Mittwoch, 14. Oktober 2020

alles Unglück der Menschen


Als  die Corona Krise ausbrach, dachte ich mir: Warum nur zitiert niemand Pascal? Hatte der nicht gesagt: Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre? Das wäre doch das Motto für die Krise gewesen. Edward Hopper als Maler für die Corona Welt, Blaise Pascal als ihr Philosoph. Aber wie kommt Pascal zu diesem Satz alles Unglück der Menschen kommt davon her, daß sie nicht verstehn sich ruhig in einer Stube zu halten?

Der Philosoph, Theologe, Mathematiker und Erfinder kam in meiner ersten Woche als Blogger einmal am Rande vor, als ich über den Film Ma nuit chez Maud schrieb. Da heißt es: 'Ma nuit chez Maud' war 1969 bei Kritik und Publikum ein großer Erfolg. Das ist einigermaßen erstaunlich, denn es gibt wenige Filme, die so wenig Handlung haben und in denen so viel über Pascal diskutiert wird. Ich habe den Film beim ersten Sehen nicht verstanden, aber ich verstehe auch Pascal nicht. Obgleich ich die Pensées einmal gelesen habe. Wenn Sie sich Pascal nähern wollen, kann das Vorwort von T.S. Eliot zur englischen Ausgabe der Pensées eine Hilfe sein. Dass in dem Film viel über Pascal geredet wird, macht schon Sinn: der Film spielt in Clermont-Ferrand, dem Geburtsort von Pascal.

Ich weiß, dass ich die Pensées gelesen habe, das steht so auf meiner Leseliste für das Jahr 1962, fragen Sie mich jetzt nicht, was da drin steht. Aber ich besitze den Text, und daneben im Regal steht auch noch Sekundärliteratur. Man kommt schnell wieder in den Text hinein, weil er aus tausenden von Aphorismen besteht, aus schönen Sätzen wie Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas. Man kann zu lesen anfangen, wo man will, weil der Autor selbst gesagt hat: Ich werde hier meine Gedanken ordnungslos aufschreiben, und nicht etwa in einer Verworrenheit, die unbeabsichtigt wäre. Das ist die wahre Ordnung, und sie wird gerade durch die Unordnung stets für meinen Gegenstand bezeichnend sein. Bei Reclam gibt es auf 587 Seiten Pascals Gedanken, die man auf tausend unsortierten Zetteln in sechzig Bündeln nach Pascals Tod gefunden hat. Die Neuübersetzung von Ulrich Kunzmann aus dem Jahre 1987 berief sich auf die französische Werkausgabe von Louis Lafuma.

Im Internet finden sich die Gedanken bei Zeno, allerdings ist das eine Ausgabe aus dem Jahre 1840 mit der Übersetzung von Karl Adolf Blech, der Pastor in Danzig war. Bei Suhrkamp hat es vor acht Jahren in der Reihe suhrkamp studienbibliothek  eine 459-seitige Ausgabe gegeben, die denselben Text verwendet wie die Reclam Ausgabe, sie bietet allerdings 200 Seiten Kommentar. Es ist mal wieder typisch, dass der Übersetzer nicht auf dem Buchumschlag genannt wird, der Kommentator Eduard Zwierlein schon. Zwierlein hat sich über Pascal habilitiert, und er hat 1996 den Band Blaise Pascal zur Einführung in der hervorragenden Reihe des Hamburger Junius Verlags geschrieben. Man findet manchmal ziemlich demoralisierende Sätze in den Pensées, wie zum Beispiel:

Welches Trugbild ist denn der Mensch? Welches noch nie dagewesene Etwas, welches Monstrum, welches Chaos, welches Hort von Widersprüchen, welches Wunderding? Ein Richter über alle Dinge, ein schwacher Erdenwurm, ein Hüter der Wahrheit, eine Kloake der Ungewißheit und des Irrtums, Ruhm und Abschaum des Weltalls.

Das Zitat über das Unglück der Menschen findet sich in den Pensées in einem Teil, der Elend des Menschen überschrieben ist: Darum, wenn ich anfing das mannigfaltige Hin-und Hertreiben der Menschen zu betrachten, wie sich den Gefahren und Mühseligkeiten aussetzen, am Hofe, im Kriege, bei der Verfolgung ihrer ehrgeizigen Ansprüche und wir daraus so viele Zwistigkeit, Leidenschaften und gefährliche und verderbliche Unternehmung entspringen, dann habe ich oft gesagt, alles Unglück der Menschen kommt davon her, daß sie nicht verstehn sich ruhig in einer Stube zu halten. Ein Mensch, der Güter genug hat um zu leben, wenn er bei sich daheim zu bleiben verstände, würde sich nicht heraus machen um aufs Meer zu gehn oder zur Belagerung einer Festung und wenn er einfach nur zu leben suchte, bedürfte man dieser so gefahrvollen Beschäftigung wenig.

Nach Pascal ist die conditio humana gekennzeichnet durch Unbeständigkeit, Langeweile, Unruhe und der Suche nach Zerstreuung: Nichts ist dem Menschen unerträglicher als völlige Untätigkeit, also ohne Leidenschaften, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuungen, ohne Aufgaben zu sein. Dann spürt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Manches von dem, was er sagt, klingt erschreckend modern, manches könnte bei Kierkegaard oder Sartre stehen. In Pascals fragmentarischer Apolologie des Christentums findet der Mensch in seiner Unruhe des Herzens sein Heil nur in Gott.

Blaise Pascal hat sein Haus kaum verlassen, die letzten Jahre seines kurzen Lebens hat er im Kloster verbracht. Aber er wusste, dass da draußen eine andere Welt war. Eine quirlige Welt mit den leidenschaftlichen Beschäftigungen der Menschen und alles, was man Belustigung oder Zeitvertreib nennt, in welchen man eigentlich nichts anders zum Zweck hat als die Zeit vergehn zu lassen, ohne sie zu fühlen oder vielmehr ohne sich selbst zu fühlen und diesen Theil des Lebens zu verlieren, um so der Bitterkeit und dem innern Ekel zu entgehn, welche die nothwendige Folge sein würden, wenn man während der Zeit die Beobachtung auf sich selbst richten wollte. Der Philosoph der Einsamkeit, der dazu neigt, nur sein Nichts zu kennen (car je ne tiens qu’à connaître mon néant), wird dafür sorgen, dass die Welt noch quirliger wird, dass die Menschen noch schneller ihren leidenschaftlichen Beschäftigungen nachgehen können: Paris verdankt ihm den Omnibus.

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