Mittwoch, 11. September 2019

Vergessen


Vergessen ist vergessen wollen, sagte Professor Bondy in seiner Vorlesung. Er illustrierte den Satz mit einer kleinen Geschichte. Er hatte einer Studentin ihre Examensarbeit zurückgegeben und ihr gesagt, dass sie die noch einmal überarbeiten müsse. So wie sie sei, könne er sie nicht annehmen. Als die Studentin das Zimmer verlassen hatte, lag die Arbeit immer noch auf seinem Schreibtisch, die Studentin hatte vergessen, sie mitzunehmen. Curt Bondy war schon emeritiert, aber er las immer noch in gut gefüllten Hörsälen. Ich schrieb eifrig mit, auch den Satz Vergessen ist vergessen wollen. Bondy hatte gleich in der ersten Vorlesung gesagt, dass er ein Freudianer sei, auch wenn das zur Zeit nicht in Mode sei. Vielleicht war das eine Anspielung auf seinen Nachfolger Peter R. Hofstätter, der bei den Studenten nicht so beliebt war.

Zumal auch das Gerücht umlief, dass der ein Nazi gewesen war. Zwei Jahre zuvor hatte Hofstätter, in der Zeit einen Artikel mit dem Titel Bewältigte Vergangenheit? veröffentlicht, in dem er eine Generalamnestie für alle Verbrechen Nazideutschlands zu fordern schien. Die Redaktion stellte dem Artikel folgendes voran: Zur Veröffentlichung seiner Fragen haben wir uns nach einigem Zögern entschlossen. Die Gefahren liegen auf der Hand. Der Artikel ist von der Art, bei der – wie Erfahrung lehrt – statt des Ganzen einzelne Sätze wirken, die dann empört abgelehnt oder mit Beifall von der falschen Seite begrüßt werden können. Auch sind wir nicht in der Lage, uns Hofstätters Schlußfolgerungen zu eigen zu machen. Aber daß seine Fragen gestellt werden – das scheint uns wichtig.

Der Artikel wurde als Skandal empfunden, zumal Hofstätter in einem Interview die These vertrat, Hitler habe den Juden den Krieg erklärt – Konsequenz: Die getöteten Juden sind ‚gefallen‘, nicht ermordet worden –, eine Amnestie für NS-Verbrechen sei notwendig. Ähnliches sagte er auch in einem Leserbrief an die Deutsche National Zeitung, der er auch ein Interview gab. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer wäre da ganz anderer Meinung gewesen. Wie tief kann man als Ordinarius fallen, wenn man die Nähe zur Deutschen National Zeitung sucht? Der Herausgeber der Zeit, Rudolf Walter Leonhardt, nahm mit einem langen Artikel Der Fall Hofstätter: Notwendiger Widerspruch – Verständliche Empörung – Unkontrollierte Hysterie zum Fall Hofstätter Stellung. Es wurde mit keinem Wort erwähnt, dass Hofstätter Mitglied der NSDAP und österreichischer Heerespsychologe gewesen war.

Die Hamburger verfuhren etwas seltsam mit der Besetzung ihrer Lehrstühle. Erwin Panofsky war 1933 von den Nazis entlassen worden. 1947 berief man das ehemalige SA- und NSDAP Mitglied Werner Schöne auf die Professur für Kunstgeschichte, der noch wenige Jahre zuvor geschrieben hatte: Sozialistische Gedankengänge waren mir immer fremd, die weiche Politik der Republik gegenüber dem Ausland habe ich gehasst. Ich war und bin ausgesprochener Antisemit . . . Auch in der Kunstgeschichte war mir das jüdische Element zuwider.

Wir sind 1965 in einer seltsamen Zeit. In meinem Heimatort finanziert der Ziegeleibesitzer Fritze Thielen die NPD, deren erster Bundesvorsitzender er wird. Seine Tochter ist damals aus dem Elternhaus ausgezogen, ich habe sie dafür bewundert. Alles schien irgendwie wiederzukommen. Ich studierte damals keine Psychologie, aber ich hörte Bondys Einführung in die Psychologie. Zum einen hörte ich die Vorlesung, weil er ein berühmter Mann war, ich habe damals auch die Vorlesung von Carl Friedrich von Weizsäcker besucht. Gerhard Maletzke hat auf die Frage, in wieweit sein Lehrer Curt Bondy ihn beeinflusst habe, geantwortet: Bondy hat mich menschlich sehr geprägt. Er hatte ein grundgütiges Herz und besaß viel Güte und Weisheit. Er war allerdings kein hundertprozentig echter Wissenschaftler. Was immer das heißen soll. Mir reichte das, was Bondy vortrug, durchaus aus. Ich habe von der Vorlesung nichts vergessen. Auch nicht die nette Frau, die immer neben mir saß. Die hatte einen Job beim Spiegel und brachte mir jede Woche ein kostenloses Exemplar mit.

Ich hörte Bondys Einführung in die Psychologie auch deshalb, weil man noch in andere Fächer als die eigenen hineinschnupperte. Ich habe jahrelang Romanistik Vorlesungen gehört, obgleich ich das Fach nicht studierte. Aber damals empfahlen die Rektoren der deutschen Universitäten den Erstsemestern, auch Lehrveranstaltungen außerhalb ihrer Fächer zu besuchen. Das studium generale war nicht nur ein leeres Schlagwort. So etwas ist heute undenkbar. Die Bachelor-Master Studiengänge haben Module und credit points und sind eine Verschulung und Verflachung der Universität. Ich bin froh, dass ich das nicht mehr zu erleben brauche. Bondy benutzte uns 1965 in gewisser Weise als Versuchskaninchen, denn zwei Jahre später erschien seine überarbeitete Vorlesung als Buch bei Ullstein. Die Einführung in die Psychologie erlebte 16 Auflagen.

Curt Bondy kam aus einer wohlhabenden großbürgerlichen Hamburger Familie. 1914 begann er sein Medizinstudium in Kiel, das er aber abbrach, als er Soldat wurde. Freiwillig, genau wie mein Opa. Bondy studierte nach dem Krieg in Hamburg Philosophie und Psychologie und promovierte 1921 als erster Doktorand bei William Stern, dem Mitbegründer der Hamburger Universität. Er arbeitete nach seiner Habilitation im Jugendstrafvollzug, leitete später eine Jugendstrafanstalt in Eisenach und unternahm Reformversuche im Bereich der Resozialisierung von Jugendlichen. Die von ihm initiierten reformpädagogischen Experimente auf Hanöhfersand galten als bahnbrechend. Er wurde 1936 der Leiter des Lehrguts Groß Breesen (hier mit seinem Pferd Edgar in Groß Breesen), wo Jugendliche auf die Auswanderung vorbereitet werden sollten.

1938 kam er mit seinen Schülern in das KZ Buchenwald, konnte aber dank internationaler Hilfe zusammen mit den Schülern wegen der geplanten Emigration freikommen. Er emigrierte über England und Holland nach Amerika und wurde Professor am renommierten College of William and Mary in Williamsburg, Virginia. Ein Teil seiner Schüler konnte in Richmond auf der Farm unterkommen, die William Thalhimer auf Bondys Anregung angelegt hatte. 1949 nahm Bondy den Ruf auf den Lehrstuhl in seiner Heimatstadt an. Viele hatten nicht geglaubt, dass er zurückkehren würde, aber der Wiederaufbau des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg wurde jetzt sein Lebenswerk. Er führte es, wie es in einem Bericht über 100 Jahre akademische Psychologie in Hamburg heißt, danach von 1952 bis 1959 als erster Nachkriegsordinarius für Psychologie beeindruckend schnell zu neuer Größe.

Ich überlegte mir das ganze Semester, wie die Herren Bondy und Hofstätter wohl miteinander umgehen würden. Als Bondy Hofstätter nach Hamburg holte, wusste er vielleicht nichts von Hofstätters Vergangenheit. Für ihn war Hofstätter ein Schüler von Karl Bühler, und der war ja auch emigriert. Doch spätestens nach dem Artikel in der Zeit hätten Bondy erste Zweifel kommen müssen. Vielleicht war er deshalb in seinem Institut noch derart aktiv, damit es ein Gegengewicht für Hofstätter gab. Ich hatte von Hofstätter das Buch Gruppendynamik: Die Kritik der Massenpsychologie gelesen, das bei Rowohlt in der Reihe Rowohlts deutsche Enzyklopädie erschienen war. Es war frei von nationalsozialistischem Gedankengut.

Ich las damals alles aus der rde Reihe, was ich in die Finger kriegte. Eine Suhrkamp Kultur, von der später jeder reden würde, gab es noch nicht, die rde Reihe war der intellektuelle Olymp. Die beiden Bände von Gustav René Hocke über den Manierismus erschienen mir als das Beste der Reihe. Ich habe mir später auch noch Bondys Einführung in die Psychologie gekauft, aus reiner Nostalgie. Im letzten Jahr ist bei dem Hentrich & Hentrich Verlag in Berlin in der Reihe Jüdische Miniaturen ein schönes kleines 90-seitiges Buch von Susanne Guski-Leinwand erschienen, das die Lebensleistung von Curt Bondy würdigt.

Über Hofstätter wissen wir inzwischen auch mehr. Das verdanken wir dem Lehrer und ehemaligen Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten Dr Hans-Peter de Lorent, der in 180 Biographien dargestellt hat, wie sich die Verantwortlichen im Hamburger Bildungswesen während der Naziherrschaft verhielten. Die drei Bände von Täterprofile hat die Hamburger Landeszentrale für politische Bildung dankenswerterweise online gestellt (Band 1, Band 2 und Band 3). Peter R. Hofstätters Biographie findet sich in Band 2.

Dies hatte ein ganz anderer Post werden sollen. Den Titel Vergessen hatte ich gewählt, weil ich etwas wirklich vergessen hatte. Der erste Absatz mit dem Vergessen ist vergessen wollen war geschrieben, bevor das Ganze außer Kontrolle geriet. Ich kam von Bondy auf Hofstätter, und da war ich bei dem Thema, zu dem ich eigentlich nicht wollte, das man aber nicht vermeiden kann. Und auch nicht vergessen sollte. Worüber ich eigentlich schreiben wollte, das war ein altes schwarzes Schulheft aus den sechziger Jahren, das ich beim Aufräumen fand. Christine stand vorne drauf, und in dem Heft waren Skizzen zu einer Erzählung über eine Frau, die ich Christine genannt hatte. Ich erinnere mich an sie, sie war blond und hatte kleine Strähnchen im Haar, sie legte den Kopf immer etwas schief. Sie sprach sehr leise, man musste nahe an sie heranrücken. Das alles weiß ich noch. Aber alles andere, das in diesem Heft stand, das hatte ich vergessen.

Es ist manchmal ganz gut, dem anderen Ich zu begegnen, das man einmal gewesen ist. Das sagt auf jeden Fall Joan Didion in ihrem Essay On keeping a notebook: It all comes back. Perhaps it is difficult to see the value in having one’s self back in that kind of mood, but I do see it; I think we are well advised to keep on nodding terms with the people we used to be whether we find them attractive company or not. Otherwise they turn up unannounced and surprise us, come hammering on the mind’s door at 4 a.m. of a bad night and demand to know who deserted them, who betrayed them, who is going to make amends. We forget all too soon the things we thought we could never forget. We forget the loves and the betrayals alike, forget what we whispered and what we screamed, forget who we were.

Und irgendwann schreibe ich über diese blonde Frau, die ich Christine genannt habe. Das werde ich nicht vergessen.

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