir in einem Land, in dem sich Sagen, Märchen und familiäre Anekdoten übergangslos mischten. Vorher hatten wir noch eine Pause eingelegt, bei der Opa im Wald verschwand. Erst Jahre später habe ich erfahren, dass dies keine normale Pinkelpause war: der Gang Opas in den Wald war ein Gang zu einem Albert Leo Schlageter-Denkmal, dem Opa rituell seine militärische Reverenz erweisen musste.
Aber über den Teufel redete mein Opa an diesem Sonntag im Teufelsmoor nicht. Während die Familie, Bauern und einige Lohnarbeiter mit Torfstechen und Verladen beschäftigt war, klärte er uns über das Lebenswerk des Königlichen Moorkommissars Jürgen Christian Findorff auf, der dieses Moor der Natur abgerungen hatte und Vater aller Moorbauern genannt wurde. Diese zivilisatorische Leistung wurde verglichen mit Friedrich dem Großen und dem Oderbruch. Diejenigen, die den ganzen Tag gearbeitet und keine Maulaffen feilgehalten hatten, nahmen solche Belehrungen eher unwillig auf, auch wenn sie mit plattdeutschen Weisheiten wie Den ersten sien dood, den tweeten sien noot, den drütten sien broot gewürzt waren. Aber wahrscheinlich erwarteten sie von einem pensionierten Lehrer auch nichts anderes. Findorff kannte ich, ein Bremer Stadtviertel hieß nach ihm, und damals konnte man da auf einem Kanal auch noch die Halbhuntschiffe sehen, die Torf aus dem Teufelsmoor zum Findorffer Torfhafen brachten. Dort war auch ein kleiner Markt mit Buden, das war immer aufregend. Das Oderbruch sagte mir nichts, ich war noch nicht bis zu Fontane vorgedrungen. Ich war ja auch erst fünf.
Der kleine Lastwagen von Onkel Gustav ist in der letzten Woche nicht gewaschen worden, Johnny Otten hatte strikte Anweisung von Gustav, nicht wie üblich morgens den Wasserschlauch zu nehmen. Es ist der gleiche Lastwagen, mit dem Mammi wenige Jahre zuvor ihre Schwiegermutter aus dem Feuersturm von Hamburg herausgeholt hat. Jetzt steht er staubüberzogen am Straßenrand, und man kann die blaue Schrift Färberei, Wäscherei, Chem. Reinigung nur ahnen. Camouflage, sagt Opa, und ich weiß nicht, was das ist. Meine Mutter und Tante Tilla tragen geblümte Baumwollkleider und Gummistiefel. Sie kochen Kaffee auf einem Karbidkocher, der noch aus Wehrmachtsbeständen stammt. Wir Kinder dürfen uns dem Karbidkocher nicht nähern. Zu gefährlich, verkündet Opa und erzählt Schauergeschichten von explodierenden Karbidöfen. Im Schauergeschichtenerzählen ist er gut. Oma strickt an einem Pullover, der bestimmt wieder aus dieser immer kratzigen Wolle meiner Kindheit sein wird.
Der Frühsommertag geht zu Ende, es wird langsam dunkel. Der Lastwagen ist mit Torf beladen. Alle sitzen auf der anderen Seite der Birkenallee, die eigentlich nur ein besserer Knüppeldamm ist, unter einer kleinen Baumgruppe. Es sind die einzigen Bäume weit und breit, die Birken zählt hier keiner als Bäume. Man kann hier ungehindert bis zum Horizont sehen. In der Ferne gibt es eine kleine Erhebung und etwas Wald, das muss der Weyerberg sein. Der Sage nach ist er entstanden, als der schlaue Fischer Dietrich den gefürchteten Riesen Hüklüt überredet hatte, sich den Sand der Bremer Düne in die Taschen zu stopfen. Woraufhin dieser prompt im Teufelsmoor versank, noch einmal in die Tasche griff und eine Handvoll Sand nach Dietrich schleuderte, und das ist nun der Weyerberg. Neben dem Berg muss Worpswede sein. Wo die Roten wohnen, sagt mein Opa. Ich weiß nicht, wer die Roten sind. Aber für meinen Großvater, den kaisertreuen Hauptmann des Ersten Weltkriegs, Träger des EK I und des weinroten Hanseatenkreuzes, sind sie überall. Ein Bettlaken ist auf dem Heideboden ausgebreitet, darauf stehen Kaffeetassen und anderes Geschirr. Die Fahrräder sind an einen Baumstamm gelehnt. Unser Schäferhund Hasso liegt hechelnd im Schatten. Ein Kuchen wird angeschnitten, Gustav holt eine Flasche Doppelkorn aus dem Fahrerhaus.
Es wechselt kein Geld den Besitzer an diesem Sonntagnachmittag, Geld gibt es nicht, oder wenn es welches gibt, dann ist es nichts wert. Niemand weiß, was die Währungsreform demnächst bringt. Mein Vater, Onkel Gustav und die Moorbauern stehen in einer kleinen Gruppe zusammen und trinken Doppelkorn. Die Ladung Torf wird in Naturalien bezahlt werden. Gustav wird die Wäsche der Bauern waschen, Kleider und Mäntel umfärben. Und bei meinem Vater ist die nächste Zahnbehandlung umsonst. Die Währungsreform kommt wenige Wochen später, dann werde ich mit meiner Mutter in einer langen Schlange vor dem Backsteingebäude der Oberschule stehen. Später darf ich Oma und Opa ihr Geld bringen, Opa guckt die Scheine skeptisch an. Die Generationen, die noch in einem Deutschland geboren wurde, das noch einen Kaiser hatte, haben schon alle möglichen Geldscheine gesehen. Findorff fängt mit hundert Reichstalern an, wir fangen mit vierzig Mark an, jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Vor allem, wenn man noch Kind ist.
Ich mag diese gelegentlich überlangen Geschichten, die mal hier mal dahin springen und doch zusammengehalten werden. Hier durch das Moor.
AntwortenLöschenIch habe zwar keinen Panzer im Moor versinken sehen aber ein Kamerad versenkte mal seine AK-47 in einem Moorloch. Da stellte sich dann die Frage, ob er sie verloren hat, da er ja noch wusste, wo sie ist.
Gut und wichtig ist der Hinweis auf das Guinnes. Da war ich vor einigen Wochen, am Ursprung des edlen Gesöffs aus einem Land, dass da immer noch fünf Torfkraftwerke betreibt. In der Nähe riecht es wie früher bei uns im Osten gelegentlich. Aber das Wasser für das Guinnes stammt aus den Bergen bei Dublin.
Prost! auf das Moor, das Guinnes und Ihre Geschichten drumherum.
Viele Grüße aus MeckPom.