Freitag, 21. März 2014

Play Bach


Den Werbeprospekt Play Bach für die Tournee von 1975 gab es bei meinem Hinterhofhöker unberechnet obendrauf, weil ich ein halbes Dutzend Bücher gekauft hatte. Bücher sind bei dem Hinterhofhöker billig. Sehr billig. Hinterhofhöker ist eigentlich nicht das richtige Wort für den Besitzer des Ladens, der Mann ist ein Gentleman. Alter preußischer Adel. In seinem ➱Laden gibt es Antik und Trödel, Gebrauchtmöbel aus Haushaltsauflösungen und immer wieder gute Bilder. Da muss man jede Woche einmal reinschauen. Tun viele. Die ehemalige Ministerpräsidentin ➱Heide Simonis habe ich da auch schon mehrmals gesehen. Man kommt da nicht wieder raus, ohne was in den Händen zu tragen.

Aber das mit dem Play Bach Prospekt, das war schon reine Nostalgie. Drei Jahre nach dieser Deutschlandtournee hatte Loussier das Leben on the road satt. Da war er zwanzig Jahre lang mit seinem Jacques Loussier Trio unterweg. Er, der Bassist Pierre Michelot (der zuvor mit Django Reinhardt und dem Quintette du Hot Club de France gespielt hatte) und Christian Garros. Garros hatte mit Miles Davis und Lester Young gespielt und Louis Armstrong und Ella Fitzgerald begleitet. Das war schon eine hochkarätige Besetzung. Das Trio löste sich 1979 auf, Loussier kaufte sich ein Schloss und wurde Winzer. Hielt es aber nicht lange in seinem Château Miraval aus, 1985 dreihundert Jahre nach Bachs Geburtstag war er wieder mit einem neuen Trio auf der Bühne. Bis heute. Inzwischen sind zum Repertoire des Trios noch ➱Erik Satie, ➱Claude Debussy, ➱Maurice Ravel, ➱Antonio Vivaldi, ➱Robert Schumann und andere hinzugekommen.

So toll man Jacques Loussier vor allem in Deutschland damals fand, er war nicht der der erste, der dem Publikum eine Fusion von klassischer Musik und Jazz offerierte. Wenn man will, kann man zwischen Paul Whitemans Symphonic Jazz, Gershwins Rhapsody in Blue und Gunther Schullers Third Stream Bewegung in den fünfziger Jahren eine Vielzahl von Beispielen finden. Falls Ihnen der Name des amerikanischen Musikwissenschaftlers und Jazzmusikers Gunther Schuller gerade nichts sagt, sollten Sie mal eben in dies kleine ➱Video Journey into Jazz hineinschauen. Allerdings war keins dieser Experimente beim Publikum so erfolgreich und hielt sich so lange wie Jacques Loussiers Play Bach Trio.

Man sollte vielleicht noch anfügen, dass Loussier in diesem Jahr achtzig wird. Die Aufnahmen mit ihm kann man gar nicht mehr zählen, über fünf Millionen CDs des Jacques Loussier Trio sind in den ersten zehn Jahren verkauft wurden. Wenn Sie einen Tip haben wollen: die Decca Aufnahmen aus der Zeit von 1960 bis 1964 sind meiner Meinung nach das Beste. Ich habe irgendwann die Übersicht verloren, aber fünf CDs habe ich auf jeden Fall, die ersten Platten nicht mitgezählt. Ich glaube auch, dass das reicht. Irgendwann wird es zu viel, dann legt man reumütig Bach im Original auf. Also ➱Glenn Gould oder Rosalyn Tureck. Denn eigentlich braucht man keine Verjazzung von Bach durch Loussier. Wir wissen alle, dass das J in J.S. Bach für JAZZ steht.

Falls Sie die Pianistin Rosalyn Tureck nicht kennen sollten, kann ich nur raten: hören Sie sich ➱hier ihre Aufnahme der Goldberg Variationen an. Danach werden Sie sich all ihre CDs kaufen. Heute ist das nicht so schwer, vor einem Vierteljahrhundert, war man glücklich, wenn man eine ergatterte. Glenn Gould hat das nicht so gerne ganz laut gesagt, aber er verdankt Rosalyn Tureck doch sehr viel. Hat er später auch öffentlich zugegeben, dass sie die einzige gewesen sei, die ihn beeinflusst habe.

Doch mit dem Auftauchen des neuen Stars, auf den sich die Medien damals schnell stürzten, gerieten die Verdienste der zwanzig Jahre älteren amerikanischen Pianistin schnell in Vergessenheit. Und man darf auch nicht vergessen, dass Pianisten wie Glenn Gould und Van Cliburn von einer jüngeren Generation ähnlich begeistert begrüßt wurden, wie man damals James Dean begrüßt hatte.

Ich bekam in den fünfziger Jahren bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die Schallplatten der Archiv Produktion der Deutschen Grammophon in den vornehm grauen Hüllen geschenkt. Meine ersten ➱Glenn Gould und ➱Van Cliburn Platten musste ich mir selbst vom Taschengeld kaufen, Gustav Leonhardts Goldberg Variationen (wenn Sie die hören wollen, klicken Sie ➱hier) bekam ich geschenkt. Ich möchte die Verdienste des niederländischen Cembalisten nicht kleinreden. Aber ich mochte ihn nicht (ich habe schon in dem Post ➱Wanda Landowska etwas zu diesem Thema gesagt). Wenige Jahre später mochte ich ihn noch viel weniger.

Das lag nicht nur an Glenn Goulds Goldberg Variationen, sondern an dem Film Die Chronik der Anna Magdalena Bach von Jean Marie Straub. Einer der langweiligsten Filme der ➱Swinging Sixties. Der universitäre Filmclub hatte mich gezwungen, einen einseitigen lobhudelnden Text über den Film zu verfassen, der bei der Vorführung des Films abends in der Mensa verteilt wurde. Und wer spielte Johann Sebastian Bach in diesem Film? Sie ahnen das schon, dass es jetzt nur eine Antwort geben kann: Gustav Leonhardt. Meine schöne Filmrezension, in mühsamer Arbeit auf Wachsmatrize getippt und hundertfach abgezogen, lag am nächsten Tag überall zerknüllt in der Mensa herum oder wurde von Studenten zum Falten von Papierflugzeugen benutzt. Aber ich besitze natürlich heute noch eine CD von Gustav Leonhardts Goldberg Variationen. Wenn Sie sich anderthalb schöne Stunden machen wollen, können Sie jetzt natürlich auf YouTube den ganzen ➱Film von Straub sehen.

Man kann es sich kaum vorstellen, dass Glenn Gould mit seiner Art Bach zu spielen, Gustav Leonhardt mit seinem Cembalo und Jacques Loussier gleichzeitig erschienen (ja, und Elly Ney trat damals auch noch auf). Und dass die Beatles auch schon auf der Bühne standen, auch wenn sie noch The Quarrymen oder ich weiß nicht wie hießen. Wenn man so aussieht, wie der ganz junge Loussier, dann spielt man noch konventionell. Aber im Leben von Loussier ist wenig konventionell. Als er das Pariser Konservatorium verließ, tourte er mit rumänischen Zigeunern in Kuba und begleitete Charles Aznavour und die Sängerin Catherine Sauvage.

Wenn man das macht, dann kann man nicht mehr zu dem nerd image von dem Bild da oben zurück, dann braucht man eine neue Erscheinung. Loussier versuchte auszusehen wie Serge Gainsbourg, und auf den Photos in dem Werbeprospekt - der hervorragende Photographien, aber nicht den Namen des Photographen enthält - ist ihm das auch gelungen. Es kam um 1960 darauf an, wie man sich inszenierte. Klassische Musik war ein Markt geworden, die Wochenzeitung Die Zeit gab damals mit Christoph Eckes Entscheidungshilfen für den Plattenkauf. Und ➱Karajan mit seiner Segelyacht, seinem Porsche und seinem Photomodel beherrschte den Klassikmarkt. Jemanden wie Günter Wand hätte man nicht verkaufen können.

Am Ende eines Konzerts von Loussier stand, das versichert uns der Prospekt, Bachs Präludium Nr 1 in C-Dur. Das kennt jeder Klavierschüler (➱hier gibt es eine Lernhilfe). Man lernt schnell, wie es ➱aufgebaut ist. Die linke Hand ist einfach, aber die rechte hat viel zu tun. Je häufiger man es spielt, desto besser wird es einem gelingen, das spielt sich dann beinahe von selbst. Es ist ein spielerisches Element in Bach, das einen mitnimmt (der amerikanische Pianist Jeremy Denk, der gerade eine Aufnahme der Goldberg Variationen vorgelegt hat, demonstriert das ➱hier sehr schön). In der Jacques Loussier Version des Präludiums spielt der Pianist es zuerst beinahe solo, Bass und Schlagzeug begleiten unauffällig, aber sie dynamisieren das Ganze. Und dann, nach anderthalb Minuten ist das ganze Trio da, hören Sie einmal ➱hinein.

Das Präludium gehörte zu den Standards eines jeden Loussier Konzerts. Eine Melodie, die nicht totzukriegen ist. Auch wenn Gounod ein Ave Maria daraus macht, selbst in einer Kitschversion von ➱Hayley Westenra kann man es noch klar erkennen. Wenn es schon sein muss, dann hören wir doch lieber die ➱Version von Maria Callas. Neben dem Präludium spielte das Trio auch bei jedem Konzert die Klavierversion des Chorals der Kantate Jesu bleibet meine Freude. Das Stück hatte ja schon Myra Hess für das Klavier bearbeitet, ihre schöne ➱Version sollte man einmal gehört haben. Sie hat das Stück während des Krieges in der National Gallery gespielt, in den Konzerten (lesen Sie ➱hier alle dazu), die sie mit Kenneth Clark organisiert hatte. Das ist schon eine seltsame Sache: da bombardieren die Deutschen London und unten in der National Gallery sitzt eine Dame und spielt Bachs Jesu, Joy of Man's Desiring. Der englische König hat sie 1941 für ihre wartime concerts geadelt.

Es gibt noch, und ich zitiere das als kleine Kuriosität, neben dem Jesu, Joy of Man's Desiring von Myra Hess eine andere Bachmelodie, die den Engländern bekannt ist. Weil die Firma Hamlet ihre Zigarren fünfunddreißig Jahre lang in allen Werbespots mit der Melodie aus der Suite No. 3 in D-Dur, gespielt von Jacques Loussier, anbot. Klicken Sie doch einmal Beispiel ➱1 und ➱2 an. Besonders die Nummer Zwei. Sie können sich auch hier eine ganze Sammlung anschauen, witzig und sophisticated.

Wenn man Purist ist, kann man natürlich auf die Fusion von Klassik und Jazz verzichten, kann ohne Jacques Loussiers Play Bach CDs leben. Man braucht bei Bachs Cellosuiten (die ➱hier einen langen Post haben) nicht zu der Version von Henk van Twillert zu greifen. Aber auf seinem Yamaha Bariton Saxophon klingen die ganz toll. Klicken Sie mal ➱hier. Das Erstaunliche ist, dass Bach das alles aushält. Auf YouTube stellen stolze Eltern das ➱Menuett aus dem Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach, gespielt von ihrer fünfjährigen Tochter ➱Sonja. Schrecklich, aber es bleibt immer noch ein bisschen Bach übrig. Ich habe mal einem Straßenmusikanten einen Fünf Euro Schein dafür gegeben, dass er aufhört, das Menuett auf seiner Klarinette zu spielen. Es gibt Grenzen. Wahrscheinlich sind es solche Augenblicke des Lebens, die den Bremer Dichter ➱Konrad Weichberger zu den Zeilen veranlassten:

Laß du doch das Klavier in Ruhe;
es hat dir nichts getan;
nimm lieber deine Gummischuhe
und bring mich an die Bahn -


Ich habe natürlich einen Grund, Loussiers achtzigsten Geburtstag am 26. Oktober nicht abzuwarten, um diesen Post zu schreiben: Johann Sebastian Bach hat heute Geburtstag und etwas anderes ist mir gerade nicht eingefallen.

1 Kommentar:

  1. Bei der Vorführung dieses Films von Straub im Audimax in Marburg war er anwesend und entsetzt über die Reaktion der Studenten, die neun Minuten Eingangschor aus er MatthäusPassion nicht aushalten konnten und johlten. Straub meinte, er habe den Film in Arbeiterkinos in der banlieu von Paris vorgeführt,ohne jeden Protest. Die 68ziger jedenfalls haben ihn weder verstanden noch geschätzt.

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