Montag, 18. November 2024

Poe im November


Er hat am 14. November 1848 in Stonington die Fähre nach New York bestiegen und schreibt der reichen Witwe, der Dichterin Sarah Helen Whitman, noch schnell einen Brief: My own dearest Helen, so kind so true, so generous — so unmoved by all that would have moved one who had been less than angel: — beloved of my heart of my imagination of my intellect — life of my life — soul of my soul — dear, dearest Helen, how shall I ever thank you as I ought.
     I am calm & tranquil & but for a strange shadow of coming evil which haunts me I should be happy. That I am not supremely happy, even when I feel your dear love at my heart, terrifies me. What can this mean?
     Perhaps however it is only the necessary reaction after such terrible excitements.
It is 5 o’clock & the boat is just being made fast to the wharf. I shall start in the train that leaves New York at 7 for Fordham. I write this to show you that I have not dared to break my promise to you.
     And now dear dearest Helen be true to me 

Er wäre nicht Edgar Allan Poe, wenn da nicht a strange shadow of coming evil im Brief stände. Er hat in den letzten Wochen eine Vielzahl von →Liebesbriefen geschrieben, hatte sich vor seiner Abfahrt im Studio von W.S. Hartshorn in Providence (Rhode Island) photographieren lassen. Hartshorn besitzt mit einem Kompagnon das Studio, aber die beiden Herren photographieren nicht selbst. Dazu holen sie sich Fachleute aus der Nachbarschaft. In diesem Fall war das ein Photograph namens Edwin H. Manchester, das können wir bei der Library of Congress nachlesen. Was Edwin H. Manchester am Morgen des 9. November 1848 photographiert, wird das berühmteste →Bild von Poe werden. Es ist das einzige Bild von Poe, auf dem er keine schwarze Krawatte oder Schleife trägt, sondern ein weißes Tuch umgeschlungen hat. I am trying to obtain a photograph for you from a daguerre of Poe taken in this city. It was taken after a wild distracted night (of which I will tell you the story hereafter) — when 'He had wandered home but newly From an ultimate dim Thule — A wild, weird clime, Out of space, out of time'. And all the stormy grandeur of that via Dolorosa had left its sullen shadow on his brow. But it was very fine, hat Mrs Whitman vier Jahre vor ihrem Tod an John H. Ingram geschrieben, der mit →Edgar Allan Poe: His Life, Letters, and Opinions die erste seriöse Biographie Poes vorlegt.

Vier Tage später ist Poe wieder im Studio von Hartshorn, um sich noch einmal photographieren zu lassen. Wieder photographiert ihn Edwin H. Manchester, der eines Tages den Laden von Hartshorn übernehmen wird. Das Bild ist für Sarah Helen Whitman bestimmt, mit der Poe sich gerade verlobt hat. Auf dem Swan Point Friedhof von Providence. Konnte er sich keinen anderen Ort aussuchen? Man muss dabei allerdings bedenken, dass die Anwohner von Providence diesen gartenartigen Friedhof als einen öffentlichen Park betrachten. Poe hat seiner Verlobten nicht erzählt, dass er drei Tage vor dem ersten Photo versucht hatte, sich mit einer Überdosis Laudanum das Leben zu nehmen.

Weihnachten wollten sie heiraten. Am 23. Dezember sitzen sie wieder im Athenæum, dem kulturellen Zentrum von Providence, beisammen, als ein Bote Mrs Whitman eine Nachricht überreicht. Poe hatte bei der Verlobung geschworen, den Alkohol aufzugeben, aber offenbar hatte er wieder mit dem Saufen angefangen. Sarah Helen Whitman bricht die Verlobung ab. In einem Brief an seine neue Brieffreundin Annie L. Richmond wird Poe von einem terrible day sprechen. Poes Brief vom Januar 1849 an Sarah Helen Whitman wird nicht mit My own dearest Helen sondern mit Dear Madam beginnen. In dem Brief beschuldigt er ihre Mutter, die Hochzeit hintertrieben zu haben. Was wohl der Wahrheit entspricht. Aber der Alkohol hat sicher auch eine Rolle gespielt.

Eine Novemberwoche. Ein Selbstmordversuch, zwei Photographien, eine Verlobung. Nach dem 23. Dezember 1848 im Athenäum haben sich Poe und Whitman nie wiedergesehen. Zehn Monate später war er tot. Man hatte ihn im Oktober 1849 in Baltimore auf der Straße gefunden, in great distress, and ... in need of immediate assistance. Sarah Helen Whitman hat das Photo, das er ihr schenkte, bis zu ihrem Tod aufbewahrt. Er habe eine sweet and serene expression, hat sie geschrieben. Der größte Fehler des armen Edgar Allan Poe in seinem Leben ist es gewesen, Rufus Griswold zum Verwalter seines literarischen Werkes zu machen. Der wird einen Nachruf und einen biographischen Abriss in der Werkausgabe schreiben, die eine Verleumdungskampagne par excellence ist. Aber da meldet sich, elf Jahre nach seinem Tod, seine ehemalige Verlobte mit dem Buch Edgar Allan Poe and His Critics zurück. In dem sie ihn und sein Werk gegen Griswold und andere Kritiker verteidigt. We loved with a love that was more than love, hat Poe in seinem Gedicht Annabel Lee geschrieben. Sarah Helen Whitman, die so energisch seinen literarischen Ruf verteidigt, hat immer geglaubt, diese Zeile sei für sie geschrieben. 

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