Samstag, 13. April 2013

Thomas Jefferson


Vor 270 Jahren wurde Thomas Jefferson geboren. Die Declaration of Independence, die von ihm geschrieben wurde, hat damals die Welt verändert. Er ist schon sehr häufig in diesem Blog erwähnt worden, klicken Sie doch einmal ➱hier. Da kann ich mich heute ganz kurz fassen. Mit einer kleinen Literaturliste. Also dem, was ich als erstes aus dem Regal nehmen und es jemandem in die Hand drücken würde, der mich nach Thomas Jefferson fragt. Das erste wären natürlich Texte von Jefferson selbst, und da ist meiner Meinung nach The Portable Thomas Jefferson von Merrill D. Peterson (ein fetter Penguin Band) das Beste und Preisgünstigste.

Ich weiß nicht, bei welcher Bandnummer die von der Princeton University Press herausgegebenen Jefferson Papers inzwischen angekommen sind (ich besitze durch Zufall zwei dieser Bände), aber es ist eine abschreckende Zahl. Wie soll man sich diesem Mann nähern, der so widersprüchlich in Worten und Taten ist? Der über Freiheit und Menschenwürde schreibt und nebenbei ein Sklavenhalter ist? Peter Nicolaisens Buch in der Reihe der Rowohlts Monographien ist eine der besten Einführungen, um sich diesem Mann zu nähern, den der amerikanische Historiker Joseph J. Ellis American Sphinx (Vintage 1998) genannt hat. Die von Kurt Kusenberg in den fünfziger Jahren begründete Reihe der Rowohlts Bild Monographien ist ein einmaliges Unternehmen in der deutschen Verlagsgeschichte. Kusenberg selbst hat 150 Titel betreut, inzwischen ist die Zahl der Monographie auf über 600 angewachsen (seit 1999 gibt es auch bunte Bilder, aber die braucht man eigentlich nicht). Das Erstaunlichste ist, dass es die Rowohlt Redaktion geschafft hat, eine solche Qualitätssicherung bei Autoren und Texten zu betreiben, nur wenige Bände in dieser Reihe entsprechen nicht dem hohen Niveau der Reihe.

Dem hohen Niveau entspricht auf jeden Fall der Jefferson Band von ➱Peter Nicolaisen, einem auch in Amerika anerkannten Jefferson Spezialisten. Der natürlich auch alle Bände der Jefferson Papers gelesen hat. Dies ist state-of-the art scholarship, daran gibt es nichts zu bekritteln. Das einzige, das man kritisieren könnte, ist die Tatsache, dass Nicolaisen ein wenig unterkühlt und trocken schreibt. Aber das ist sein Wissenschaftsideal, das muss man hinnehmen. Lord Beloffs Thomas Jefferson and American Democracy aus dem Jahre 1948, das in der populärwissenschaftlichen Reihe Teach yourself History bei Penguin erschienen ist, ist da leserfreundlicher (wenn man den Band antiquarisch finden kann: lohnt sich unbedingt). Aber das Buch hatte eine andere Zielsetzung und repräsentierte auch nicht die inzwischen kaum noch überschaubare Jefferson Forschung. Sicherlich kann man das unkonventionelle American Sphinx: The Character of Thomas Jefferson von Joseph J. Ellis (trotz des ➱Skandals um seine Person) auch uneingeschränkt empfehlen (muss ich ein Ausrufezeichen dahinter setzten?). Aber im deutschsprachigen Bereich haben wir, in dieser kompakten Form, nichts Besseres als Peter Nicolaisens Buch.

Jefferson hat einige Gedichte geschrieben, nichts Aufregendes, so etwas drucken wir hier nicht ab. Er hat aber auch Gedichte gesammelt, das ist eine kuriose Sache. In den Jahren seiner Präsidentschaft hat er alle möglichen Gedichte ausgeschnibbelt und in sogenannte scrapbooks eingeklebt, die für seine Enkeltöchter bestimmt waren. Solche scrapbooks waren damals Mode (sie sind es heute offenbar wieder), nach zweihundert Jahren sind sie natürlich ein Fundstück für die Archäologen der Kultur. Sie sind kein wirklich sensationeller Fund. Man wusste, dass es sie gab, man hatte lediglich bisher angenommen, dass sie die Klebearbeit der Kiddies waren. Aber jetzt sind die Forscher überzeugt, dass es Jefferson selbst gewesen ist, der diese scrapbooks zusammenstellte. Ein Professor namens Jonathan Gross hat vor Jahren Thomas Jefferson's Scrapbooks: Poems of Nation, Family, & Romantic Love Collected by America's Third President herausgegeben. Und Sie können ➱hier die spannende Geschichte lesen, wie es dazu gekommen ist.

Jefferson war belesen. Belesener als viele seiner Nachfolger. Oder sollte man sagen: so belesen wie alle seine Nachfolger zusammen? Und dennoch scheint sein Verhältnis zur Dichtung ein wenig gestört zu sein. So schreibt er im Jahre 1801: To my own mortification however [faded in manuscript] that of all men living I am the last who should undertake to decide as to the merits of poetry. In earlier life I was fond of it, and easily pleased. But as age and cares advanced the powers of fancy have declined. Every year seems to have plucked a feather from her wings till she can no longer waft one to those sublime heights to which it is necessary to accompany the poet. So much has my relish for poetry deserted me that at present I cannot read even Virgil with pleasure. I am consequently utterly incapable to decide on the merits of poetry. The very feelings to which it is addressed are among those I have lost. So that the blind man might as well undertake to [faded] a painting or the deaf a musical composition.

Ich weiß nicht, was er zu dem Gedicht von Lorine Niedecker gesagt hätte, das ich hier heute präsentiere. Niedecker hat an der ➱Universität studiert, die Jefferson gebaut hat, sie gehörte als Dichterin zur Avantgarde. Was sie uns hier präsentiert ist eine Montage aus Zitaten aus Jeffersons Briefen, ➱Ezra Pound und T.S. Eliot hatten ja vorgemacht, wie das geht. Kriegt man heute mit Hilfe des Computers leicht hin. Ich war noch keine vier Wochen in der Welt der blogosphere, da habe ich ➱hier auch so etwas gemacht. J.D. Salinger war gerade gestorben, und ich habe mir gedacht: nimm dir Sätze aus The Catcher in the Rye und füge sie so zusammen, dass es wie ein Gedicht aussieht. Ich erhebe keinen großen Originalitätsanspruch, aber als es fertig war, hat es mir gefallen.

Solche Bemerkungen sollen in keiner Weise Lorine Niedeckers Gedicht abwerten (obgleich es solche Stimmen von Literaturkritikern gibt) - nein, ich finde ihr Gedicht mit dem Titel Jefferson wirklich großartig. Weil es so kleine Schnipsel eines Lebens sind. Die man einzeln in ein scrapbook kleben könnte. Und die sich zusammenfügen zu einem Leben. Das Leben als scrapbook - daraus könnte man auch etwas machen.

I
My wife is ill!
And I sit
waiting
for a quorum

II
Fast ride
his horse collapsed
Now he saddled walked
Borrowed a farmer’s
unbroken colt
To Richmond
Richmond How stop—
Arnold’s redcoats
there

III
Elk Hill destroyed—
Cornwallis
carried off 30 slaves
Jefferson:
Were it to give them freedom
he’d have done right


IV
Latin and Greek
my tools
to understand
humanity
I rode horse
away from a monarch
to an enchanting
philosophy

V
The South of France
Roman temple
“simple and sublime”
Maria Cosway
harpist
on his mind
white column
and arch

VI
To daughter Patsy: Read—
read Livy
No person full of work
was ever hysterical
Know music, history
dancing
(I calculate 14 to 1
in marriage
she will draw
a blockhead)
Science also
Patsy

VII
Agreed with Adams:
send spermaceti oil to Portugal
for their church candles
(light enough to banish mysteries?:
three are one and one is three
and yet the one not three
and the three not one)
and send salt fish
U.S. salt fish preferred
above all other

VIII
Jefferson of Patrick Henry
backwoods fiddler statesman:
“He spoke as Homer wrote”
Henry eyed our minister at Paris—
the Bill of Rights hassle—
“he remembers . . .
in splendor and dissipation
he thinks yet of bills of rights”

IX
True, French frills and lace
for Jefferson, sword and belt
but follow the Court to Fontainebleau
he could not—
house rent would have left him
nothing to eat

He bowed to everyone he met
and talked with arms folded
He could be trimmed
by a two-month migraine
and yet
stand up

X
Dear Polly:
I said No—no frost
in Virginia—the strawberries
were safe
I’d have heard—I’m in that kind
of correspondence
with a young daughter—
if they were not
Now I must retract
I shrink from it

XI
Political honors
“splendid torments”
“If one could establish
an absolute power
of silence over oneself”
When I set out for Monticello
(my grandchildren
will they know me?)
How are my young
chestnut trees—

XII
Hamilton and the bankers
would make my country Carthage
I am abandoning the rich—
their dinner parties—
I shall eat my simlins
with the class of science
or not at all
Next year the last of labors
among conflicting parties
Then my family
we shall sow our cabbages
together

XIII
Delicious flower
of the acacia
or rather
Mimosa Nilotica
from Mr. Lomax

XIV
Polly Jefferson, 8, had crossed
to father and sister in Paris
by way of London—Abigail
embraced her—Adams said
“in all my life I never saw
more charming child”
Death of Polly, 25,
Monticello

XV
My harpsichord
my alabaster vase
and bridle bit
bound for Alexandria
Virginia
The good sea weather
of retirement
The drift and suck
and die-down of life
but there is land

XVI
These were my passions:
Monticello and the villa-temples
I passed on to carpenters
bricklayers what I knew
and to an Italian sculptor
how to turn a volute
on a pillar
You may approach the campus rotunda
from lower to upper terrace
Cicero had levels

XVII
John Adams’ eyes
dimming
Tom Jefferson’s rheumatism
cantering

XVIII
Ah soon must Monticello be lost
to debts
and Jefferson himself
to death

XIX
Mind leaving, let body leave
Let dome live, spherical dome
and colonnade
Martha (Patsy) stay
“The Committee of Safety
must be warned”
Stay youth—Anne and Ellen
all my books, the bantams
and the seeds of the senega root


Freitag, 12. April 2013

Chelsea Boots


Ich muss heute leider auf einen Leser verzichten. Nämlich denjenigen, der vor kurzem in seinem ➱Blog schrieb: Das nach meiner Meinung schönste und witzigste und vor allem geistreichste aller Blogs, das ich wirklich täglich lese (außer es geht um Schuhe oder Hemden), trägt den Titel “Silvae“. Herzlichen Dank für das schöne Kompliment, aber heute sind mal wieder Schuhe dran. Nämlich die Chelsea Boots, die neuerdings wieder ➱Konjunktur zu haben scheinen.

In den siebziger Jahren habe ich mal jahrelang Chelsea Boots getragen. Taten damals ja viele, die Beatles sind nicht die ersten gewesen. Wobei die Schuhe, die sie trugen (die von Anello & Davide kreiert wurden), sich von den normalen Chelsea Boots ein wenig unterschieden. Sie hatten einen Reißverschluss, waren vorne ziemlich spitz und hatten einen Cuban heel. Dieser hohe Absatz war nix für jedermann. Diese Schuhe hießen damals manchmal auch Mersey Boots, heißen heute aber immer noch Beatle Boot. Sie haben noch andere Namen. So fallen sie für das Urban Dictionary unter nosepickers N (plurale tantum). Men's shoes or boots with very pointed toes, such as were popular with male delinquents in the 60s, such as Chelsea boots, Beatle boots, or lesser known makes with even pointier toes. Synonym: fenceclimbers; cockroach killers.

Schon die Mods hatten in den sechziger Jahren die Chelsea Boots wieder einmal modetauglich gemacht. Aber wenn man wie ich damals gerade seinen Dienst bei der Infanterie quittiert hatte, dann trug man erst einmal freiwillig keine Stiefel mehr. Auch keine Halbstiefel. Doch in den siebziger Jahren fand ich die Chelsea Boots chic, es war nur schwer, richtig gute zu bekommen. So etwas wie Designer inspired cheap mens chelsea boots at Mr Shoes UK online shoe shop. Buy the best mens chelsea boots style, smart, formal and casual leather oder Chelsea boots versandkostenfrei bei Zalando bestellen sollte man natürlich verschmähen. Da schreit bestimmt niemand vor Glück, wenn er die auspackt.

Natürlich waren nicht alle Chelsea Boots der siebziger Jahre so elegant wie das Modell von Crockett und Jones da oben. Viele half boots ähnelten eher diesen Modellen - nicht ohne Berechtigung haben die siebziger Jahre ja das Label the decade that taste forgot bekommen. Und so hatten viele der Chelsea Boots erhöhte Sohlen und Absätze, da waren die Cuban heels der Beatles Boots nichts dagegen. Diese Stiefelchen mit Plateausohlen gehörten übrigens einmal Elton John. ➱Gary Glitter trug ähnliche Modelle. Damals galt so etwas als glam rock, heute nur noch als schlechter Geschmack. Bei allem, das mit glamour und glam angepriesen wird, sollte man auf das Haltbarkeitsdatum achten.

Die Chelsea Boots sind keine wirkliche Neuerung in der Herrenmode, es gibt sie seit den Tagen der Königin Victoria. Angeblich wurden sie von einem Schuhmacher namens J.S. Hall erfunden, der das Modell für die Königin lieferte. Er soll aus Chelsea stammen, deshalb heißen die Schuhe so. Und so ist das Internet voll von Sätzen wie diesem: Der Chelsea Boot wurde um 1830 von J.S. Hall, dem Schuhmacher von Königin Victoria, kreiert und ist nach seinem Erfindungsort, dem Londoner Stadtteil Chelsea, benannt. Leider ist die Geschichte nicht so ganz richtig. Der Schuhmacher heißt mit vollem Namen Joseph Sparkes Hall, er sitzt in der Regent Street 308. Die gehört damals zum County of Middlesex, einen Stadtteil namens Chelsea wird es erst später geben. Also ist das mit dem J.S. Hall aus Chelsea schon mal nix. Aber Joseph Sparkes Hall liefert der jungen Königin 1837 den ➱Prototyp dessen, was heute Chelsea Boot heißt. Allerdings besteht der elastische Teil noch nicht aus Gummi, sondern aus dünnen Metallfäden, die mit Baumwolle ummantelt wurden. Aber drei Jahre später hat Sparkes Hall the most perfect thing of its kind fertig und bekommt dafür am 14. Mai 1840 ein Patent.

Er wird noch andere Patente erhalten, er ist ein umtriebiger Mann, schreibt sogar ein Buch über Schuhe. In seinem Buch The Book of the Feet sagt Sparkes Hall: Her majesty has been pleased to honour the invention with the most marked and continued patronage: it has been my privilege for some years to make her boots…and no one who is acquainted with her Majesty's habits of walking and exercise, in the open air, can doubt the superior claims of elastic over every other kind of boots. Wahrscheinlich meint er auch die Königin, wenn er schreibt: One of my earliest customers, a Lady of great originality of thought and expression first induced me to make it an article of universal sale by saying: These boots are the comfort of my life, if you were only to give them a sounding name — if you like, call them lazy boots and turn it into Greek — all the world will buy them, and you'll make your fortune. Das heute noch interessante Buch (➱hier im Volltext) wird sogar von ➱Eric Hobsbawm in Uncommon People erwähnt, es erlebte schnell eine zweite Auflage. Und es erschien, da der Autor für diesen Zweck a history of boots and shoes in the United States beigefügt hatte, schon 1847 in New York.

Aber solch schönen Namen, wie ihn sich die Lady of great originality of thought and expression wünschte, haben die späteren Chelsea Boots damals nicht bekommen. Allerdings hat Joseph Sparkes Hall einen schönen Namenszusatz bekommen, er durfte sich jetzt Patent-Elatisc-Boot Maker to her Majesty the Queen nennen. Wenn die Königin diesen Schuh trägt, dann will ihn jetzt jeder in England haben. Angeblich ist er mit seinen Kreationen nicht reich geworden: For many years I have scarcely made any other kind of boots but the elastic; but, I have not made a fortune. I am happy, however, if in any way I have contributed to the comfort of my fellow-creatures, or been instrumental in affording employment to my own countrymen.

Eigentlich sind es ja Stiefeletten für den Herren, die jetzt ein elastisches Seitenteil aus India-rubber material bekommen. Es wird seit den 1820er Jahren in England eine Vielzahl von neuen Schuhformen geben. Es kommen die blucher auf (wenn auch zuerst als geschnürte Stiefel), eine Schuhform, die wir heute in Deutschland einen Derby nennen. Im englischsprachigen Bereich (vor allem in Amerika) heißen sie immer noch nach unserem Marschall. Auch nach dem anderen Sieger von ➱Waterloo wird ein Schuhmodell benannt: die Wellingtons, die damals noch nicht wie heute einen grünen Gummistiefel meinen. Das hier auf einem Bild des Victoria und Albert Museums ist ein ➱Dress Wellington für den Opernbesuch, man beachte die Seidenschleife vorne. Das Oberteil ist bei diesen ➱dress boots häufig aus anderem Leder, weil es den Strumpf vortäuschen soll. Die Herrenmode ist jetzt dabei, die Reitstiefel und Hessian Boots, die Beau Brummell noch trug, aufzugeben. Die Wellington Boots, eine Variante der Hessian Boots, die Wellingtons Schuhmacher ➱Hoby ihm anfertigt, halten sich bis in die 1840er Jahre.

Zum Ende des Jahrhunderts sieht die bevorzugte Schuhform bei den Herren ungefähr so aus, Halbschuhe, wie wir sie heute kennen, sind noch lange kein Thema. Sie kommen en masse erst nach dem Ersten Weltkrieg, und selbst danach wird eine ganze Generation geschnürte Halbstiefel tragen. Ich glaube nicht, dass mein Opa jemals Halbschuhe getragen hat. In England gibt es sicherlich auch heute noch Gentlemen, die solche Schuhe tragen: Boots largely gave way to shoes after the First World War, but the town boot of light or glacé leather remains a height of style, heißt es in Paul Keers' A Gentleman's Wardrobe.

Es ist die Zeit, in der die Halbstiefel, die wir heute Chelsea Boots nennen, auf den Markt kommen, die eine Wende in der Schuhmode markiert. Weg von den Stiefeln. Man trägt keine breeches mehr, sondern bevorzugte pantaloons. Mit einem Band unter dem Schuh gehalten, sodass sie glatt saßen und keine Falten bildeten. Für diese Hosenform empfehlen sich Stiefel nicht unbedingt. Um 1850 haben sich die Halbstiefel mit dem elastischen Einsatz in der Mode schon durchgesetzt. Allerdings haben sie da noch nicht den Namen Chelsea Boots, da sind sie noch schlicht und einfach elastic-sided half boots. Das Wort Chelsea Boots kennt das Oxford English Dictionary erst seit dem Jahre 1962. Den Chelsea tractor (ein Schickeria SUV) verzeichnet das Lexikon seit 2007.

Dass die eleganten Halbstiefel ihren Namen erst in den ➱Sixties bekommen haben, als die King's Road neben der Carnaby Street zum Zentrum des ➱Swinging London geworden war, scheint nachvollziehbar. Jetzt kommt alles aus Chelsea. Die Karrieren von ➱Mary Quant (hier ist ein langer Post zu Mary Quant) und Vivienne Westwood haben hier begonnen. Aber schon vor den Sixties war Chelsea berühmt, im ausgehenden 19. Jahrhundert wohnen hier Künstler und Maler:  ➱J. M. W. Turner, ➱James McNeill Whistler und ➱John Singer Sargent, um nur einmal die berühmtesten zu nennen. Und dieses kleine bisschen Bohème, das der Name Chelsea assoziiert - bevor er nur noch mit Schickeria und Fußball assoziiert wurde - verbindet sich auch mit den Chelsea Boots.

Die Chelsea Boots haben noch Geschwister. Nämlich die Jodhpur Boots, angeblich in Indien zum Reiten erfunden. Für die Gentlemen, die Polo spielen, für die wird alles mögliche erfunden: Jodhpur Boots, Buttondown Hemden und die Jaeger Le Coultre Reverso. Die Jodhpur Boots sehen toll aus, aber wenn Sie mich fragen: total unpraktisch. Ich konnte mal der Verlockung nicht widerstehen, bin aber nie damit glücklich geworden. Ich würde auch nie im Leben ein Paar Monks kaufen. Selbst nicht, wenn sie von Edward Green wären und nur einen Fuffi kosteten. Jodhpur Boots gehen natürlich nur in dieser Farbe, schwarz ist vollkommen daneben. Aber schwarz ist nun gerade die richtige Farbe für Chelsea Boots. Ohne Verzierungen, ohne Steppnähte, wholecut, als ob sie der ➱Teufel gemacht hätte.

Man kann sie sogar zum Anzug tragen, obwohl Hardy Amies sie nicht mag: Zur Popularität der Slipper trugen auch die 'Chelsea Boots' der Beatles-Ära bei. Die Seiten aus elastischem Stoff waren nicht gerade eine Zierde; sie machten sich schlecht in billigen Schuhen und ließen hochwertiges Schuhwerk billig aussehen. Es ist völlig unmöglich, in billigem Schuhwerk gut gekleidet zu sein. Sagt Sir Hardy in Anzug und Gentleman: Von der feinen englischen Art, sich zu kleiden (➱hier bei Google Books zu lesen). Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass es in den siebziger Jahren auch elegante half boots gab, die aussahen wie ein Chelsea Boot ohne Elastikeinsatz. Diesen dress boot konnte man mit einem Reißverschluss an der Innenseite öffnen und schließen. Perfekt. Ich habe noch ein Paar in weinrot im Schrank.

Chelsea Boots haben in jeder Farbe ohne Zeifel mehr Eleganz als die Chukka Boots (und damit bin ich bei einem weiteren Verwandten), welche in England auch sehr beliebt sind. In leicht anderer Form kennen wir sie als Desert Boots, so etwas hat die British Army in Afrika im Zweiten Weltkrieg getragen. Und danach ist ➱Nathan Clark von der gleichnamigen Firma mit seinen Desert Boots berühmt geworden. Ohne dieses Schuhwerk hätte es keine Flower Power und keine weltweite studentische Revolution gegeben, sie waren in den Sixties ein Muß. Meine ersten waren dunkelgrün, ich habe nie wieder dunkelgrüne Clarks gesehen. Ein Paar dunkelbraune habe ich immer noch im Schrank. Ich habe auch noch ein Paar gelbe mit fetter Specksohle von Crockett und Jones, aber irgendwie erinnern die mich immer an die yellow perils in der wunderbaren Kurzgeschichte ➱The Story of Cedric von P.G. Wodehouse.

Mein Gedicht heute hat keinen Verfasser. Es ist kurz, es könnte als Graffiti an einer Hauswand in London stehen. Passt aber schön zum Thema:

Take me back to my roots,
Not the World’s End,
But the King’s Road
In my shiny Chelsea Boots

Noch mehr Schuhe in diesem Blog unter:  ➱Wildlederschuhe, ➱Militärisches Schuhwerk, ➱Cliff Roberts, Artisan, ➱Dinckelacker. Und zum Leidwesen von Leser Wolfgang Vögele schreibe ich irgendwann auch einmal wieder über Hemden, wo ich doch gerade dieses schöne neue Ed. Meier Hemd trage.

Donnerstag, 11. April 2013

die Gottschedin


Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Ein schöner Name. Man nennt sie auch die Gottschedin. Ihr Gatte nennt sie die geschickte Freundin. Sie wurde heute vor dreihundert Jahren geboren, deshalb muss das gelehrte Frauenzimmer mal eben erwähnt werden (Maria Theresia hat sie die gelehrteste Frau von Deutschland genannt). Seien Sie unbesorgt, dies wird jetzt keine Minivorlesung über Johann Christoph Gottsched und die deutsche Aufklärung.

Falls Sie eine gute Literaturgeschichte für die Zeit suchen, ich hätte da einen Tip für Sie: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Band 6: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik (1740-1789). Ist der Band VI der Literaturgeschichte von Helmut de Boor und Richard Newald. Wäre stinkelangweilig, wenn es der alte Band von Richard Newald wäre. Aber 1990 hat man bei C.H. Beck ein Erbarmen gehabt und den Band neu schreiben lassen. Von drei skandinavischen Autoren: Sven Aage Jorgensen,  Klaus Bohnen und Per Øhrgaard. Die Herren De Boor und Newald hatten ja in der Germanistik den Status von Hohepriestern, die das Heiligste von Deutschland, die deutsche Literatur bewachten. Und nun lässt man Skandinavier in diesen Tempel und lässt sie über unsere Aufklärung und Sturm und Drang schreiben. Kann das gut gehen? Es geht nicht besser. Diese mustergültige Literaturgeschichte hat nichts mehr von Staub und Schimmel an sich, den der gute alte deBoor/Newald angesetzt hatte. Ein halbes Jahrhundert (1740-1789) in einem Band dargestellt, vielleicht der Höhepunkt der deutschen Literatur. Immens lesbar, ohne mit all der soliden Wissenschaftlichkeit, die in dem Band steckt, zu protzen. Nicht nur eine Literaturgeschichte, auch eine Sozialgeschichte der Literatur. Und nicht nur für Fachgelehrte. Und frei von Foucault, Lacan, Derrida und ähnlichem modischen Unsinn. Zwei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen immer noch neuwertig.

Die Gottschedin ist nicht nur die geschickte Freundin ihres Gattin gewesen, sie schrieb auch selbst. Und übersetzte aus dem Englischen. Wie die Neue Sammlung auserlesener Stücke aus Popens, Eachards, Newtons, und andrer Schriften, die 1749 in Leipzig erschien. Darin findet sich ein wunderbarer philosophischer Dialog (mit sehr satirischen Untertönen) zwischen einem gewissen Timotheus und dem Philosophen Thomas Hobbes. Im Original heißt das Mr. Hobbs State of Nature considered; in a dialogue between Philautus and Timothy. Wurde von dem Gegner von Hobbes, dem Satiriker John Eachard 1672 veröffentlicht. 1673 ließ der Autor den Band Some Opinions of Mr Hobbs considered in a second dialogue folgen. Hobbes hätte es noch lesen können. Ich weiß nicht, ob er der diesen Eachard wirklich beachtet hat.

Hobbes: So will ich euch denn, Timotheus, aber als ein Geheimniß entdecken, daß alle Menschen, von Natur, raubgierig und mürrisch, giftig und beissend, sind. Kurz, sie sind an und für sich selbst, bloße Wölfe, Tyger und Centuren.
Timotheus: Gott bewahre! Was? ihr und ich? wir wären Wölfe, Tyger und Centauren?
Hobbes: Das mag euch freylich jetzt Wunder nehmen; allein wenn ihr so viel werdet gelesen, so viel beobachtet und so viel erwogen haben, als ich; so werdet ihr finden, daß es so wahr ist, als daß ich ein Paar Stiefel anhabe.

Normalerweise schwört man ja bei Gott. Oder beim Bart des Propheten. Oder beim Grab der Mutter. Aber unser Philosoph schwört bei seinen Stiefeln. Das ist sehr witzig. Stiefel sind übrigens dem wirklichen Thomas Hobbes nicht ganz egal. Gut, im Leviathan kommen keine boots oder shoes vor. Aber wenn Lodewijck Huygens Thomas Hobbes (der gerade aus dem französischen Exil zurückgekehrt war) in England besucht, notiert er: He was still dressed in the French manner, however, in trousers with points and boots with white buttons and fashionable tops. Ein Philosoph, der im Alter noch Tennis spielt und elegante französische Stiefel trägt, das hat doch etwas.

Gefällt mir besser, als Heidegger Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks zu zitieren, wo er dies Bild von Van Gogh ➱interpretiert. Obgleich ein Häppchen davon nicht fehlen darf: Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeuges ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauer Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Nein, dieser Text braucht keinen Kommentar, der ist schon komisch genug.

Ich habe es heute mit den Stiefeln, musste einen großen Bogen von der Gottschedin zu Stiefeln schlagen. Das hat einen simplen Grund: dies heute ist nur ein hors d’œuvre für den sensationellen Post namens Chelsea Boots, der morgen hier steht (und der ganz ohne Heidegger auskommt). Ein Gedicht habe ich natürlich auch, sogar ein philosophisches. Im Zweifelsfall ist man da bei Joachim Ringelnatz gut aufgehoben. Es ist sowieso viel besser, Ringelnatz zu lesen als Heidegger zu lesen.

Lackschuh sprach zum Wasserstiebel:
»Lieber Freund, du riechst so übel.
Und du bist nach meiner Meinung
Eine störende Erscheinung.
Darum muß wohl von uns beiden
Einer dieses Schuhhaus meiden.«
Stiefel lächelte dazu
Und begann: »Verehrter Schuh,
Wenn du jenes Sprichwort kennst:
Alles ist nicht Gold, was glänzt,
Nimm es besser dir zu Herzen,
Denn die Welt, sie liebt zu schwärzen,
Was da glänzt, auch zieht sie keck
Das Erhabne in den Dreck.
Will dein Lack mir auch gefallen,
Teurer Schuh, bedenke doch,
Wenn der Lack in Staub zerfallen,
Lebt das fette Leder noch.
Niemals hieltest du den nassen
Kalten Wasserfluten stand,
Denn die Elemente hassen

Das Gebild von Menschenhand.«
Und der Schuh verbeugte sich.
Darauf sprach er ernst und würdig:
»Freund, ich überzeugte mich,
Daß du mir ganz ebenbürtig.
Leider war mir anfangs duster,
Was mir jetzt Gewißheit ist,
Daß du Meisterwerk vom Schuster
Wasser-Dichter Stiefel bist.«


Mittwoch, 10. April 2013

William Hazlitt


Heute vor 235 Jahren wurde William Hazlitt geboren. Das hier ist ein Selbstportrait des jungen Hazlitt, er hätte auch Maler werden können. Das Talent ist in der Familie, sein Bruder John hatte bei ➱Reynolds studiert. Immerhin hat die Royal Academy (die er nicht mochte: The air of an academy, in short, is not the air of genius and immortality; it is too close and heated, and impregnated with the notions of the common sort) ein Bild von Willliam Hazlitt angenommen. Über diese Phase seines Lebens hat er später mit einer gewissen wehmütigen Erinnerung ➱geschrieben. Vielleicht hätte er auch Dichter werden können, aber das ist er nicht geworden, obgleich ihn die Dichter immer beschäftigt haben. Poetry is all that is worth remembering in life, hat er in ➱My first acquaintance with poets gesagt. Dort sagt er auch but that my understanding also did not remain dumb and brutish, or at length found a language to express itself, I owe to Coleridge. Und er resümiert seine Jugend: So have I loitered my life away, reading books, looking at pictures, going to plays, hearing, thinking, writing on what pleased me best. I have wanted only one thing to make me happy; but wanting that, have wanted everything!

Seine Bildung verdankt er in vieler Weise sich selbst, er ist ein eigenständiger Geist. Die Ideale der französischen Revolution, die einmal die seinen waren, wird er immer behalten, und er wird jene verachten, die sich im Alter davon distanzieren. Wie ➱Wordsworth zum Beispiel, zu dem er ein sehr ambivalentes Verhältnis hat. Die vierbändige Biographie über Napoleon, den er 1802 in Paris von Ferne gesehen hatte, hätte er mal lieber bleiben lassen sollen. Seine Heldenverehrung ist ein wenig peinlich. Das Kapitel über Napoleon in Rußland und die Katastrophe der ➱Beresina ist von keiner historischen Übersicht getrübt. Und über Napoleons Rückkehr nach Paris im Frühjahr 1815 schreibt er mit seinem typischen Enthusiasmus: the greatest instance ever known of the power created by one man over opinion .. it was one man armed with the rights of a people against those who had robbed them of all natural rights, and gave them leave to breathe by charter .. Buonaparte seemed from his first landing to bestride the country like a Colossus, for in him rose up once more the prostrate might and majesty of man, and the Bourbons like toads or spiders, got out of the way of the huge shadow of the Child Roland of the Revolution. Die Napoleon Verehrung, die er mit ➱Heinrich Heine teilt, hat ihn nach Bonapartes Untergang bei ➱Waterloo in den Suff getrieben. Wenn man so will, ist Napoleons Waterloo auch Hazlitts Waterloo. Die Arbeit an der Biographie wird seine Gesundheit ruinieren.

Doch hiervon abgesehen ist Hazlitt zweifellos ein großer Essayist, ein Meister der englischen Prosa, in vielem der Nachfolger von Dr Samuel Johnson. Mit dem er auch vieles gemeinsam hat. In seinen Essays, nicht in seinem Leben. So klug Hazlitt in seinen Essays ist, so sehr steht er sich in seinem Leben selbst im Wege. In der Welt der Literatur und der Philosophie hat Hazlitt klare Meinungen, er ist auch erstaunlich subjektiv (was ein Essayist sein muss), er erscheint uns in vielem sehr modern. Würde er heute leben, wäre er wahrscheinlich Blogger. Wenn wir Hazlitt heute als Essayisten, Kunst- und Literaturkritiker sehen, übersehen wir ein wenig, welch breite philosophische Bildung er besitzt. Wesentlich breiter als die von Herrn ➱Precht.

In manchen Dingen des Lebens hilft einem die philosophische Bildung nicht unbedingt. In der Liebe zum Beispiel, da klaffen Theorie und Praxis immer auseinander. Seine erste Ehe ist gescheitert, er flüchtet in die Arme einer Sarah Walker, der Tochter seiner Vermieterin. Nay, Sarah, it was more than half a year before I knew that there was an insurmountable obstacle in the way. You say your regard is merely friendship, and that you are sorry I have ever felt anything more for you. Yet the first time I ever asked you, you let me kiss you; the first time I ever saw you, as you went out of the room, you turned full round at the door, with that inimitable grace with which you do everything, and fixed your eyes full upon me, as much as to say, "Is he caught?"—that very week you sat upon my knee, twined your arms round me, caressed me with every mark of tenderness consistent with modesty; and I have not got much farther since. Es kommt, wie es kommen muss, es wird nichts aus der Sache. Vielleicht hätte er sich an seinen eigenen Satz erinnern sollen: We often choose a friend as we do a mistress - for no particular excellence in themselves, but merely from some circumstance that flatters our self-love.

Williams Hazlitt, der kühle Kritiker, macht sich dann zum Narren und erzählt halb London seine Liebesgeschichte. Sein Freund Benjamin ➱Haydon (der ➱hier schon einmal erwähnt wurde) registriert das mit einer gewissen Fassungslosigkeit: Poor Hazlitt ! He who makes so free with the follies of his friends is of all mortals the most open to ridicule. To hear him repeat, with solemn tone and agitated mouth, the things of love he said to her (to convince you that he made love in the true gallant way), to feel the beauty of the sentiment, and then look up and see his old, hard, weather-beaten, saturnine, metaphysical face — twitching all sorts of ways — is really enough to provoke a saint to laughter. He has a notion that women have never liked him. Since this affair he has dressed in the fashion, and keeps insinuating his improved appearance. He springs up to show you his pantaloons. What a being it is! His conversation is now a mixture of disappointed revenge, passionate remembrances, fiendish hopes, and melting lamentations. I feel convinced his metaphysical habits of thinking have rendered him insensible to moral duty...

Für die junge Sarah Walker (die nach Meinung von Hazlitts Ehefrau thin and bony as the scrag end of a neck of mutton war) ist es wohl nicht mehr als ein Flirt gewesen. Der Mann, der ihr Vater sein könnte, macht aus der gescheiterten Liebesaffäre Literatur: Liber amoris, or, the New Pygmalion wird das Buch heißen (falls Sie dreieinhalb Stunden Zeit haben, können Sie es sich hier vorlesen lassen). Es ist eine Vorwegnahme von Kierkegaards Tagebuch eines Verführers, wo auch eine gescheiterte Affäre literarisch und philosophish sublimiert wird. Allerdings kommen Schlüsselromane beim Publikum noch nicht so gut an, Hazlitt wird gesellschaftlich geächtet. Er hätte mehr auf seine eigenen Worte hören sollen: Do not keep on with a mockery of friendship after the substance is gone - but part, while you can part friends. Bury the carcass of friendship: it is not worth embalming. Er wird seine Napoleon Biographie zu Ende schreiben, aber er wird verarmt und vereinsamt sterben. Doch noch auf dem Totenbett sagt er I have had a good life. Bei dem Gedenkgottesdienst im Oktober 1830 wird der Reverend John Johns sagen: He was the fearless, the eloquent, and disinterested advocate of the rights and liberties of Man, in every cause and in every clime.

Poetry is all that is worth remembering in life. Ich weiß jetzt nicht, ob ein Gedicht von Coleridge wirklich passend ist. Der Mann, der ihm in seiner Jugend nach seiner eigenen Aussage so viel bedeutete, ist ihm zum Lebensende gleichgültig geworden. Dieser ➱Essay aus dem Jahre 1825 ist doch schon sehr, sehr distanziert. Doch da es ein Portrait von Charles Lamb gibt, das Hazlitt gemalt hat, nehme ich Coleridges an Lamb adressiertes Gedicht This Lime-Tree Bower My Prison. Es ist mir neben Frost at Midnight eh das liebste Gedicht von Coleridge. Kubla Khan und The Rime of the Ancient Mariner kann ich nicht ausstehen. So sehr ich mich um Coleridge bemüht habe (ich besitze immerhin drei verschiedene Werkausgaben), er wird nicht mein Freund. Ich kann einen Band Byron aus dem Regal nehmen und stundenlang drin lesen (und falls Sie zufälligerweise alles über das Verhältnis von Byron zu Hazlitt wissen wollen, dann lesen Sie ➱hier diesen hervorragenden Vortrag von Professor Duncan Wu). Mit Coleridge funktioniert das nicht, ich kann ihn nicht stundenlang lesen. In keiner der drei Werkausgaben. Aber dies Gedicht, wo Coleridge seine Freunde nicht auf dem Spaziergang (etwas, das ➱Hazlitt auch viel bedeutete) bei dem romantischen ➱Naturgenuss begleiten kann, weil ihm seine Gattin accidentally emptied a skillet of boiling milk on my foot, which confined me during the whole time of C. Lamb's stay, das mag ich sehr.

This Lime-Tree Bower My Prison

Well, they are gone, and here must I remain,
This lime-tree bower my prison! I have lost
Such beauties and such feelings, as had been
Most sweet to have remembrance, even when age
Had dimm'd mine eyes to blindness! They, meanwhile,
Friends, whom I never more may meet again,
On springy heath, along the hilltop edge,
Wander in gladness, and wind down, perchance,
To that still roaring dell, of which I told;
The roaring dell, o'erwooded, narrow, deep,
And only speckled by the mid-day sun;
Where its slim trunk the ash from rock to rock
Flings arching like a bridge; —that branchless ash,
Unsunn'd and damp, whose few poor yellow leaves
Ne'er tremble in the gale, yet tremble still,
Fann'd by the water-fall! and there my friends
Behold the dark green file of long lank weeds,
That all at once (a most fantastic sight!)
Still nod and drip beneath the dripping edge
Of the blue clay-stone.

Now my friends emerge
Beneath the wide wide Heaven—and view again
The many-steepled tract magnificent
Of hilly fields and meadows, and the sea,
With some fair bark, perhaps, whose sails light up
The slip of smooth clear blue betwixt two Isles
Of purple shadow! Yes! they wander on
In gladness all; but thou, methinks, most glad,
My gentle-hearted Charles! For thou hast pined
And hunger'd after Nature, many a year,
In the great City pent, winning thy way 
With sad yet patient soul, through evil and pain
And strange calamity! Ah! slowly sink
Behind the western ridge, thou glorious Sun!
Shine in the slant beams of the sinking orb,
Ye purple heath-flowers! richlier burn, ye clouds!
Live in the yellow light, ye distant groves!
And kindle, thou blue Ocean! So my friend,
Struck with deep joy, may stand, as I have stood,
Silent with swimming sense; yea, gazing round
On the wide landscape, gaze till all doth seem
Less gross than bodily; and of such hues
As veil the Almighty Spirit, when he makes
Spirits perceive his presence.

A delight
Comes sudden on my heart, and I am glad
As I myself were there! Nor in this bower,
This little lime-tree bower, have I not mark'd
Much that has sooth'd me. Pale beneath the blaze
Hung the transparent foliage; and I watch'd
Some broad and sunny leaf, and loved to see
The shadow of the leaf and stem above
Dappling its sunshine! And that walnut-tree
Was richly ting'd, and a deep radiance lay
Full on the ancient ivy, which usurps
Those fronting elms, and now with blackest mass
Makes their dark branches gleam a lighter hue
Through the late twilight: and though now the bat
Wheels silent by, and not a swallow twitters,
Yet still the solitary humble-bee
Sings in the bean-flower! Henceforth I shall know
That nature ne'er deserts the wise and pure;
No plot so narrow, be but Nature there
No waste so vacant, but may well employ
Each faculty of sense, and keep the heart
Awake to Love and Beauty! and sometimes
'Tis well to be bereft of promised good,
That we may lift the soul, and contemplate
With lively joy the joys we cannot share.
My gentle-hearted Charles! when the last rook
Beat its straight path along the dusky air
Homewards, I blessed it! deeming its black wing
(Now a dim speck, now vanishing in light)
Had cross'd the mighty Orb's dilated glory
While thou stood'st gazing; or, when all was still,
Flew creaking o'er thy head, and had a charm
For thee, my gentle-hearted Charles, to whom
No sound is dissonant which tells of Life.

Es gibt viel Hazlitt im Internet, für eine Übersicht klicken Sie ➱hier. In Buchform sind zur Zeit die Selected Writings, herausgeben von Jon Cook (Oxford World's Classics), das Beste auf dem Markt. Hazlitts Liebesaffäre ist in Jon Cooks exzellentem Buch Hazlitt in Love: A Fatal Attachment dargestellt.

Dienstag, 9. April 2013

Tom Lehrer


Ihm ist in seiner Karriere als singer-songwriter nichts heilig gewesen, weder der ➱Vatikan noch die ➱US Marines. Er wurde beklaut, aber es war ihm egal. Georg Kreisler mopste sich bei ihm das Lied Tauben vergiften im ParkKreisler ist ein Wiener, der zwei meiner Lieder gestohlen hat, hat Tom Lehrer nur gesagt. Aber Kreisler hat das vehement bestritten. Hören Sie sich doch Lehrers ➱Poisoning Pigeons in the Park an und vergleichen Sie es mit Kreislers ➱Song.

Natürlich hat sich Tom Lehrer, der heute 85 wird. auch bei anderen bedient. Die Melodie zu seinem zungenbrecherischen ➱Elements Song (also das da sollten Sie unbedingt anklicken, falls Sie den Elements Song nicht sowieso auswendig beherrschen) zum Beispiel stammt aus der Oper The Pirates of Penzance. Es ist der berühmte Major General's Song I Am the Very Model of a Modern Major-General. Muss man einmal ➱gehört haben. Ich habe aus der Vielzahl der Aufnahmen bei YouTube die von Simon Butteriss genommen. Den habe ich schon einmal gesehen. Er war mal bei einer Gruppe, die Music Theatre London hieß. Die brachten einen völlig schrägen Mozart in neuem Gewand auf die Bühne. Cosi fan Tutte zum Beispiel spielte bei ihnen vor dem Hintergrund des Golfkrieges. Sie sind in Hamburg aufgetreten, und der NDR hatte diese witzigen Aufführungen mitgeschnitten und ausgestrahlt. Aber die Schnarchnasen bei N3 sind nicht in der Lage, das auf eine DVD zu pressen. Ich habe das ➱hier schon vor zwei Jahren erwähnt, habe auch zweimal an den NDR geschrieben, aber da tut sich nichts. Also erwähne ich es noch mal, und für mich ist es ein schöner Vorwand, die schnuckelige Jacinta Mulcahy, die damals mit Simon Butteriss auf der Bühne stand, hier noch einmal abzubilden. [Inzwischen bietet das Internet etwas mehr, lesen Sie doch einmal das ➱hier]

Mit Gilbert und Sullivan kannte Tom Lehrer sich aus. Als er sich in Harvard bewarb, musste er etwas Selbstgeschriebenes vorlegen, er lieferte ein Gedicht im Stil von Gilbert und Sullivan, das mit den Zeilen endete:

I will leave movie thrillers
And watch caterpillars
Get born and pupated and larva'd
And I'll work like a slave
And always behave
And maybe I'll get into Harva'd.

Man hat den Fünfzehnjährigen in Harvard natürlich genommen, vielleicht nicht wegen der Gilbert und Sullivan Imitation, sondern weil er ein mathematisches Genie war. Tom Lehrer wird heute fünfundachtzig Jahre alt. Natürlich könnte ich einen Tom Lehrer Song als Gedicht des Tages verkaufen. Aber heute ist auch der Todestag von Albert Vigoleis Thelen, da nehme ich lieber von dem ein Gedicht. Seine Gedichte sind ja nicht so bekannt wie die Songs von Tom Lehrer, aber dieses Gedicht mit dem Titel Vergiß-sie-nicht würde Tom Lehrer auch gefallen. Wenn Sie noch nie etwas von Albert Vigoleis Thelen gehört haben, dann sollten Sie ➱diesen Post lesen, der mir vor zwei Jahren sogar die Anerkennung der Albert Vigoleis Thelen Gesellschaft eintrug. Also heute ein Gedicht von Thelen, es stammt aus der Zeitschrift Muschelhaufen (Nr. 18, 1972), einer kuriosen, aber hochinteressanten kleinen ➱Literaturzeitschrift. Sie hat nichts von dem vornehmen Outlay des Merkur, sie wirkt im Outlay eher wie selbstgebastelt. Aber was bedeutet die Verpackung, wenn der Inhalt stimmt?

Vergiß-sie-nicht

Weine nicht, weil du nicht weinen kannst
über die heiligen Wetterschläge der Welt:
Das öffentliche Ärgernis im Garten Eden,
die göttliche Sintflut,
Sodom und Gomorha,
der Untergang der Atlantis mit Mann und Maus,
der Untergang der Titanic mit Mann und Maus,
der Untergang von 2367 Sprachen
benebst deren Sprechern,
der Ausbruch des Krakatau,
der Lues,
des Burenkriegs,
der Maul- und Klauenseuche,
Zyklon und Orkan,
Taifun und Tornado,
das Kino-Unglück in Harburg,
Bleidächer, Gummizellen, Gaskammern,
eine erwürgte Braut,
eine lebendgebärende Päpstin,
schlagende Wetter,
ein gottloser Gott –
und du weinst immer noch nicht?
Sei dann eindächtig der Zwiebel,
alium cepa:
sie löst dir das Rätsel der Tränen
und die Träne dazu.

Montag, 8. April 2013

Jens Christian Jensen ✝


Die bis dahin etwas provinziell verschlafene Kieler Kunsthalle ist in den siebziger und achtziger Jahren mit ihrer Ausstellungstätigkeit das heißeste Objekt der Kunstszene geworden. Das ist das Verdienst eines einzigen Mannes, Jens Christian Jensen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist der Kieler Ordinarius für Kunstgeschichte nicht mehr in Personalunion Direktor der Kunsthalle, man hat jetzt einen eigenen professionellen Direktor.

Darauf war man in meiner Heimatstadt Bremen ja schon siebzig Jahre früher gekommen. Jensen bringt die Kieler Kunsthalle in kürzester Zeit in die Champions League, um es salopp auszudrücken. Sein Nachfolger wird sie in kürzester Zeit in die Bezirksliga führen. Wenn der geht und man denkt, es kann nichts Schlimmeres kommen, wird man eines Besseren belehrt werden. Gewiss ist es ungerecht, diese beiden Herren (die ungenannt bleiben sollen) an den Paulis, ➱Lichtwarks und ➱von Bodes messen zu wollen, aber es finden sich für sie in der Bundesrepublik auch keine Vergleichsgrößen. Wobei Größe eigentlich das falsche Wort ist.

Jens Christian Jensen hat das sichere Auftreten eines Weltmannes, er ist charmant. Er ist immer elegant gekleidet, er ist Kunde bei ➱Kelly's, jenem Herrenausstatter gegenüber dem ehemaligen Kunsthistorischen Seminar in der Dänischen Strasse. Er kauft seinen Wein bei Tiemann, das tun die Kenner im Ort. Er kann gut mit der Schickeria und den finanzkräftigen Kunstliebhabern umgehen, sie werden alle für die Kunsthalle spenden, Ausstellungen finanzieren. Natürlich werden diese Leute hofiert. Was ja das täglich Brot für amerikanische Direktoren ist, aber in Deutschland ist dieses Spiel noch nicht so verbreitet. Und Jensen beherrscht es perfekt. Die von ihm initiierte Bürgeraktion wird eines Tages 750.000 Mark zur Finanzierung des Kunsthallenneubaus beitragen.

Mich persönlich ärgert, dass die Kunsthalle bei Ausstellungseröffnungen immer mit Rolls Royces zugeparkt ist. O.K., es sind nur zwei, der blaue von der Gattin des BMW Generalvertreters und der weinrote von Wunderlich, aber die fahren auch immer bis vor die Treppe. Zu Paul Wunderlich hat Jensen ein freundschaftliches Verhältnis, er wird auch Ausstellungen zu Wunderlich machen und Bücher über ihn schreiben. Er schreibt übrigens sehr viel, man wüsste nicht, was der DuMont Verlag ohne ihn machen sollte. Sehr viele seiner ➱Bücher sind noch lieferbar.

Er kann nicht nur mit der Kieler Schickeria, er versteht sich auch gut mit den Direktoren von Kunsthallen in Deutschland und den Ländern des Ostseeraumes, er wird Ausstellungen nach Kiel lotsen, über die Hamburg oder Berlin neidisch sind. Einer seiner Nachfolger, wird in einem teuren, bunten, aber wissenschaftlich und kunsthistorisch inakzeptablen Katalog Kunsthalle zu Kiel immerhin doch tatsächlich ganze neun Zeilen zu der Ägide Jensen schreiben, dass er sogar die Kunsthallen in Bremen und Hamburg hinter sich ließ. Über seinen Vorgänger, der in acht Jahren überhaupt nichts getan hat (er war mein Nachbar, ich kenne seinen Tagesablauf), hat er mehr Zeilen Lobendes zu sagen. Über sich und sein Katastrophenprogramm See History! natürlich ganze Seiten. Der Spiegel feierte das damals enthusiastisch, aber ich glaube, da haben sie einen Volontär schreiben lassen. Hauptsache neu und schrill ist keine Devise für seriöse Museumsarbeit.

Unser erster Kontakt ist ein Telephongespräch, er ruft mich in der Uni an, er hat Fragen, die mein Fachgebiet betreffen und er hat gehört, dass ich daneben auch studierter Kunsthistoriker sei. Ich beantworte ihm alles ausführlich, schicke ihm auch noch weiterführendes Material mit der Dienstpost in die Kunsthalle. Auch wenn die Kunsthalle jetzt einen neuen Direktor hat, ist sie doch seit 1947 Teil der Universität und hängt am Hauspostsystem. Ich bekomme postwendend von ihm einen Katalog geschenkt. Dieses Spiel wird sich über Jahre hinziehen, Telephongespräche, Briefe, kleine Geschenke. Manchmal bekomme ich auch einen Dankesbrief für eine Ausstellungsbesprechung. Ich schreibe nämlich in dieser Zeit in einer linken Universitätszeitschrift, die es leider nicht mehr gibt, eine kleine Kulturkolumne. Zu dieser Zeit ist ganz Schleswig-Holstein in der Hand der CDU, es ist die Zeit von Stoltenberg und Barschel. Normalerweise werden Planstellen an der Uni nach der politischen Gesinnung besetzt, das war schon einige Jahrzehnte vorher so, als dies noch eine nationalsozialistische Vorzeige-Universität der Nordmark war. 

Jensen ist in der SPD und er macht für diese Partei auch im Wahlkampf Werbung. Er ist der einzige Museumsdirektor, den ich kenne, neben Joachim Kruse in Schleswig, der in der SPD ist. Wenn man die damalige Stellenvergabepraxis kennt, dann wundert es mich bis heute, dass man ihn genommen hat. Aber eine Parteizugehörigkeit ist natürlich kein Ausweis für die Qualität eines Kunsthallendirektors. Und selbst wenn eines Tages die mit absoluter Mehrheit regierende CDU versucht, eine Art Überdirektor für alle schleswig-holsteinischen Museen zu schaffen, wird dieser eine geschlossene Phalanx von Kunsthallendirektoren jeder politischen Couleur gegen sich haben. Axel Springer hatte es der Landesregierung nahe gelegt, für einen seiner Freunde einen neuen Posten als Landesmuseumsdirektor zu schaffen. ➱Axel Cäsar Springer ist jetzt Schleswig-Holsteiner, er hat ➱Gut Schierensee gekauft und luxusrenoviert (heute gehört es Herrn Fielmann und der ehemalige Ministerpräsident wohnt da). Der Mann hat den Charme eines russischen Panzers, flüstert mir ein Museumsdirektor bei einer Ausstellungseröffnung zu. Obgleich der neue Landesmuseumsdirektor von sich behauptet, dass er 35 Museen neu in Schuss gebracht hat, wird sich seine Tätigkeit hauptsächlich auf das Kloster Cismar beschränken, das er zu einer Dependance von Gottorf macht. In die Kunsthalle lässt sich kein Jensen hineinreden.

Witzigerweise liest die Landesregierung sogar die kleine linke Universitätszeitung, für die ich schreibe. Mein Artikel über die Eröffnung des Erweiterungsbaus der Kunsthalle provoziert sogar eine Gegendarstellung des Landesbauamts. Weil ich ihre Leistungen angeblich nicht genügend gewürdigt und stattdessen nur die Verdienste des Architekten Diethelm Hoffmann gelobt hätte. You can't win them all. Meine Besprechung der Ausstellung Vor hundert Jahren: Dänemark und Deutschland 1864-1900. Gegner und Nachbarn wird Jensen nach Berlin weitergeben, wohin die Ausstellung wandert. Die den Text vergrößern und gleich neben den Eingang hängen. Meine Mutter ruft mich aus Berlin an und sagt: In Charlottenburg hängt Dein Artikel direkt neben dem Eingang. Ich hab’s photographiert. Ich bin für fünf Minuten berühmt. Als ich für die gleiche Zeitung mein Lobesgedicht über die wunderbare ➱Anders Zorn Ausstellung schreiben will, werde ich von einer kleinen skandinavistischen Fachzeitschrift namens norröna abgeworben, die zwar auch kein Honorar zahlen, aber meinen Artikel mit Kusshand nehmen. Indirekt bekomme ich doch ein Honorar, weil meine HiFi Anlage, die ich mir gerade zusammenstelle, dadurch billiger wird. Der Mann, der sie mir verkauft, ist (und das ist kaum zu glauben) ein Anders Zorn Fan. Er bekommt natürlich ein Exemplar von norröna, handsigniert. Jensen wird auch den ständigen Kontakt zu Polen suchen, nur so kann er 1973 die Ausstellung ➱Warschau seit Canaletto: Glanz, Verwüstung, Wiederaufbau und 1978 die Ausstellung ➱Polnische Malerei von 1830 bis 1914 vorstellen. 

Und eine ganze Sammlung russischer Gemälde (dies schöne Bild von Iwan Kramskoi war auch dabei) fügt er dem Bestand der Kunsthalle zu. Mit Norwegen wird es eines Tages einen kleinen diplomatischen Konflikt geben. Der norwegische Botschafter weigert sich, die Ausstellung Norge Idag zu eröffnen, solange das Bild Die Ermordung von Andreas Bader von ➱Odd Nerdrum an der Wand hängt. Dieser Nerdrum ist ein seltsames Phänomen, er malt wie Rembrandt. Und das im Jahre 1981, ich bin fasziniert von den drei Bildern in der Ausstellung. Jensen nimmt die Bilder nicht von der Wand, der norwegische Botschafter spricht nicht. Nerdrum ist inzwischen weltberühmt, er bezeichnet sich neuerdings als the King of Kitsch, amerikanische Museen zahlen sechsstellige Beträge für seine Bilder und Botho Strauß hat ihn 2002 im Spiegel gefeiert. Jensen ist das Ganze etwas peinlich, er wird lange mit dem Botschafter sprechen. Er ist um Vermittlung bemüht, nicht um Konfrontation. 

Er wird auch 1976 einem etwas ratlosen Ministerpräsidenten Stoltenberg die Ausstellung amerikanischer Kunst nach 1945 erläutern, die er zusammen mit Berlin organisiert hat. Er holt Buchheims ganze Sammlung der Expressionisten nach Kiel. Buchheim kommt auch, allerdings ohne U-Boot. Dabei hätte das vor der Kunsthalle anlegen können, denn die Kunsthalle verfügt über den schönsten Blick auf die Kieler Förde. Jensen bekommt für eine Ausstellung große Teile der Sammlung Georg Schäfer mit der ganzen deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts (er wird von den Schäfers auch Bilder erwerben, wie den schönen ➱Johan Christian Clausen Dahl mit dem Hafen von Kopenhagen im Mondschein). Zu der Familie Schäfer hat Jensen die besten Beziehung, und er wird nach seiner Pensionierung als Kurator der Sammlung Schäfer nach Schweinfurt gehen. 

Der größte Erfolg beim Publikum wird die Ausstellung Die Idylle sein, die ich beinahe täglich besuche. In diesen Jahren gibt es mindestens in jedem Jahre eine große Ausstellung (von kleinen feinen Ausstellungen wie der zu Ekkehard Thieme 1977 ganz zu schweigen). Wenn die SPD nach dem Tode von Dr. Dr. Barschel an die Macht kommt, wird die ganze linke Schickeria plötzlich in der Kunsthalle sein. Der neue Ministerpräsident Björn Engholm wird Ausstellungen mit schönen Reden eröffnen, Barschel hätte das nicht gekonnt, flüstert mir ➱Kurt bei einer Ausstellungseröffnung zu. Kann sein, aber ich halte diesen Zustrom von Politikern für keinen Ausdruck einer wahren Begeisterung für die Kunsthalle, sondern eher für ein modisches Phänomen. Gut die bleierne Zeit ist vorüber. Hier hat es einen Ministerpräsidenten gegeben, der noch in Naziuniform Bürgermeister von Eckernförde war. Und der Geist der fünfziger und sechziger Jahre ist ja immer noch so, Alt-Nazis im öffentlichen Dienst en masse, Alt-Nazis als Professoren an der Uni. Und die ganze kriminelle Ära Barschel. Und jetzt kommt der JFK Verschnitt Engholm, und seine Pressesprecher schreiben schon mal das Gebäude der Landesregierung, die ehemalige Militärakademie der kaiserlichen Marine, zum neuen Camelot um. 

Es ist natürlich eine Günter Grass Ausstellung, die Engholm eröffnet. Günter Grass wird anwesend sein. Er trägt einen weißen Leinenanzug, wie Mark Twain. Ich photographiere ihn mit meiner alten Leica. Das ist photographischer Purismus, Schwarzweißphotos mit einer alten Leica zu machen. Die Photos werden gut, Björn Engholm wird sie an Günter Grass schicken. Meine Ex kennt ihn, er schickt ihr seine Romane mit Widmung. Ist doch gar nichts, sagt mein Freund Jimmy, Seine Frau war meine Freundin, bevor sie ihn heiratete. Die Welt ist klein. Ich mag ➱Grass als Schriftsteller nicht so sehr, obgleich ich viel von ihm gelesen habe. Das einzige, was ich von ihm wirklich überragend finde, ist sein Fontane Roman Ein weites Feld. Reich-Ranicki hin oder her.



Neben der Ausstellungstätigkeit vernachlässigt Jensen die Kunsthalle nicht, Kataloge der Neuerwerbungen werden zum ersten Mal regelmäßig erscheinen. Und der Kustos Johann Schlick wird 1973 einen Katalog der Gemälde vorlegen (der auf der Vorarbeit von Lilli Martius beruht), der erste seit dem kleinen Katalog von Richard Sedlmaier und Lilli Martius 1958. ➱Lilli Martius hat sich in ihrer Tätigkeit um die Kunsthalle verdienter gemacht als die meisten ihrer männlichen Kollegen im 20. Jahrhundert. Ihr Wirken wird auch glücklicherweise anerkannt: Ehrenbürgerin der Universität, Honorarprofessorin, eine Festschrift zum achtzigsten Geburtstag, der Kulturpreis der Stadt Kiel, der dänische Dannebrog Orden (den Jens Christian Jensen auch erhalten hat). Der Kunstverein wird eines Tages für ein Gemälde sammeln, das ein Geschenk zum 90. Geburtstag wird. Lilli Martius wird es natürlich umgehend der Kunsthalle überlassen. Immer wenn ich davorstehe, kann ich sagen, dass ich diese kleine Wolke da rechts oben von Knud Baades ➱Einfahrt ins Naerøtal (1837) finanziert habe [inzwischen haben ➱Lilli Martius und Knut Baade auch einen ➱Post bekommen]. 

Jens Christian Jensen ist am 6. April in Hamburg gestorben. Was hier als Nachruf steht, ist eine kleine Hommage, die ich vor Jahren in meine vorerst beiseite gelegten Memoiren mit dem Titel Bremensien hinein geschrieben hatte. Ich hatte ihm das Kapitel über die Kunsthallen und das Kapitel über ➱Wolfgang J. Müller (den er sehr schätzte) im letzten Jahr nach Hamburg geschickt. Er hat mir einen langen Brief geschrieben. Mit dieser kleinen Handschrift, die ich sofort wieder erkannte, einen Computer hat er nie besessen. Er hatte die beiden Kapitel mit nostalgischem Vergnügen gelesen, aber er meinte, dass dies alles zu viel des Lobes für ihn sei. Nein, es war eigentlich nicht genug.


Pablo Picasso


Heute vor vierzig Jahren ist ➱Pablo Picasso gestorben. Würden Sie glauben, dass dies ein Picasso ist? Als junger Mann hat er noch ganz anders gemalt, dieses Selbstportrait hatte er mit fünfzehn Jahren fertig, da hatte man ihn gerade in der Kunstakademie aufgenommen. Aber er wird die Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts schnell hinter sich lassen, und wird der werden, den wir alle zu kennen glauben. Das Multitalent Picasso hat übrigens auch Gedichte geschrieben. Man hat mir gesagt, du schreibst. Ich traue dir ja alles zu. Wenn man mir eines Tages sagte, du hättest eine Messe gelesen, würde ich auch das glauben, hat seine Mutter gesagt.

Die Gedichte entstehen - in Spanisch und Französisch - in den dreißiger Jahren, als er sich in einer malerischen Schaffenskrise befindet. Für die nächsten zwanzig Jahre wird er nebenbei schreiben. Au fond, je suis un poète qui a mal tourné, sagt er einmal seinem Freund Roberto Otero. Es wird lange dauern, bis man die Gedichte lesen kann. Erst 1989 bringt Gallimard sie unter dem Titel Picasso: écrits heraus. Eine informative Einführung zu einer Gedichtsammlung in deutscher Übersetzung kann man ➱hier lesen.

Dies hier ist Picassos Freund Guillaume Apollinaire, 1916 von Picasso gezeichnet. Apollinaire trägt den Kopf bandagiert, wegen der Schrapnellwunde, die er gerade im Krieg erhalten hat. Da hat man den Leutnant Apollinaire nach der Operation erst einmal nach Hause geschickt. Er hat aber weiterhin in Paris stolz seine Uniform und seinen Kopfverband getragen. Und er hat Les Mamelles de Tirésias geschrieben, ein Stück, das ich sogar kenne, weil die Gabi (also das ist die Gabi mit dem ➱Francis Bacon Film und dem halben Ohnmachtsanfall bei ➱Manolo Blahnik im Laden) es mit ihrer Theatertruppe gespielt hat. Und da sie Kunst studierte, hat sie ein tolles Plakat für die Aufführung entworfen, das jahrelang in meinem Büro in der Uni hing.

Ich würde ja heute als Gedicht des Tages gerne ein Gedicht von Apollinaire präsentieren, das der auf Picasso geschrieben hat. Es beginnt:

Voyez ce peintre il prend les choses avec leur ombre aussi et d'un coup d'œil sublimatoire 
Il se déchire en accords profonds et agréables à respirer tel l'orgue que j'aime entendre 
Des Arlequines jouent dans le rose et bleus d'un beau-ciel. 

Aber es ist unmöglich, dieses Gedicht hier typographisch zu präsentieren, weil es wie ein kubistisches Gemälde aussieht. Klicken Sie doch einmal diese ➱Seite an.