Sonntag, 16. Juli 2023

Sanford E. Marovitz ✝


Dieser Blog hat das Wort loomings in der Adresse, und loomings heißt das erste Kapitel von Herman Melvilles Roman Moby-Dick. Ich überlegte mir damals, ob ich nicht einen Melville Blog machen sollte, mit Melville kannte ich mich aus. Herman Melville hatte mit seinem Schriftstellerkollegen Ralph Waldo Emerson seine Schwierigkeiten, ich noch mehr. Meine leichte Emerson Aversion führte eines Tages zu einem sehr komischen Ergebnis. Mein Kollege Peter Bischoff aus Münster rief mich an, um mir zu sagen, er hätte einen amerikanischen Melville Spezialisten überredet, zu einer Vortragsreise nach Deutschland zu kommen. Ob ich ihn auch für einen Vortrag haben wollte und in einem meiner Kurse unterbringen könnte? Ich habe gleich zugesagt, obwohl ich nicht wusste, dass ich gerade den berühmten Sanford Earl Marovitz, den Verfasser des Standardwerks zu Abraham Cahan, eingekauft hatte. Ich sagte meinem Kollegen, dass ich den Amerikaner in meinem Seminar über amerikanische Lyrik unterbringen konnte. Und sagte, er könne über jedes beliebige Thema reden. Mit Ausnahme von Ralph Waldo Emerson.

Es kam wie es kommen musste. Murphy's Law Whatever can go wrong, will go wrong funktionierte auch diesmal. Dank irgendwelcher transatlantischen Übermittlungsfehler sprach Sandy Marovitz natürlich über Emerson. Ich war froh, dass ich an dem Tag ein Hemd mit einem steifen, hohen Kragen angezogen hatte, so kann man sehr schön Haltung bewahren. Sandy Marovitz war wunderbar, mein Seminar hing an seinem Lippen. Nach neunzig Minuten schaute ich einmal diskret auf die Uhr, der Hörsaal wurde für den nächsten Kurs gebraucht. Aber seine Gattin Nora (hier mit Sandy auf dem Photo) flüsterte mir zu, wenn er in dieser Hochform sei, dann könne ihn nichts auf der Welt aufhalten. Er hat seine Zeit beinahe um eine Stunde überzogen, aber niemand verließ den Raum. Eine Studentin sagte mir später mit leuchtenden Augen, man hätte bei dem Vortrag nicht mehr unterscheiden können, was von Emerson oder was von Marovitz war. Er sei geradewegs zu Ralph Waldo Emerson geworden.

So habe ich ihn damals kennengelernt. Seinen Magistertitel und seinen Doktortitel hatte er von der Duke University, vorher war er vier Jahre bei der US Air Force gewesen. Professor wurde er 1967 an der Kent State University, die im Laufe seiner Karriere ihrem Chairman of Graduate Studies alles an akademischen Ehren (Distinguished Teaching Award 1985 und die President's Metal 1999) schenkte, was es an Ehren gab. Er war auch Gastprofessor in Athen und in Japan, wo er japanische Briefmarken zu sammeln begann. Er hatte neben seinem Ruhm als Melville Forscher noch eine Vielzahl von Hobbies und noch ein wirkliches Leben außerhalb der Universität, an der er als Emeritus immer noch tätig war. Eins davon war sein roter Morgan 4/4, er war auch Mitglied der Ohio Morgan Owner's Group. Er liebte die Natur und trat für ihre Erhaltung ein. Er war ein Bibliophiler, der Bücher sammelte. Einen großen Teil seiner Bücher haben Nora und Sandy der Universität geschenkt, wo es jetzt eine Marovitz Gallery gibt. 2017 erhielten Nora und Sandy den Ehrentitel Champion of the Library.

Ich verdanke Sandy viel, er hat mir seine Bücher Melville as Poet und Melville 'Among the Nations' geschenkt. Und den gelben Kugelschreiber der Kent State University, der immer vor mir auf dem Schreibtisch liegt. Neben dem gläsernen Briefbeschwerer von Erasmus. Ich wollte Sandy damals mein letztes Exemplar von der Schleswiger Moby-Dick Ausstellung schenken, aber er sagte, er hätte das Buch schon. Alle Melville Forscher in Amerika besäßen ein Exemplar dieser Ausstellung zur Zweihundertjahrfeier der USA. Und Sandy war schließlich mal Präsident der Melville Society gewesen. Präsident der William Dean Howells Society war er auch einmal. 

Er war nicht nur Fachmann für die jüdisch-amerikanische Literatur und Herman Melville, ihn interessierte auch die Literatur des amerikanischen Westens. Frontier Conflicts: villains, outlaws, and Indians in selected 'Western' fiction: 1799-1860 war das Thema seiner Dissertation gewesen. Er war Mitglied der German Association for the Study of the Western und veröffentlichte dort Beiträge in deren Jahrbuch: It's gratifying to know that some of the essays that evolved from papers I delivered at those round-ups were revised and published in 'Studies in the Western' and that they're now being considered for reprinting in that durable annual. In fact, it's more than gratifying; it's an honor to have the value of my research sustained and confirmed, and I'm very grateful to the editors for distinguishing it in that way. Your reference to the photo taken at Erfurt reminded us of the pleasure we had at that memorable conference--not least that it was held in such a splendid old city. Auf der Konferenz der GASW hielt er 2011 den Vortrag Elmer Kelton's Apprenticeship in the Pulps. Ich sollte vielleicht dazusagen, dass Elmer Kelton hier schon einen langen Post hat. Vor zehn Jahren teilte die GASW mit: Professor Sanford E. Marovitz has been awarded an honorary membership. His inspiring contributions to our journal as well as his friendship and loyalty to our association and the Western have been a constant encouragement and confirmation of our concern with America's oldest genre. Last but not least, Sandy and his wife Nora have embraced our association's cause to strengthen the ties between Germany and the home of the Western.

An seinen Emerson Vortrag konnte er sich noch sehr gut erinnern, wie er mir vor Jahren schrieb. Er hat allerdings in der Mail ein wenig übertrieben, als er schrieb: we needed a GPS to find our way through the stacked books, magazines, newspapers, records, CDs, and who knows what else in your enviable quarters. Sandy hatte einen wunderbaren Humor, aber vielleicht sieht es in meiner Wohnung wirklich so aus. Das Ergebnis von Sandy Marovitz' Vortrag für mich war damals, dass der halbe Kurs Proseminararbeiten über die Lyrik von Emerson geschrieben hat. Das war wohl eine Art Strafe des Gottes Apollon (der ja auch für die Literatur zuständig ist) für mich. Wir sind über die Jahrzehnte immer im Kontakt geblieben. Ich bekam Sonderdrucke seiner Aufsätze und schickte eigene Publikationen in die USA. In einer Mail stand dann: Thank you so much for sending the English translation of your article. We're very appreciative of your remembering us so fondly. Our memory of the visit to your apartment full of CDs, jazz and books and meeting you is very vivid. Funny that you still have the Kent State University yellow pen. What fond memories! What memorable friendships! 

Das ist es, diese fond memories und memorable friendships, die haben Jahrzehnte gehalten. In der letzten Woche hat mir Nora mitgeteilt, dass Sandy im Alter von neunzig Jahren gestorben ist. Für alle, die ihn kannten, wird er unvergessen bleiben.

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