Dienstag, 18. Juli 2017

Vaterländisches Gedicht


Da ist kein Halten mehr,
Und ein »Zurück!« gar kein Begriff. – Und »Vorwärts!«
Und unterm roten Dach zusammenschwimmen
Mit Sturm die großen Waffenbrüder Blücher
Und Wellington zum ersten Wiedersehn
Bei Waterloo.

In ihrem Handschlag grüßen
Zwei Heere sich – zwei Siege – ganz Europa.
Hoch über Mein und Dein und alle Rechnung,
Zu groß ein jeder in sich selbst und zu
Verbrüdert in dem andern, legt auch jeder
Des Tages Palme in des Bruders Hand.
»Groß, Kinder, unser Tag!« ruft Blücher, selig
So schöner Waffenbrüderschaft. »Die Schlacht
Heißt Waterloo, der Sieg heißt Belle-Alliance!
Der Tag kann mehr als einen Namen tragen.« –

Wahrscheinlich kennen Sie dieses Gedicht nicht, über das ein preußischer Prinz sagte: Kanonendonner in solchen melodischen Versen macht das Kriegshandwerk populär. Das Gedicht Waterloo machte seinen Verfasser Christian Friedrich Scherenberg berühmt. Alexander von Humboldt liebte es, und der preußische König verlieh dem armen Dichter eine Stelle als Bibliothekar im Kriegsministerium. Da war er gut aufgehoben, denn viele seiner Gedichte handelten vom Krieg (die Schlachten von ➱Leuthen und ➱Ligny hat er auch bedichtet). Wenn Sie wollen, können Sie Scherenbergs vaterländisches Epos Waterloo ➱hier lesen. Es ist ein kurioses Gedicht, formlos wie eine Schlacht. Aber in manchen Passagen trägt es schon die Moderne in sich, doch meistens ist Scherenberg nur eine Art Lord Byron für Arme.

Er hat seine Gedichte immer wieder überarbeitet, er hat sie immer wieder vorgelesen (unter anderem Ferdinand Lassalle), beim Lesen erkannte er die rhythmischen Schwächen, also wurde wieder überarbeitet. Aber liest es sich wirklich gut?

Schon dreimal brandete versiegend her
Die Flut am heißen Damme seiner Feuer:
Geschütz vor auf Geschütz! – Und aus dem Wald
Der Bajonette vor, entgegen aus
Der Hölle Ligny packen heulend sich
Die ehernen Löwen mit der heißen Tatze.
Erstürmt den Friedhof! Und durch Heck' und Zweig
Herrauscht's, und über Plank' und Mauer knatternd
Am Leib den Preußen sitzt der Voltigeur.
Abschütteln sich die starren Reihen auf
Gut preußisch, und was fällt, bleibt liegen bis
Zum Jüngsten Tag – gesegnet wird der Kirchhof!


Der Ruhm Scherenbergs war von kurzer Dauer, bei seinem Tod war er so gut wie vergessen. Nicht ganz, denn einer seiner Bekannten aus der literarischen Gesellschaft Tunnel über der Spree veröffentlichte drei Jahre nach seinem Tod eine ➱Biographie über seinen Kollegen. Der Biograph ist kein Geringerer als ➱Theodor Fontane. Er hatte zu Beginn der Niederschrift beschlossen, Scherenbergs Werke nicht noch einmal zu lesen: Liest Du das alles Eine innere Stimme sagt mir: 'Liest du das alles noch mal durch, so bist du verloren und er erst recht'. Als er das Buch vollendet hatte, schaute er doch noch einmal in das dichterische Werk. Und notierte: Nicht zu lesen ... In grausamer Weise läßt er einen nach drei Seiten hin im Stich. Nichts hat Form (trotz meist sehr guter Komposition). Lyrischer Ton vakat und Geschmack erst recht. Er wiegt hundert Durchschnittspoeten auf und ist doch mehr eine höchstinteressante Zeiterscheinung als ein erquicklicher Dichter. 

Ein besonders redefreudiges Mitglied des Tunnels scheint Scherenberg nicht gewesen zu sein. Der Schriftsteller Paul Heyse erwähnt ihn in einem ➱Gedicht an Theodor Fontane mit den Zeilen:

Und neben ihm schwieg stundenlang
Der Mann, der Waterloo besang.

Der Jurist Franz von Holtzendorff verfasste 1853 eine englische Übersetzung, die er in England an den Mann zu bringen versuchte. Er fand aber keinen Verleger, für die Engländer war da zu viel Blücher und zu wenig Wellington in dem Gedicht. Glaubt man Fontanes Biographie, so wird Scherenberg allerdings doch in England berühmt: So klang es Tag um Tag und dies tägliche Genanntwerden in den Zeitungen hatte schließlich auch zur Folge, daß sein Ruhm bis nach England hinüber drang, wo die Bänkelsänger und Volksballadendichter von Seven-Dials (es war grad um die Krimkrieg-Zeit), in ihren Spottliedern auf Deutschland unseres Dichters Namen alsbald in überraschlichster Weise zu verwerten anfingen. Als Beweis dafür zitiert Fontane:

Bad luck they say both night and day 
To the Cobugs and the humbugs 
The wirtembugs, the scarem bugs, 
And all the German horse-rugs: 
And all that will the laws obstruct 
The peterbugs and Prussians, 
May providence protect the Turks 
And massacre the Russians.

Aber das ist eine Straßenballade, die er sich in London notiert hat, die hat eigentlich nichts mit Scherenberg zu tun, es sei denn, man liest aus den scarem bugs (was immer die sind, sie kommen auch in ➱John Bull and his German Legion vor) ein Scherenberg heraus. ➱Arno Schmidt hätte das getan, Fontane tut es auch, es ist wohl ein literarischer Scherz. Es ist ein kleines bösartiges Hassgedicht auf das Haus Coburg und den Prinzgemahl Albert. Wir sind im Krimkrieg, sind in der Zeit, in der Fontane ➱All die ihr schlaft auf Dunen, behaglich, wohlgemuth schreibt. Ich habe das Hassgedicht auf die Coburgs gerne einmal zitiert, weil gestern vor hundert Jahren König Georg V den Namen Saxe-Coburg and Gotha abgelegt hat und den Familiennamen Windsor angenommen hat.

Fontane hat Teile der Ballade übersetzt, da klingt es dann so:

Malhör bei Tag, Malhör bei Nacht 
Über all den Koburg-Schwindel, 
Über Württemberg, über Scherenberg
Und all das deutsche Gesindels

Und Fontane schreibt sofort an Scherenberg: Teurer Scherenberg, der Sie daheim in der Lützower-Wegstraße sitzen, was sagen Sie dazu? Welchem deutschen Dichter wäre eine ähnliche Auszeichnung je vorbehalten gewesen? Wenn Sie nicht gehobenen Herzens auf London blicken, so kann es keiner mehr.

Die Mitte des 19. Jahrhunderts ist die große Zeit von Scherenberg, es ist die Zeit, da Fontane ihn kennengelernt hat. Aber auch da sind schon die ersten kritischen Stimmen zu hören. So kann man 1856 in den Blättern für literarische Unterhaltung lesen: Recht zierlich empfunden, recht niedlich ausgeführt, in der sogenannten „schönen Sprache“, recht ansprechend für Honoratiorentöchter, recht anmuthig zu lesen bei geheimräthlichen ästhetischen Thees, aber ohne dichterischen, mindestens ohne epischen Genius. Literaturkritiker können ja so böse sein. Harold Pinter hat mal gesagt, dass Literaturkritiker wie einbeinige Weitspringer sein, sie könnten es zwar nicht, versuchten es aber immer wieder.

Wenn Sie von Scherenbergs Kanonendonner in solchen melodischen Versen nicht so recht begeistert waren und die Cobugs and the humbugs viel interessanter fanden, dann habe ich noch ein Schmankerl zu Schluss, nämlich die ganze Ballade von den Cobugs, humbugs und scarem bugs. Sie heißt Lovely Albert, und Sie können sie ➱hier lesen.

Scherenbergs Waterloo Gedicht habe ich heute hervorgekramt, weil heute der Jahrestag der Schlacht von Waterloo ist. Aber heute ist doch gar nicht der Tag von Waterloo, das war am 18. Juni, sagte Herr ➱Eschenburg zu mir, als ich ihm vorhin erzählte, dass ich über Scherenberg geschrieben hätte. Himmel, ist mir das peinlich, aber außer dem Datum stimmt alles, was hier steht.


Die Schlacht und der Krieg gegen Napoleon sind schon häufig in diesem Blog behandelt worden. Lesen Sie auch: Waterloo, La Belle-Alliance, Elba, Briefe, Regenschirme, Captain Gronow, StendhalLuxuskutschen, Ney, John Keegan, Sigrid Combüchen, Laon 1814, Heeresreform, Freimaurer18. Oktober 1813,  Thomas Lawrences Blücher, Kutusow, Finckenstein, TettenbornBennigsen, BourrienneEisernes Kreuz

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