Samstag, 29. Oktober 2022

Variationen


Die erste Folge der charmanten kleinen englischen Krimiserie The Chelsea Detective hat als Filmmusik den Anfang von der Nummer 25 von Bachs Goldberg Variationen. Und fünf Minuten später sehen wir den Detective Inspector Max Arnold, wie er auf seinem Hausboot im Stehen auf seinem Klavier die ersten Takte der Variation 25 spielt, die Wanda Landowska als die black pearl des Ganzen bezeichnet hat. In der zweiten Folge der Serie sitzt unser Detektiv am Klavier und spielt die Aria, während er die Photos der Verdächtigen betrachtet. Der Komponist Ian Arber, der dem Schauspieler Adrian Scarborough das Klavierspielen beigebracht hat, hat die Phrasierungen von Bach immer wieder in seiner Filmusik aufklingen lassen. Das ist intelligent gemacht. Die Filmmusik von Ian Arber kann man auch kaufen.

Die Goldberg Variationen hatten hier zuletzt in dem Post Kraut und Rüben eine lange Betrachtung, und in dem Post Unordnung habe ich gesagt, dass ich über die neue Aufnahme der Goldberg Variationen von Klára Würtz schreiben wollte. Die ungarische Pianistin, die in Holland lebt, hatte hier schon vor Jahren den Post Klára Würtz, und sie wurde in zahlreichen Posts erwähnt. Ihre Aufnahmen sind bei dem sehr preisgünstigen Label Brilliant Classics erschienen, die vor Jahrzehnten einmal das Gesamtwerk von Bach in einer Box mit 155 CDs herausgebracht hatten.

Würtz’s performances have ‘disarming freshness’, as one commentator has put it, which throws our listening emphases away from her and back on to the music. Best known for her recordings on Brilliant Classics, Würtz is, in this writer’s view, one of the best pianist/musicians currently performing and the fact that she’s so infrequently mentioned in dispatches is a critical oversight, heißt es in der Besprechung der CD in Gramophone. Die Besprechung war von Rob Cowan, dessen Wort in der englischen Musikwelt Bedeutung hat. In seinem Blog hat er das Lob noch einmal wiederholt: Reviewing the Hungarian pianist Klára Würtz’s 'Goldberg Variations' in great detail for 'Gramophone' in May I wrote ‘I’ve heard a handful of Goldbergs that are as good as this (Beatrice Rana, for one – Warner Classics) but none that are better’ and I’d stick by that assessment.

Bach war bisher kein Thema für Klára Würtz, aber in der Zeit der Corona Pandemie hat sie ihn gefunden: In 2018 I recorded Tchaikovsky and Rachmaninoff Trios with two great Russian musicians: Dmtri Makhtin, violinist and Alexander Kniazev, cellist. I really enjoyed playing with them, and the recording went effortless and beautifully. The cellist happens to be a great organ player too and he gave me his recording of the Goldberg Variations – on the organ. I simply loved it: its registration, the boundless fantasy of the playing opened new doors in my perception of this marvelous composition. I felt inspired and decided to work on it.
       And then we were struck by the pandemic. Studying this piece day in day and out gave me enormous focus, dedication and consolation. As if all uncertainty and anguish disappeared and what remained was pure music. And the soul of a great master telling you through his notes that finally, all will be alright. Almost no other composition occupied my mind during that period and I felt the need to record it as a result of two intensive years living with it. Das hat sie in dem Interview Breaking the Goldberg Wall gesagt. Die Pandemie hat auch Ragna Schirmer dazu gebracht, sich noch einmal mit den Goldberg Variationen zu beschäftigen

Die Aufnahme von Klára Würtz hat große Momente, aber sie schwächelt auch ein wenig in Punkto Lautstärke und Tempo. Die Konstanz im Grundtempo, die wir bei Marie Rosa Günter haben, gibt es bei Würtz nicht. Die Pianstin hat dazu gesagt: Of course, we will never really know what is the 'right' tempo for each movement. For me the 'Goldberg' is one big landscape where the variations are part of a vast monumental structure. It has a theatrical dramaturgy where each episode follows the previous with a certain necessity and determination. To be honest I am pretty much relying on instinct on how I experience these dances, canons, overture, toccatas, recitatives, quodlibet and fugues as part of one continuous narrative. So the tempi are chosen on the basis of their place within the story, which unfolds in my mind during the performance.

Es ist bei neuen Interpretationen immer gut, eine alte bekannte Version im Vergleich zu hören. Oder das Werk von einem Cembalisten zu hören. Falls Sie die Aufnahme von Jean Rondeau nicht kennen, sollten Sie sich hier einmal anderthalb Stunden lang die Goldberg Variationen anhören. Rondeaus CD ist im Februar erschienen (auf zwei CDs, weil sie so lang ist). Ich mag auch die Aufnahmen von Kenneth Gilbert und Ignacio Prego. Rondeau hat die Goldberg Variationen als eine Ode an die Stille bezeichnet. Ich habe das Gefühl, dass sie für die Stille geschrieben wurden, in dem Sinne, dass sie den Platz der Stille einnehmen. An dieser Stelle muss ich mal eben das Gedicht Die Stille der Welt vor Bach von Lars Gustafsson einfügen, weil mir der Peter gesagt hat: Wenn Du über Bach schreibst, musst Du das Gedicht von Gustafsson zitieren. Ich kannte das Gedicht nicht, der Peter liest mehr als ich, aber ich fand es schnell:

Es muss eine Welt gegeben haben vor 
der Triosonate in D, eine Welt vor der A-moll-Partita,
aber was war das für eine Welt? 
Ein Europa der großen leeren Räume ohne Widerhall, 
voll von unwissenden Instrumenten,
wo das 'Musikalische Opfer' und das 'Wohltemperierte Klavier'
noch über keine Klaviatur gegangen waren. 
Einsam gelegene Kirchen,
in denen nie die Sopranstimme der Matthäus-Passion
sich in hilfloser Liebe um die sanfteren 
Bewegungen der Flöte gerankt hat, 
weite sanfte Landschaften,
wo nichts zu hören ist als die Äxte der Holzfäller,
das muntere Bellen starker Hunde im Winter
und Schlittschuhe auf blankem Eis wie ferne Glocken;
die Schwalben, die durch die Sommerluft schwirren,
die Muschel, die das Kind lauschend ans Ohr drückt, 
und nirgends Bach, nirgends Bach,
Die Schlittschuhstille der Welt vor Bach.

Das mit der Schlittschuhstille hat mir sehr gut gefallen, ich habe nicht so furchtbar viel von Gustafsson gelesen, aber Schlittschuhe habe ich in seinem Werk schon mehrfach gefunden. Und ich muss an dieser Stelle mal eben auf den zehn Jahre alten Post Schlittschuhlaufen  hinweisen, der schon über zehntausend Mal angeklickt wurde. Dieser Herr auf dem Boden heißt Risto Lauriala, er hat es nicht so mit der Stille. Er spielt in seiner Aufnahme die Aria sehr schön leise und langsam, ihre Wiederholung auch, aber dazwischen ist rambazamba. Und nach 52 Minuten ist glücklicherweise Schluss. Gramophone hatte nur wenige Zeilen für den finnischen Pianisten übrig, Sätze wie: But, in spite of clearly articulated phrases, his inclination both for overemphasis and to stab at notes too often interrupts the enjoyment of the listener. Aber bei Amazon findet sich eine Rezension, wo sich der Rezensent vor Begeisterung gar nicht mehr einholen kann: Welche Musen ihn an diesem Tag (oder Tagen) der Aufnahme geküsst haben, man weiß es nicht. Ein ganz großer Wurf!! Ein interpretatorische Glanzleistung. Schlicht: Die 'Goldberg Variationen' für jeden Tag! Ich weiß nicht so ganz, was das Photo auf dem Cover soll. Sitzt er da unten auf dem Boden in der Ecke, weil er sich für seine Aufnahme schämt?

Klára Würtz braucht wie Marie Rosa Günter 77 Minuten für die Goldberg Variationen, sie spielt die Wiederholungen, das ist ihr wichtig. Sie gehören zur Struktur des Ganzen, die Verzierungen sind ihr nicht so wichtig. Glenn Gould war 1955 nach 39:10 Minuten fertig, 1981 brauchte er 51 Minuten. Den deutschen Geschwindigkeitsrekord hält wohl der Schriftsteller und Pianist Yorck Kronenberg mit 44 Minuten (hier auf der YouTube ✺ Aufnahme braucht er 49 Minuten). Auf seiner Homepage versichert Professor  James Tocco: sicher die beste live-Aufführung der Goldberg-Variationen, die ich jemals gehört habe. Aber bei dem Professor hat Kronenberg studiert, der muss so etwas über seinen Schüler sagen.

In dem Post Wanda Landowska habe ich 2010 eine Top Ten Liste meiner Lieblingsinterpreten (also die großen Namen wie Glenn Gould und Rosalyn Tureck mal ausgenommen) veröffentlicht. Die Liste sah so aus:

1.   Christina Bjørkøe
2.   Andrei Gavrilov
3.   Murray Perahia
4.   Wilhelm Kempff
5.   Ragna Schirmer
6.   András Schiff
7.   Angela Hewitt
8.   Jenö Jandó
9.   Maria Yudina
10. Zhu Xiao-Mei

Die Liste ist immer noch gut, Klára Würtz kommt da noch nicht drauf, aber Marie Rosa Günter hat Chancen, auf die Liste zu kommen. Ich habe noch zwei Dinge zum Schluss. Das eine ist eine Aufnahme der Goldberg Variations/Variations von dem amerikanischen Jazzpianisten Dan Tepfer. Und das andere ist der Gedichtband Interval: Poems Based on Bach's Goldberg Variations der amerikanischen Dichterin Alice B. Fogel, aus dem ich einmal das erste Gedicht zitiere. Das natürlich Aria heißt:

All phases have beauty. Or in shaping time 
was Bach lost to all but the count, not consonance? 
One in the other, carriage and contained, 
body and spirit, hitched, indivisible: 
From the ground up with fractal scaffolding 
he built his arc, this liquid bridge for the daily 
practice of sameness, sequence, awaking 
change, the brief, the sustained—and the enduring 
whole bears as one all notes, as one word might
all said or sung. Where does it come from, the material
of the beautiful? And how aligned or skewed 
toward discord, how reasoned with ardor and risk,
how little or much design or dumbfound— 
how can we know? Grave, heavenly, 
like the illumined face of a god rubbed from stone, 
these breaths so wholly numbered and numinous . . . 
A mere miracle of physics? Mathematics' holy writ? 
Most musical web of ordered intervals framed 
by symmetry, division, multiples—most melancholy 
joy: Ten parallel horizons zenithed 
toward always, thirty-two limiting longitudes: 
A language, a form, a key. God, Johann: When in thrall 
a pianist's hands arch intimate 
to make the passage—to touch 
your immortal body—it is as if the finite, bound, 
has unwound when your now becomes now anew, 
now mine. As if thresholds allowed recrossing: Forever 
to be content, a soul at home, with a life like art 
more puzzle than plan, more flight than counterweight, 
the perfect grid of abiding piers upon which you 
superimpose the moving force of 
brilliant ephemera ...

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