Alles andere totschlagend, das war für mich Hölderlin, alles andere totschlagend. Ich war in Hölderlin gut; außer mir hat keiner diese Passion gehabt, auch kein Lehrer. Hölderlin war für mich ganz oben. Und es gehört ja auch zu meinen amüsantesten Erlebnissen der letzten Jahre, daß der rotchinesische Außenminister - der hat ja übrigens auch in Tübingen studiert, beim Essen aus dem „Schicksalslied“ zitiert hat. Der war ganz high, als ich dann mitten in der angefangenen Strophe fortgefahren bin. Auswendig, wohlgemerkt! Das ist jetzt kein Text eines Kabarettisten, hier spricht der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der sonst, wie er einmal gesagt hat, keinerlei Verhältnis zur Lyrik hatte. Aber in Hölderlin war er gut. Wie kann man so was sagen? Man kann gut in Matte sein, aber wie ist man gut in Hölderlin? Ich habe das Zeit Magazin aus dem Jahre 1976, in dem das stand, jahrelang aufbewahrt, es irgendwann aber doch entsorgt. Ich habe auch das dunkle Gefühl, dass Kohls schulische Hölderlin Begeisterung aus der Zeit stammt, als die Nazis den Dichter vereinnahmt hatten.
Also, ich bin nicht gut in Hölderlin. Ich mag vieles, hasse ebenso vieles. Ich habe seit vierzig Jahren die dreibändige Insel Ausgabe von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt, die eigentlich nichts als eine Leseausgabe der Großen Stuttgarter Ausgabe von Beißner ist. Ich habe mal mit dem Gedanken gespielt, mir die Stroemfeld Ausgabe zu kaufen, habe es dann aber gelassen und mir antiquarisch die historisch-kritische Ausgabe gekauft die Norbert von Hellingrath begonnen hat, und die nach seinem Tod vor Verdun von Friedrich Seebaß und Ludwig von Pigenot fortgesetzt wurde. Ich hätte mir natürlich die Stuttgarter Ausgabe von Beißner kaufen können, aber da ich vor vielen Jahren ein Konvolut aller Schriften von Hellingrath gekauft hatte, bin ich bei Hellingraths Ausgabe geblieben. Es ist auch eine sehr schöne bibliophile Ausgabe, auch wenn sich in seinen Anmerkungen manchmal der Schwärmer gegenüber dem Philologen durchsetzt.
In meiner Schulzeit kam Hölderlin nicht vor, vielleicht war das in den fünfziger Jahren die Reaktion der Lehrer auf den Hölderlin Kult der Nazis. Obgleich ich viele gute Lehrer gehabt habe, habe ich vom Deutschunterricht der Oberstufe nichts mitgenommen. Außer dass ich in den Deutschstunden immer Romane gelesen habe, so hat mich der Deutschunterricht doch noch gebildet. Der Lehrer war eine Katastrophe, DDR Flüchtling mit Kurzstudium - man nahm ja damals wegen des Lehrermangels beinahe jeden, wenn er kein richtiger Nazi gewesen war. Er schreibt heute im hohen Alter noch total bescheuerte Bücher im Selbstverlag. Darauf, dass er an einer NAPOLA Abitur gemacht hat, ist er noch heute stolz. Ich habe Hölderlin für mich selbst entdeckt, und eigentlich kann ich nur jedem Leser empfehlen, das auch zu tun und sich nicht von Deutschlehrern, Germanistikprofessoren oder Helmut Kohl beeinflussen zu lassen.
Ich weiß auch noch genau, welches Gedicht von Hölderlin mich als erstes faszinierte, es war Hälfte des Lebens, auch wenn ich es vor einem halben Jahrhundert wohl nicht so recht verstanden habe.
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Michael Hamburger, der aus Deutschland stammende englische Dichter und Übersetzer, ist sicherlich in Hölderlin gut gewesen, um Helmut Kohls Ausdrucksweise noch einmal zu gebrauchen. Es war eine lebenslange Beschäftigung mit dem deutschen Dichter, die ihn auch beinahe den ganzen Hölderlin übersetzen ließ. Seine Ausgabe von Poems & Fragments ist zuerst 1966 bei Routledge & Kegan Paul erschienen, später gab es sie bei der Cambridge University Press, dann (2004) bei der Anvil Press. Bei Penguin kann man eine gekürzte Ausgabe als Taschenbuch erhalten. Natürlich hat Michael Hamburger auch Hälfte des Lebens übersetzt. Aber ich bin mit der Übersetzung nicht so glücklich, so sehr ich Hamburger, den ich gekannt habe, schätze.
The Middle of Life
With yellow pears the land,
And full of wild roses,
Hangs down into the lake,
O graceful swans,
And drunk with kisses
You dip your heads
Into the hallowed-sober water.
Alas, where shall I find when
Winter comes, flowers, and where
Sunshine
And shadows of earth?
The walls stand
Speechless and cold, in the wind
Weathercocks clatter.
Dies ist die Version von 1943, zwei Jahre nach dem ersten englischen Gedicht von Hamburger geschrieben. Das - und das wird jetzt niemanden überraschen - Hölderlin heißt. Es gibt noch eine überarbeitete Fassung der Hölderlin Übersetzung von 1990.
Half of Life
With yellow pears hangs down
And full of wild roses
The land into the lake,
You loving swans,
And drunk with kisses
You dip your heads
Into water, the holy-and-sober.
But oh, where shall I find
When winter comes, the flowers, and where
The sunshine
And shade of the earth?
The walls loom
Speechless and cold, in the wind
Weathercocks clatter.
Aber mit dieser Fassung war er auch nicht so recht glücklich, und so gibt es in den Selected Poems and Fragments von 1994 noch eine dritte Fassung:
The Middle of Life
With yellow pears the land
And full of wild roses
Hangs down into the lake,
You lovely swans,
And drunk with kisses
And drunk with kisses
You dip your heads
Into the hallowed, the sober water.
But oh, where shall I find
But oh, where shall I find
When winter comes, the flowers, and where
The sunshine
And shade of the earth?
The walls loom
Speechless and cold, in the wind
Weathercocks clatter.
Man kann aus Übersetzungen immer lernen, weil man sie beim Lesen immer mit dem Original vergleicht. Am besten von den englischen Übersetzungen (und es gibt noch viel mehr, wie man ➱hier sehen kann) gefällt mir die Übersetzung von dem Amerikaner Richard Sieburth.
Half of Life
With its yellow pears
And wild roses everywhere
The shore hangs in the lake,
O gracious swans,
And drunk with kisses
You dip your heads
In the sobering holy water.
Ah, where will I find
Flowers, come winter,
And where the sunshine
And shade of the earth?
Walls stand cold
And speechless, in the wind
The weathervanes creak.
Hälfte des Lebens wurde 1805 zum ersten Mal veröffentlicht. Hölderlin, der heute vor 241 Jahren geboren wurde, konnte nicht wissen, dass er das Gedicht ziemlich genau in der Hälfte seines Lebens schrieb. Die zweite Hälfte, die Winterhälfte seines Lebens steht ihm noch bevor. Was bleibet aber, stiften die Dichter. Es ist ein Winter der Seele, und vielleicht ist (so der österreichische Mediziner Anton Neumayr in Literatur & Medizin) das Gedicht auch schon ein Symptom dafür, dass Hölderlins Gefühlsleben erkaltet. Aber später, während draußen in der Welt Schuberts Winterreise gesungen wird, fängt Hölderlin wieder an zu dichten. Manches davon ist von einer großen Klarheit getragen, wie das Gedicht Winter:
Man kann aus Übersetzungen immer lernen, weil man sie beim Lesen immer mit dem Original vergleicht. Am besten von den englischen Übersetzungen (und es gibt noch viel mehr, wie man ➱hier sehen kann) gefällt mir die Übersetzung von dem Amerikaner Richard Sieburth.
Half of Life
With its yellow pears
And wild roses everywhere
The shore hangs in the lake,
O gracious swans,
And drunk with kisses
You dip your heads
In the sobering holy water.
Ah, where will I find
Flowers, come winter,
And where the sunshine
And shade of the earth?
Walls stand cold
And speechless, in the wind
The weathervanes creak.
Hälfte des Lebens wurde 1805 zum ersten Mal veröffentlicht. Hölderlin, der heute vor 241 Jahren geboren wurde, konnte nicht wissen, dass er das Gedicht ziemlich genau in der Hälfte seines Lebens schrieb. Die zweite Hälfte, die Winterhälfte seines Lebens steht ihm noch bevor. Was bleibet aber, stiften die Dichter. Es ist ein Winter der Seele, und vielleicht ist (so der österreichische Mediziner Anton Neumayr in Literatur & Medizin) das Gedicht auch schon ein Symptom dafür, dass Hölderlins Gefühlsleben erkaltet. Aber später, während draußen in der Welt Schuberts Winterreise gesungen wird, fängt Hölderlin wieder an zu dichten. Manches davon ist von einer großen Klarheit getragen, wie das Gedicht Winter:
Das Feld ist kahl, auf ferner Höhe glänzet
Der blaue Himmel nur, und wie die Pfade gehen,
Erscheinet die Natur, als Einerlei, das Wehen
Ist frisch, und die Natur von Helle nur umkränzet.
Der Erde Rund ist sichtbar von dem Himmel
Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben,
Wenn hoch erscheint von Sternen das Gewimmel,
Und geistiger das weit gedehnte Leben.
Auch wenn ich nicht so gut in Hölderlin bin wie Helmut Kohl und nicht Hyperions Schicksalslied auswendig aufsagen kann, und sogar diese späten Gedichte wie Winter der ganzen Griechentümelei vorziehe, hätte ich doch noch einige Empfehlungen, take it or leave it. Es gibt, das muss leider gesagt werden, keine Biographie Hölderlins, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und gleichzeitig lesbar wäre. Das provozierende Buch von Pierre Bertaux Friedrich Hölderlin. Eine Biographie von 1978 ist das ebenso wenig wie Wilhelm Michels Das Leben Friedrich Hölderlins. Obgleich man dem 1940 bei Schünemann in Bremen erschienenen Buch des Schriftstellers Wilhelm Michel einen gewissen Charme nicht absprechen kann. Das Beste, vor allem für den normalen Leser, erscheint mir Adolf Becks Hölderlin: Chronik seines Lebens beim Insel Verlag zu sein, in dem Hölderlins Leben überreich mit Abbildungen und Zitaten aus dem Werk illustriert wird. Über alle Werkausgaben, von Uhlands und Schwabs erster Hölderlin Ausgabe 1826 bis zur Frankfurter Hölderlin Ausgabe, informiert (und da gibt es wirklich nichts Besseres!) der zweihundertseitige Band Hölderlin entdecken. Lesarten 1826-1993, der 1993 von der Tübinger Hölderlin Gesellschaft herausgegeben wurde.
Auf der eisernen Wasserpumpe im Garten des Dichters und Übersetzers Michael Hamburger steht die Jahreszahl 1770, das Geburtsjahr Hölderlins. Das kann kein Zufall sein, sagt W.G. Sebald in seinem elegischem Buch Die Ringe des Saturn, in dem Hamburger ein ganzes Kapitel bekommen hat. Der deutsche Dokumentarfilmer Frank Wierke hat in den letzten Lebensjahren von Michael Hamburger einen wunderschönen Film über den Mann gedreht, der Hölderlin der englischsprachigen Welt nahegebracht hat. Der Film heißt Michael Hamburger - Ein englischer Dichter aus Deutschland, er hat den ARTE Preis für den besten deutschen Dokumentarfilm 2007 sicher zu Recht bekommen. Die DVD ist noch erhältlich.
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Lieber Jay,
AntwortenLöschen"Im Winde aber oben stille krähet die Fahne..."
schrieb Hölderlin in der "Lieblichen Bläue". Vielleicht wurden so aus den klirrenden Fahnen Hölderlin's die klappernden Wetterhähne Michael Hamburger's. Oder vielleicht dekretierte der praktische Engländer einfach nur, daß Fahnen nicht zu klirren haben:
"Das Verhältnis der einzelnen Nationen zur Realität ist überhaupt ein sehr ungleichartiges. Der Franzose benimmt sich
zu ihr wie ein passionierter Liebhaber, der aber in seiner Blindheit sehr leicht zu betrügen ist; der Deutsche behandelt sie wie ein grundehrlicher, aber etwas langweiliger und pedantischer Verlobter; und der Engländer spielt ihr gegenüber den brutalen Ehemann, den Haustyrannen. Der genußsüchtige Franzose will nur das Angenehme, einerlei ob es wahr
oder falsch ist, der biedere Deutsche will um jeden Preis die Wahrheit, ob sie angenehm oder unangenehm ist, und der praktische Engländer dekretiert, daß das Angenehme wahr und das Unangenehme falsch ist." (Egon Friedell)
Hölderlin fährt dann fort: "Giebt es auf Erden ein Maaß? Es giebt keines."
Das gilt auch, alas, oh weh, für Übersetzungen.
Ihr Gunther
Danke dafür. Für mich sind die klirrenden Fahnen jahrzehntelang ein großartiges, schwer verständliches Bild gewesen. Bis ich in den Anmerkungen zu dem Gedicht von Norbert von Hellingrath las: "Öde und Starrheit des Winters, deren treffendster Ausdruck nicht das schneidende Wehen im offenen Schneegefild ist, sondern die nackten stummen frostgrauen Mauern, unter deren Schutz der Mensch hat fliehen müssen und wo ihn vom Winde nur noch das Klappern in den heisern Wetterfahnen erreicht". Da sind die Wetterfahnen, aber sonst steht ja nix von dieser poetischen Schwelgerei bei Hölderlin. Ich behalte doch lieber das Klirren der Fahnen im Kopf und verzichte auf die quietschenden Hähne.
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