Mittwoch, 20. März 2013

Der wissenschaftliche Witz


Nein, es geht hierbei nicht - obgleich der Titel das vermuten lässt - über das peinlich zusammengestückelte Elaborat, mit dem eine Annette Schavan zum doctor philosophiae promoviert wurde. Diejenige, die vom Vorwurf der Täuschung bis ins Mark getroffen wurde. Hat sie endlich die inkriminierten Stellen im Internet gelesen? Aber es geht es ja nicht um meinen Doktortitel, sondern um meine Integrität, hat sie verlauten lassen. Integrität? Aus welcher Trickkiste zaubern die spin doctors, die ihr die Reden schreiben, nur diese hehren Worte? Doch man muss bedenken, es geht noch schlimmer: Gemessen an Schirrmachers Uminterpretationen von Quellen ist eine Annette Schavan geradezu ein Musterbeispiel an Seriosität, schreibt jemand im Blog des Merkur. Falls Sie sich nicht mehr daran erinnern sollten: dieser Herr Doktor Schirrmacher von der FAZ (der nach seinen Erzählungen als Kind nach Äthiopien entführt wurde) hat sich seinen Doktortitel auf eine sehr komische Weise ➱erschlichen. Doch die Menschen kaufen trotzdem seine Bücher, er kann schreiben was er will. Aber um diese Form des wissenschaftlichen Witzes - der ja eher ein schmutziger Witz ist - soll es nicht gehen. Auch nicht um zerstreute Professoren, die sich in ihrem Vorlesungsmanuskript notieren: an dieser Stelle pflege ich immer einen Witz zu machen. Und dann im Hörsaal vorlesen: an dieser Stelle pflege ich immer einen Witz zu machen. Ist witzig, ist aber peinlicherweise auch wirklich geschehen.

Als ich meine Doktorarbeit im Dekanat der Fakultät abgeben wollte, fragte mich mein Doktorvater, ob ich darin auch einen kleinen wissenschaftlichen Scherz eingebaut hatte. Ich war etwas verblüfft, aber er erklärte mir, dass es wissenschaftlicher Usus wäre, in akademischen Arbeiten so etwas unterzubringen. Ist in der Welt der Academia offensichtlich so etwas Ähnliches wie im Schimmelreiter - soll Euer Deich sich halten, so muß was Lebiges hinein. Als meine Arbeit ein halbes Jahr später als Buch erschien (und von der Zeit wohlwollend rezensiert wurde), sagte mein Professor tadelnd zu mir Sie haben aber keinen Scherz hineingeschrieben. Hatte ich doch, aber der war sehr sophisticated. Es war ein Scherz, den sich einer der von mir behandelten Autoren mit dem englischen Who's Who erlaubt hatte, als er der Redaktion einen völlig fingierten Lebenslauf untergejubelt hatte: Eldest son of a Governor-General of the Windward Islands. After an uneventful education at Eton and Worcester College, Oxford, where he read Philosophy, Politics and Economics and was President of the Union, he signed on as a deckhand on a Japanese whaler. Der Autor war niemals in Eton und Oxford, sein Vater war lediglich Chauffeur. In den letzten vierzig Jahren ist kein Rezensent über diesen kleinen injoke gestolpert.

Als Heinz Ludwig Arnold die dritte Auflage von Kindlers Literaturlexikon vorstellte, merkte er an, dass man natürlich auch in diesem Nachschlagewerk einige Autoren und Werke untergebracht habe, die nicht existierten. Und so sind die seriösesten Publikationen nicht vor dem Ulk gefeit. Ein Artikel wie: Stein|laus: (engl.) stone louse; syn. Petrophaga lorioti; kleinstes einheim. Nagetier aus der Fam. der Lapivora (…) Übertragung: durch Nahrungsaufnahme, Speichel (sog. stone louse kissing disease nach ICD-10), Einatmen von Steinstäuben; Sympt. bei St.-Befall: Euphorie* mit typ. Mimik (Kontraktion des Musculus* risorius u. Musculus* orbicularis oculi) (…) Klin. Bedeutung: (…) Lausotoxin-Injektion in Gesichtsmuskeln (begünstigt Entstehung von Lachfalten) (…) auf S. 1826 des angesehenen Medizinlexikons Pschyrembel (261. Aufl. Berlin 2007) wird Loriot Freunde sicherlich begeistern.

Die Herausgeber waren in einer Bierlaune, hat Martina Bach vom Verlag Walter de Gruyter dazu gesagt. Wahrscheinlich galt das auch für die Herausgeber von Pschyrembel Naturheilkunde und alternative Heilverfahren, die folgenden Artikel in Pschyrembel Naturheilkunde und alternative Heilverfahren unterbrachten: Kurschatten: umgangssprachlich Bez. für eine Person in einer zeitlich u. räumlich auf den Kuraufenthalt beschränkten Partnerschaft; als natürliches Mittel zur Förderung des Kurerfolges schulmedizinisch anerkannt, infolge der besonderen alternativmedizinischen Eigenheit jedoch ethischen u. familienpolitischen Bedenken ausgesetzt; wohl deswegen nicht regelmäßig Teil des Kurplans*. Gelegentliche Initiativen, dies zu ändern (…), scheiterten schon in den Ansätzen am Widerstand der Krankenkassenträger u. Kirchen.

Was Nachschlagewerken recht ist, ist Wikipedia billig. Auch hier gibt es Scherzbolde, die absoluten Unsinn in einem Artikel unterbringen. Der Satz Schaukal wird 1942 in Wien geköpft, wo er zuletzt mit seiner Familie in der Cobenzlgasse 42 im XIX. Wiener Gemeindebezirk wohnte stand im Artikel zu Richard Schaukal lange im Netz, bis der Quatsch am 14.10.2007 gelöscht wurde. Sehr witzig fand ich im Artikel über den Eid des amerikanischen Präsidenten: It is uncertain how many Presidents used a Bible or added the words "I Love Cheese" at the end of the oath, as neither is required by law; unlike many other federal oaths which do include the phrase "So help me God."  Und angeblich haben alle Präsidenten seit Franklin Delano Roosevelt das Wort Käse oder So Cheese Me God  im Text untergebracht. Es war der Morgen der Vereidigung von Barack Obama, ich wollte den Text der Vereidigung in einem Kurs behandelt und hatte deshalb den Wikipedia Artikel angeklickt. Saß für einige Minuten sprachlos vor dem Computer. Wenig später war der Text verschwunden, aber in der Geschichte der Änderungen ist die Seite natürlich aufbewahrt.

Der fingierte Lexikonartikel, auch lateinisch Nihilartikel genannt, ist kein Einzelfall. Er besitzt inzwischen auch schon einen Wikipedia Artikel. Bei dem wir mal hoffen wollen, dass er seriös ist. Aufwendiger als die Fälschung eines Lexikonartikels ist es, wenn man einen wissenschaftlichen Artikel in einer renommierten Fachzeitschrift plaziert, der garantiert nichts bedeutet. Was dem New Yorker Professor Alan David Sokal mit seinem Aufsatz ➱Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity gelungen ist. Das führte zu der sogenannten Sokal Affäre, in der die Wissenschaft ganz schön alt aussah. Sokals Artikel zeigte aber auch, wie leicht Wissenschaft zu parodieren ist.

Oder in den Worten des Handbuchs der KommunikationsguerillaEin gutes Fake verdankt seine Wirkung dem Zusammenwirken von Imitation, Erfindung, Verfremdung und Übertreibung herrschender Sprachformen. Es ahmt die Stimme der Macht möglichst perfekt nach, um für einen begrenzten Zeitraum unentdeckt in ihrem Namen und mit ihrer Autorität zu sprechen […]. Ziel ist, […] einen Kommunikationsprozeß auszulösen, bei dem – oft gerade durch die (beabsichtigte) Aufdeckung der Fälschung – die Struktur der gefaketen Kommunikationssituation selbst zum Thema wird. Das Handbuch der Kommunikationsguerilla gibt es tatsächlich, seinen Autor Luther Blisset (Bild oben) wird man wohl vergeblich suchen.

Manche Buchtitel wird man vergebens suchen. Wenn Ihnen jemand ➱Band II von Heideggers Sein und Zeit anbietet, sollten Sie vorsichtig sein. Auch der zweite Band von Wollschlägers Herzgewächse ist nicht erschienen. Hinter diesen Titeln stehen Schicksale, aber es gibt auch Titel, die aus Daffke eine Titelaufnahme einer Bibliothek bekommen haben. Niemand hat je überprüft, ob es zu diesem Buchtitel auch wirklich ein Buch gibt. Das liebste Buch von solchen Titeln ist mir Das goldene Abenteuer: welches Entzücken es uns bereitete, gemeinsam Neues zu lernen von Astrid Nielsen und Heike Urquhart-Tempel (9. Aufl. Kiel. EmDeVau-Verl. 1998. VII, 1.621 S.. BWZ-MAUS. ISBN 3-1606-170-1). Steht so im KVK, aber leider wird niemand die 1.621 Seiten lesen können. Ebenso wenig wie die Werke von Herbert Quain. Falls Sie allerdings glauben sollten, dass der Titel Vampyrologie für Bibliothekare von Eric W. Steinhauer nicht existent wäre, den gibt es wirklich.

Ich habe in einem Donald Duck Forum die Frage gelesen: Geschätzte Donaldistinnen und Donaldisten Verfügt jemand über den Beitrag «Entenhausen – das neue Jerusalem», der seinerzeit wohl im «Der Donaldist» erschienen, aber zurzeit nicht abrufbar ist, und könnte mir diesen gegen Bekanntgabe meiner neuen E-Mail-Adresse in elektronischer Form bitte zustellen? Oder weiss jemand, wie das Archiv erreichbar ist? Oder kann mir den Text jemand kopieren, bitte? Oder kennt jemand einen heimlichen Link ins Archiv? Danke vielmals für sachdienliche Mitteilungen.

Ich kann an dieser Stelle versichern, dass Entenhausen – das neue Jerusalem tatsächlich existiert. Weil ich einer der Autoren bin. Eigentlich war es eine Art Bierzeitung, eine Wissenschaftssatire auf das Institut, an dem wir damals studierten. Aber dann fand Hans von Storch (kein Witz, der heißt wirklich so) das so witzig, dass er den Text als Sonderheft No. 1 von Der Hamburger Donaldist hat erscheinen lassen. Ich habe hier sogar eine Abbildung des Titelblatts, im Gegensatz zu dem Photo von Luther Blisset ist die garantiert echt. Und das Ganze war auch höchst wissenschaftlich. So wurde zum Beispiel streng philologisch der Nachweis geführt, dass Onkel Dagobert der Teufel war. Weil, das wissen wir alle, der Name Dagobert aus dem Altenglischen kommt. Wo daeg Tag heißt und beran tragen bedeutet, Dagobert ist also ein Lichtbringer. Auf Lateinisch Lucifer. Quod erat demonstrandum. Mit solchen Witzen wollten wir gegen den am Institut grassierenden Unsinn protestieren, alle Namen in literarischen Werken mit einer weit hergeholten Symbolik zu befrachten.

So lange ein solcher Titel wie Das goldene Abenteuer nur als Karteileiche in einem Katalog existiert, kann er nichts Schlimmes anrichten. Schlimm wird es allerdings, wenn sich jemand auf Grund von nicht vorhandenen Publikationen (die angeblich bei einem Schiffsunglück vor Neuseeland alle verloren gegangen waren) eine Professur erschleicht. Gibt es nicht, werden Sie sagen. Gibt es doch. Glücklicherweise gibt es das Spiegel Archiv, das diese wunderbare ➱Geschichte aufbewahrt hat, wie ein Felix Krull der Wissenschaft mit einem kleinen Heftchen mit dem Titel Englisch für Eisenbahner in Deutschland ordentlicher (?) Professor werden konnte. Das mit den nicht existierenden Büchern ist ja ganz nett, solange Borges, Stanislaw Lem (Die vollkommene Leere) oder Susanna Clark (Jonathan Strange & Mr Norrell) das betreiben, aber neuerdings scheint es auch zu einem wissenschaftlichen ➱Trend zu werden. Frei nach dem Motto: Plagiate sind out, wir zitieren jetzt nicht existierende Bücher. Ein Buchtitel wie Das Google-Copy-Paste-Syndrom ist von keinem Satiriker erfunden worden, auch dieses Buch gibt es. Es stammt von einem Dr. Stefan Weber, der einen Blog mit dem Namen Blog für wissenschaftliche Redlichkeit betreibt. Irgendwie kommt mir das jetzt vor wie Realsatire.

Mein kleiner Scherz in meiner Arbeit mit dem falschen Lebenslauf im Who's Who hat neuerdings den Namen U-Boot. So belehrt uns der Wikipedia Artikel Betrug und Fälschung in der WissenschaftAls U-Boot wird eine absichtlich falsche, frei erfundene Fußnote in wissenschaftlichen Arbeiten bezeichnet. Sie dient dazu, die Aufmerksamkeit des Prüfers zu testen. Unbemerkte U-Boote gelten als Beleg der Fähigkeit, Unsinn so gut wissenschaftlich darzustellen, dass es dem Fachmann nicht auffällt. Das Wort scheint nicht mehr in diesem engen Sinn gebraucht zu werden, inzwischen werden auch fingierte Lexikonartikel U-Boot Artikel genannt. Wenn man seit dem Skandal um Herrn von und zu Guttenberg diese Seiten im Internet liest, die sich mit Plagiaten beschäftigen, lernt man ständig neue Wörter hinzu. Wie eben das U-Boot. Oder das Bauernopfer. Das ist eine Fußnote zu einem unbedeutenden Teil eines Originaltexts, größere Abschnitte aus demselben ohne Zitatnachweis übernommen. Die Dissertation von Frau Schavan ist voller Bauernopfer, vielleicht wäre sie als Landwirtschaftsministerin besser aufgehoben gewesen.

Montag, 18. März 2013

Omnibus


1662: Blaise Pascal gründet in Paris ein Pferdedroschkenunternehmen und markiert damit den Beginn des Personennahverkehrs in Frankreich.
1850: Henry Wells und William Fargo gründen den Eilzustelldienst American Express.
1895: Die erste Buslinie der Welt mit einem benzinbetriebenen Omnibus, eingesetzt durch die Netphener Omnibusgesellschaft, gebaut von Carl Benz, nimmt zwischen Deuz und Siegen ihren Betrieb auf.

Wir können dem Kalendertext entnehmen, dass Philosophen doch für etwas gut sind, erfinden den Omnibus. Aber irgendwie ist das mit diesen drei Ereignissen in der Geschichte der Personenbeförderung auch etwas unheimlich. Alle drei am 18. März. Haben sich die Herren Wells und Fargo und die Netphener Omnibusgesellschaft gesagt, sie wollen den Jahrestag des Beginns des Pariser Omnibusverkehrs begehen? Natürlich gab es in Paris schon Pferdedroschken, bevor es den Omnibus im Frühjahr 1662  gab. Man konnte sie für eine Stunde oder für einen Tag mieten, ihr Hauptstandort soll in der Rue Saint-Fiacre gewesen sein. Der Heilige Fiacrius ist natürlich auch der Namensgeber für den Fiaker, ein Beförderungsmittel, das sich als Wort nur noch im Österreichischen hält.

Der Pariser Busverkehr, der seine Existenz einem Dekret von Louis XIV verdankt, bestand in seinen besten Zeiten aus sieben Kutschen (die acht Personen befördern konnten), die zu festen Zeiten von einer Haltestelle abfuhren. Gleichgültig, ob alle Plätze besetzt waren oder nicht. Es gibt einen Fixpreis für die Kutschen, die deshalb carosses à cinq sous heißen werden. Aber geben wir doch dem Sonnenkönig, der die Omnibuslinie eines Tages selbst benutzen wird, doch selbst das Wort:

LOUIS, PAR LA GRACE DE DIEU, Roy de France & de Navarre, A tous presens & à venir, SALUT. Nostre cher & bien amé le Sieur de Givry, l'un de nos Escuyers ordinaires, Nous ayant trés-humblement supplié de luy vouloir accorder la permission d'établir dans les Carrefours & lieux publics & commodes de nostre bonne Ville de Paris, pour la commodité publique, tel nombre de Carrosses, Calesches & Chariots attelez de deux Chevaux chacun, qu'il jugera à propos, pour estre exposez depuis les sept heures du matin jusqu'à sept heures du soir, dans lesdits Carrefours & lieux publics & commodes, & estre loüez à ceux qui en auront besoin, soit par heure, demy-heure, journée, demy-journée ou autrement, à la volonté de ceux qui s'en voudront servir pour estre menez d'un lieu à l'autre, où leurs affaires les appelleront, tant dans nostredite Ville & Fauxbourgs de Paris, qu'à quatre & cinq lieuës des environs d'icelle, soit pour les promenades des particuliers, ou pour aller à leurs maisons de la campagne: Nous aurions par nostre Brevet du dernier jour d' Avril de la presente année, accordé ladite permission audit Sieur de Givry, lequel nous a requis de luy en faire expedier nos Lettres sur ce necessaires. /.../ Faisant à cette fin, trés-expresses inhibitions & deffenses à toutes personnes, de quelque qualité & condition qu'elles soient, de faire ny souffrir estre fait aucun établissement des Carrosses, Calesches & Chariots de loüage, dans nostredite Ville & Fauxbourgs de Paris, que ceux qui se trouveront estre vallablement par Nous autorisez, sans avoir la permission dudit Sieur de Givry, & de sesdits successeurs& ayans cause, à peine contre les contrevenans de trois mil livres d'amande & confiscation des établissemens qu'ils pourroient faire.

Keine Erwähnung von Blaise Pascal als Erfinder des Busverkehrs, aber die Sache stimmt schon, dass er die Idee zu dem Ganzen hatte und auch Anteile an dem Unternehmen hielt. Weil er als Philosoph ja wusste: Zu unserer Natur gehört die Bewegung, die vollkommene Ruhe ist der Tod. Er hatte nicht so viel von seiner Idee, als der Omnibusverkehr ins Rollen kam, war er schon tot. Ich weiß auch nicht, ob er das Theaterstück L'Intrigue des carosses à cinq sous, im Théâtre Royal du Marais noch gesehen hat. Ich weiß jetzt auch nicht, ob man für dieses Stück schon Kutschen auf der Bühne hatte. Aber falls es Sie interessiert kann ich Ihnen sagen, dass das erste Automobil im Jahre 1903 in ➱Shaws Theaterstück Man and Superman auf der Bühne stand. Wir wissen nicht genau, wie die Kutschen des öffentlichen Nahverkehrs, die ihre Endstationen an der Porte St. Antoine und dem Palais de Luxembourg hatten, überhaupt aussahen. So wie die ➱Stagecoach von Well Fargo bestimmt nicht. Manche Quellen sprechen davon, dass sie wie die Kutschen auf den Bildern von Adam Frans van der Meulen ausgesehen haben, deshalb habe ich hier ein Bild von ihm.

Von der Inbetriebnahme des öffentlichen Nahverkehrs in Paris haben wir unterschiedliche Zeugnisse. Pascals Schwester Françoise Gilberte versichert in einem Brief, dass ganz Paris begeistert war. Allerdings kann man in Henri Sauvals Histoire et recherches des antiquités de la ville de Paris (1724) lesen, dass es Buhrufe gab und Steine geschmissen wurden. Die carosses à cinq sous waren beim Publikum kein Renner. Trotz des moderaten Fahrpreises wurden sie von den breiteren Bevölkerungsschichten nicht angenommen, sie waren eher ein Spielzeug für den Pariser Adel. Das ganze ➱Unternehmen schlief nach kurzer Zeit ein. Schon Pascal konnte kurz vor seinem Tod sehen, dass viele Kutschen leer fuhren. Es wird Jahrhunderte dauern, bis es in Paris wieder einen Busverkehr gibt. Natürlich kann man auch mit der Métro fahren, aber dann sieht man nichts von der Stadt.

Wenn Sie ganz schnell durch Paris wollen, dann schauen Sie sich diesen kleinen Film von Claude Lelouch ➱hier an. Ja, ich weiß, dass ich den schon in den Posts ➱Ma nuit chez Maud und ➱Jean Louis Trintignant erwähnt habe. Aber ich sehe ihn immer wieder gerne, weil er mich an diese Nacht in Paris im Jahre ➱1959 erinnert.

Samstag, 16. März 2013

Capri-Fischer


Warum sollte jemand Bomben auf Monte Carlo werfen? fragte ich mich. Ich konnte niemanden im Haus fragen, weil ich damit verraten hätte, dass ich auf dem Dachboden spielte. Auf dem Boden zu  spielen war verboten. Alles was verboten ist macht Spaß, wenn man noch Kind ist. Ich war sechs Jahre alt und hatte auf dem Boden Opas altes ➱Grammophon und einen Stapel Schellackplatten gefunden, eine hieß Bomben auf Monte Carlo. Eigentlich hieß sie ➱Das ist die Liebe der Matrosen, aber dieses Bomben auf Monte Carlo stand auch auf der Platte. Ich habe den Text natürlich auswendig gelernt:

Das ist die Liebe der Matrosen! 
Auf die Dauer, lieber Schatz, 
ist mein Herz kein Ankerplatz. 
Es blühn an allen Küsten Rosen, 
und für jede gibt es tausendfach Ersatz.
Gibt es Ersatz. 
Man kann so süß im Hafen schlafen, 
doch heißt es bald auf Wiedersehn! 
Das ist die Liebe der Matrosen, 
von dem kleinsten und gemeinsten Mann 
bis rauf zum Kapitän.

Viele der Platten (diese auch) waren ➱Hans Albers Platten. Ich habe alle Texte auswendig gelernt, was mir für den Rest des Lebens ein schönes Hans Albers Repertoire verschafft hat. Heute weiß ich, dass Bomben auf Monte Carlo ein Film mit Hans Albers und Heinz Rühmann ist. Ich habe sogar den gleichnamigen Roman von Friedrich Reck-Malleczewen im letzten Jahr im Antiquariat gefunden. Kann man durchaus mal lesen.

Neben den Hans Albers Platten gab es auch eine Platte von Rudi Schuricke, die Capri-Fischer hieß (➱Heimat, deine Sterne war natürlich auch da):

Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt,
Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt,
Ziehn die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus,
Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus.
Nur die Sterne sie zeigen ihnen am Firmament
Ihrem Weg mit den Bildern, die jeder Fischer kennt.
Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt,
Hör von fern wie es singt:
Bella, bella, bella Marie,
Bleib mir treu, ich komm zurück morgen Früh,
Bella, bella, bella Marie,
Vergiß mich nie.


Ich weiß, das ist grauenhafter Kitsch, aber ich liebte dieses Lied. In den fünfziger Jahren sang es halb Deutschland. Das war die Zeit, als Deutschlands zweite Italiensehnsucht ausbrach, also diejenige nach der Auch ich war in ArkadienWelle. Jetzt machten überall die ersten italienischen Eisdielen auf (an Pizza dachte noch niemand), und es zog halb Deutschland gen Italien. Jetzt konnte man Autos verkaufen, nur weil sie ➱Isabella oder Arabella hießen. Und überall hörte man Rudi Schurickes Capri-Fischer aus dem Radio. Konnte ich mitsingen. Tat ich auch mal. Woher kennt der Junge Rudi Schuricke? Die Platte haben wir doch gar nicht, fragte mein Vater. Haben wir doch, sagte ich. Da war's geschehen, ich hatte mein Geheimnis mit den Platten auf dem Boden verraten. Meine ➱Insel aus Träumen geboren war dahin, von nun an durfte (musste) ich den Plattenspieler in der Musiktruhe im Wohnzimmer benutzen. Das war nur der halbe Spaß. War ja nicht mehr verboten.

Rudi Schuricke, der Tenor, den jeder mit den Capri-Fischern assoziiert, wurde heute vor hundert Jahren geboren.

Freitag, 15. März 2013

Karl-Otto Apel


Der deutsche Philosoph Karl-Otto Apel wird heute 91 Jahre alt. Mir ist es, als wäre es gestern gewesen, dass ich eine Vorlesung bei ihm gehört habe. Doch das ist nun auch schon über vierzig Jahre her, aber ich habe diese Vorlesung nicht vergessen. Apel kam damals nach dem Ende jeder Vorlesung kaum aus dem Hörsaal hinaus, weil er von Trauben von Studenten umlagert wurde. Die alle mit ihm diskutieren wollten. Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, wenn ich Karl-Otto Apel früher für mich entdeckt hätte, statt den langweiligen Bröcker zu hören. Mit ➱Walter Bröcker oder Hermann Schmitz wollte niemand nach der Vorlesung diskutieren. Mit dem gemeinsamen Gespräch hatte die Philosophie ja einmal angefangen. Aber als ich das Fach damals studierte, gab es den platonischen Dialog längst nicht mehr. Auf jeden Fall nicht an den Universitäten, an denen ich studierte. Woanders soll das anders gewesen sein (ich bin ja glücklich, dass ich Carl Friedrich von Weizsäcker in Hamburg gehört habe). Später wird einem immer klar, dass man zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist. Aber auch das ist das Leben, ob man Philosophie studiert hat oder nicht.

Die Vorlesung Ethik der Wissenschaft war leider die einzige Vorlesung, die ich bei Apel gehört habe, im nächsten Semester war er schon verschwunden. War nach Saarbrücken gegangen, dann nach Frankfurt. Und nahm nebenbei Gastprofessuren in der ganzen Welt wahr. Als er Kiel hinter sich gelassen hatte, begann seine wirkliche Karriere. Die nie so spektakulär war wie die von ➱Paul Feyerabend. Oder die von Peter Sloterdijk. Apel war nicht alle fünf Minuten im Fernsehen oder im Feuilleton wie Richard David Precht. Er verkaufte keine griffigen Formeln. Obgleich seine Philosophie einen Namen hatte: Transzendentalpragmatik. Was ein Blogger als The best of Kant, Peirce and Wittgenstein-Mix bezeichnete. Blogger sind ja manchmal sehr witzig. Heute ist Apel im Internet mit einer Homepage präsent, und es gibt zwei Dinge im Internet, die es sich anzuschauen lohnt. Das eine ist eine Sendung des WDR von Henning Burk und Matthias Kettner mit dem Titel ➱Der Letztbegründer aus dem Jahre 1992. Das andere ist ein fünfteiliges Interview aus dem Jahre 2004, das ➱Nicole Holzenthal mit dem Philosophen führte.

In Apels Vorlesung wurden auch Namen genannt, die damals in den philosophischen Instituten noch Seltenheitswert hatten. Wie zum Beispiel Charles Sanders Peirce (den Apel auch bei Suhrkamp herausgegeben hat) und John Dewey, die großen Namen des amerikanischen Pragmatismus. Walter Bröcker wäre es nicht in den Sinn gekommen, ➱amerikanische Philosophen zu erwähnen. Es ist sowieso erstaunlich, wie gering der  Einfluss der amerikanischen Geisteswissenschaften (die Anglistik/Amerikanistik mal ausgenommen) auf Deutschland noch in den sechziger Jahren war. Offensichtlich hatte die amerikanische re-education nach dem Krieg bei der Generation meiner Professoren nichts bewegt. Ich konnte mit den Namen Peirce und Dewey schon damals etwas verbinden, weil die sechzehn Hefte der Zeitschrift ➱Perspektiven für mich zu einer kulturellen Bibel geworden waren. Und dort fanden sich natürlich auf Aufsätze zum Pragmatismus (in Heft 1 und Heft 12). Apels Studienfreund Otto Pöggeler hat in einem Interview einmal gesagt: Karl-Otto Apel hatte begonnen, die amerikanischen Pragmatisten hier in Deutschland zu rezipieren. Ich hatte versucht, Apel Heidegger zu vermitteln, indem ich letzterem die Aufsätze von Apel zusandte. Sein Urteil lautete: 'Dieses neue Chinesisch kann ich mir nicht mehr antun'. Ja, da bleiben wir doch lieber bei dem in Meßkirch geraunten Chinesisch von ➱Heidegger.

In der Philosophischen Fakultät meiner Universität war damals der Kunsthistoriker ➱Wolfgang J. Müller (der auch einmal in Amerika gewesen war) der einzige den ich kannte, der ständig englische Fachpublikationen las und in seinen Lehrveranstaltungen zitierte. Während die Studenten der sechziger Jahre sich schon wohlig in der Popular Culture Amerika zu Hause fühlten, war für viele Professoren Amerika noch genau so weit weg wie zur Zeit von Immanuel Kant. Doch für Apel (der nach dem Krieg in amerikanischer Gefangenschaft war) war Amerika keine terra incognita, sonst hätte die Yale University ihn im März 1977 wohl nicht zu den Ernst Cassirer Lectures eingeladen. Hermann Schmitz (über den ich ➱hier schon einiges gesagt habe - was offensichtlich tausende von Lesern amüsiert hat) wurde da nie eingeladen. Sein Griechisch, mit dem er in seinen Vorlesungen seine Hörer stundenlang traktierte, war sicher ganz toll, sein Englisch war erbärmlich.

Wir wissen, dass Immanuel Kant nicht in Amerika gewesen ist, vielleicht liegt darin alles Unheil begründet. Er hat zwar einmal eine Schiffsreise nach New York unternommen, aber da ging alles schief. Kant, der von der Columbia University einen Ehrendoktortitel bekommen soll, hat seinen Papagei Friedrich dabei. Ein ebenbürtiger Gesprächspartner, der alle Schriften des Philosophen  aufsagen kann:

Ich habe mir diese Amerikareise mit Friedrich  
sehr lange und sehr gründlich überlegt 
Tatsächlich es ist  
kein Risiko  
Friedrich allein  
in die Universitäten der Welt 
zu schicken
Er könnte alles 
was ich jemals gedacht habe  
auf das vorzüglichste referieren

Die Interpreten des herrlich absurden Theaterstücks Immanuel Kant von Thomas Bernhard sehen in der Namensnennung der Columbia University eine Beziehung zum amerikanischen Pragmatismus, schließlich hat John Dewey an der Columbia gelehrt. Da wären wir wieder beim Thema. Die Sache mit dem Papagei, der alle Schriften des Philosophen aufsagen kann, müssen wir noch einmal durchdenken. Das ist ausbaufähig. Obgleich es schon eine Vielzahl von Papageien gibt, die allen Modephilosophen nachplappern.                  

So berühmt Apel in ➱Fachkreisen wurde, so unbekannt blieb er in der breiten Öffentlichkeit. Obgleich er niemand war, der sich in seinem Büro versteckte, der auch Tagungen mit Unternehmern veranstaltet hat, um mit ihnen über Moral zu reden. Es ist ein Dilemma der deutschen Ordinarien für Philosophie, dass sich viele nicht aus ihrem Institut heraus trauen. Ludger Lütkehaus (dem wir das Buch mit dem Titel Nichts verdanken) hat die Lage in seinem polemischen Artikel in der ➱Zeit mit dem schönen Titel Fachgiganten und Lebenszwerge: Vom fehlenden Nutzen der Universitätsphilosophie für das Leben. Ein Pamphlet dargelegt. Aber mit der Universität hat Karl-Otto Apel heute nichts mehr zu tun. Ein wenig verbittert vermerkt er in einem 2011 bei Suhrkamp erschienenen ➱Buch: Nachdem mir meine Universität bald nach der Emeritierung, entgegen älteren Versprechen, die Forschung der Emeriti zu unterstützen, die Schreibhilfe einer Sekretärin entzogen hatte, blieb mir nur die ad hoc gewährte Hilfe meiner Töchter Dorothea und Barbara sowie von Frau Maja Schepelmann (Universität Aachen, Philosophisches Institut). Vor allem habe ich meiner Frau Judith für alles übrige zu danken. Ich habe das mit Amüsement gelesen. So sind sie eben, die Universitäten. Als Erwin Chargaff emeritiert wurde, hat seine Uni eine Woche später an den Türen seiner Labore die Schlösser ausgewechselt.

Wenn Sie bisher durchs Leben gekommen sind, ohne Karl-Otto Apel zu kennen: O.K., das geht. Wahrscheinlich haben Sie einen dicken Band Montaigne oder Schopenhauer auf dem Nachttisch. Oder hatten niemals Zweifel an Kant. Wenn Sie Apel kennenlernen und den kühnen, mitreißenden Gedankenzügen dieses erstaunliche Zusammenhänge konstruierenden Kopfes folgen (so Jürgen Habermas) wollen, kann ich den relativ schmalen Band Karl-Otto Apel zur Einführung von Walter Reese-Schäfer empfehlen. Der sich leider beim Junius Verlag trotz des Nachwortes von seinem Studienfreund Habermas schlecht verkauft hat. Vielleicht ändert sich das ja noch einmal. Ich gratuliere erst einmal Karl-Otto Apel ganz herzlich zum Geburtstag.


Donnerstag, 14. März 2013

Michael Caine


Michael Caine wird heute achtzig, es ist kaum zu glauben. Vor sechzig Jahren war er im Koreakrieg. I specialized in cowardice and won several medals, hat er einmal gesagt, er hat nicht viel über den Krieg geredet. Die ihn wirklich erlebt haben, tun das nie. ➱Raymond Chandler hat nicht über seinen Krieg geredet, das Großmaul Hemingway, der nie bei der kämpfenden Truppe war, umso mehr. Michael Caine hat sich auch nicht als Soldat vermarktet, mit Ausnahme von ➱Richard Todd haben das wenige Schauspieler getan. Harry Andrews, Dirk Bogarde, Alec Guinness, Christopher Lee und David Niven haben höchstens in ihren Memoiren etwas über den Krieg gesagt. David Niven am witzigsten, aber der war auch einmal Berufssoldat, da nimmt man den Krieg offensichtlich nicht mehr ernst.

Vor wenigen Jahren hat Michael Caine sich doch zum Koreakrieg geäußert: Whenever I killed someone there was no guilt, no remorse - it didn't feel real. It was during the Korean War and I was just trying to stay alive. It was self-defense. It was always done at night and we never had any idea who we had killed. I didn't even think about it - we had machine guns and we just did it. I never did anything close up or hand-to-hand. It didn't give me nightmares, because the Army brutalizes you. It was like the World War I trenches - half a mile apart - and we were just firing backwards and forwards, so we never knew who any of our victims were as individuals. You never saw the whites of a man's eyes when you killed him.

Das hat er gesagt, als er seinen Film Harry Brown vorstellte. Der angeblich sein letzter Film sein sollte, aber das hatte eh niemand geglaubt, dass er aufhören würde. Als Michael Caine am Ende seiner Dienstzeit aus der Armee entlassen wurde, sang er mit seinen Kumpels zu der Melodie vom River Kwai March:

Hitler has only got one ball,
Göring has two but very small,
Himmler is somewhat sim'lar,
But poor Goebbels has no balls at all.

Er erzählt das in seiner Autobiographie What's it all About?, ein Buch, das (ebenso wie David Nivens The Moon’s a Balloon) die Lektüre lohnt. Bei seiner zweiten Autobiographie, The Elephant to Hollywood (2010), bin ich nicht so enthusiastisch. Es ist wahrscheinlich eine Ironie des Schicksals, dass Maurice Micklewhite, der sich jetzt Michael Caine nennt, in seinem ersten Film wieder nach Korea zurückversetzt wird. Nicht in das wirkliche Korea, der Film A Hill in Korea wurde in Portugal gedreht. Soldaten wird er für Jahre im Film spielen, nicht nur einfache Soldaten, die Cockney sprechen. In dem Film Zulu spielte er einen upper class Offizier, der das Empire in dem Gefecht von Rorke's Drift zu retten versucht. Der Film zeigt, dass die thin red line wird für England immer dünner wird. Wenn ➱Kipling in seinem Gedicht Recessional von our far-flung battle-line und far-called, our navies melt away spricht, dann kann man das 1879 in England schon merken. Im englischen Kino natürlich nicht. In der Wunderwelt des Cinema of Empire (so der Titel eines Kapitels in Jeffrey Richards Buch Visions of Yesterday) kann ein Londoner Cockney zu einem aristokratischen Helden werden. Ich wusste damals nicht so recht, was der Film sollte und wollte (ich weiß es immer noch nicht), ich hatte ihn mir nur angeschaut, weil mir der Observer sagte, dass John Prebble (der Verfasser der ➱Fire and Sword Trilogy) das Drehbuch geschrieben hatte.

Und natürlich, weil ich gerade Michael Caine in The Ipcress File gesehen hatte. Wo er einen Geheimagenten spielte, der ein wenig verschieden von Sean Connerys ➱James Bond war. Aber ebenso wie Sean Connery einen Einfluss auf die ➱Mode hatte. Im Film hatte er den Namen Harry Palmer, in Len Deightons Romanen blieb der Ich-Erzähler namenlos. Über die Len Deighton Verfilmungen könnte ich jetzt tagelang schreiben, aber ich lasse das mal. Lesen Sie doch bitte ➱diesen Post, dann wissen Sie mehr. Aber wichtiger für Michael Caine war ein Film, den er gleichzeitig mit Funeral in Berlin drehte, nämlich die wunderbar bösartige Komödie ➱Alfie.

Die hat in Deutschland niemanden interessiert, weil man ihn hierzulande so schön als Geheimagenten oder Offizier verkaufen konnte: Ein dreckiger Haufen, Luftschlacht um England, Der Adler ist gelandet, ➱Die Brücke von Arnheim. Selten war ein Schauspieler so unterfordert. Die Geheimagentenkarriere war auch mit dem Flop Die schwarze Windmühle zu ihrem Ende gekommen. Das habe ich wohl schon gesagt, als ich über ➱Don Siegel schrieb. Denn ewig funktioniert die Zauberformel des Spionageromans auch nicht (obgleich ich den billig gestrickten Film Das Vierte Protokoll nach dem Roman von Frederick Forsyth eigentlich mag). Die Welt von Rudyard Kipling und des Militärs holte Michael Caine noch einmal ein, als er zusammen mit Sean Connery unter der Regie von John Huston in The Man Who Would Be King spielte. Da sind dann die beiden englischen Geheimagenten der sechziger Jahre in den roten Röcken ihrer Majestät zu sehen. Das ist wie in Kiplings ➱Mandalay, wo es Come you back, you British soldier heißt.

I am often asked which of my films has come closest to my own ideal of performance and I always answer, 'Educating Rita'. To me, 'Educating Rita' is the most perfect performance I could give of a character who was as far away from me as you could possibly get and of all the films I have ever been in, I think it may be the one I am most proud of. In diesem Film kann er endlich sein komödiantisches Talent unter Beweis stellen, ich finde er ist in Filmen wie ➱Hannah and her Sisters und Noises off besser aufgehoben, als wenn er den tough guy spielen muss.

Diese tough guys hat er natürlich drauf, das hatte er 1971 mit Get Carter bewiesen. Ich nehme mal an, dass mein Post ➱Britt Ekland seinetwegen beinahe zehntausend Mal gelesen wurde. Michael Caine war einer der wenigen englischen Schauspieler, die schnell den Weg nach Hollywood gefunden haben. Obgleich man sich vielleicht wünschte, dass er mehr Filme mit Woody Allen oder solche Filme wie ➱The Romantic Englishwoman mit Joseph Losey gedreht hätte. Und weniger von solch schrottigen Filmen wie Der weiße Hai: Die Abrechnung. Über den er sagte: I have never seen the film, but by all accounts it was terrible. However I have seen the house that it built, and it is terrific.

Aber er mochte Hollywood, es ist sein zweiter Wohnsitz geworden. Und er hat, wie er gerne gesagt hat, auch John Wayne viel verdankt: I remember when I first went to America, right after I made 'Alfie'. I met John Wayne in the lobby of the Beverly Hills Hotel. He’d just got out of a helicopter, he was dressed as Hondo and he came over and introduced himself to me. I said: “I do know who you are, Mr. Wayne.” He said, “You just come over?” “Yeah.” He said, “Let me give you a piece of advice: talk low, talk slow, and don’t say much.”

Er verdankt John Wayne noch einen zweiten wichtigen Ratschlag: Never wear suede shoes, because one day, Michael, you’ll be taking a piss, and the guy next to you will recognize you, and he’ll turn toward you and say, ‘Michael Caine!’ and piss all over your shoes. Ich hätte diese schöne kleine Anekdote schon erzählen können, als ich den Post ➱Wildlederschuhe schrieb, aber ich habe es damals gelassen. Wenn Sie hören wollen, wie Michael Caine diese Geschichte selbst erzählt, dann klicken Sie hier. Wildlederschuhe bringen mich zum Thema Herrenmode. Dies hier ist Michael Caine mit seinem Kumpel Doug Hayward, dem er auch viel verdankt. Im ➱Swinging London ist der der angesagteste Schneider Londons. Er kommt zwar wie Michael Caine aus der working class (und war immer stolz auf seine Cockney Wurzeln), aber die große Welt der Sixties lässt sich bei ihm die Anzüge machen.

Vor allem seine Freunde aus den ersten Tagen wie Michael Caine und Terence Stamp (die sich Anfang der sechziger Jahre noch ein Zimmer teilten, als sie noch nicht berühmt waren), aber auch Berühmtheiten wie Sir John Gieldgud und Rex Harrison. Für Terence Stamp entwirft er die Sachen für den etwas schrillen Film Modesty Blaise - ob ➱Dirk Bogarde sich seine abgefahrenen ➱Klamotten, die er in dem Film trägt, von seinem Schneider ➱Huntsman hat machen lassen, ist nicht bekannt. Aber wenn ➱Steve McQueen einmal in seinem Leben vernünftige Klamotten trägt (natürlich in The Thomas Crown Affair), dann können wir sicher sein, dass die ➱Anzüge von Douglas Hayward geschneidert wurden. Ich weiß nicht, ob sich Faye Dunaway bei der Gelegenheit auch ihre Klamotten von Doug Hayward hat schneidern lassen, aber sie ist (wie ➱Jean Shrimpton und Bianca Jagger) Kundin bei Hayward gewesen.

Angeblich soll er für seinen Freund Michael Caine auch das Vorbild für Alfie gewesen sein. Auf jeden Fall war er für seinen Kunden John Le Carré die Inspiration für Harry Pendel in The Tailor of Panama. Er ist Michael Caine ein lebenslanger Freund gewesen, abgesehen davon, dass er dafür gesorgt hat, dass Michael Caine immer gut angezogen war. Bei der Trauerfeier zum Tod von Hayward hat Sir Michael Caine eine Rede gehalten, wie auch Sir Roger Moore und Sir Michael Parkinson. Darauf spielte die Mail an, als sie ein Jahr später (Douglas Haywards Geschäft war gerade gerettet worden) ➱titelte: Suits you, sirs! Natty knights welcome deal to save legendary tailor from the final cut. Solche sprachspielerische Schlagzeilen bekommen nur die Engländer hin.

Die Gedenkgottesdienste für seine Freunde werden häufiger, das Bild zeigt Michael Caine im letzten Jahr nach der Gedenkfeier für Vidal Sassoon in der St Paul's Cathedral. Am Ende von What's it all All About? schrieb er: There are things that I have done in my life that I should regret. I don't - because I started with the firm conviction that when I came to the end, I wanted to be regretting the things that I had done, not the things that I hadn't. When I was young I took only half of the saying: 'Don't get mad, get even' on board, and I just got mad. Now.at last, I am even. Ich hoffe, er ist auch zwanzig Jahre später noch mit sich selbst im Reinen.


Ich habe Michael Caine ➱hier schon einmal vor zwei Jahren einen Geburtstagsgruß geschrieben. Und die Geschichte mit dem Kauf des ersten Rolls Royce steht natürlich auch schon ➱hier, sonst hätte ich sie heute erzählt.

Dienstag, 12. März 2013

Tim Fischer


Tim Fischer wird heute vierzig. Vor Jahren dachte ich, er würde dieses Alter nie erreichen, so zugekokst war er. Ich habe ihn am Anfang seiner Karriere einmal gesehen, da war er richtig gut. Ich besitze sogar eine Tim Fischer Doppel-CD. Wahrscheinlich deshalb, weil sie bei Radio Bremen aufgenommen wurde. Sie heißt Chansons Live/Lieder eines armen Mädchens, ich habe sie gleich bei meinen  CDs gefunden. Finden ist da immer schwierig. Ich hatte sie unter Chansons abgelegt. Was Tim Fischer macht, ist ja etwas schwer zu kategorisieren. Aber Chanson ist schon mal ein schöner Passepartout Begriff. Zumal er auf Chansons Live auch mit Serge Gainsbourgs La Javanaise beginnt. Das hat ja in Frankreich beinahe jeder gesungen. ➱Juliette Gréco auf jeden Fall. Tim Fischer singt es, als sei er in Paris aufgewachsen.

Dabei hat er den unspektakulärsten background. In Delmenhorst geboren, in Hude aufgewachsen, in Oldenburg zur Schule gegangen. Zu Delmenhorst möchte ich nun gar nichts sagen, ich habe ja wohl schon mal im Blog gestanden, dass mein Panzergrenadierbataillon da stationiert war. Und ➱Arthur Fitger kam aus Delmenhorst, das ist auch schlimm. Da muss man schon fliehen, zuerst nach Hamburg, dann nach Berlin. Als er 1996 im Alten Sendesaal von Radio Bremen die CD aufnimmt, da kennt man ihn schon. Aus dem Schmidt Theater in Hamburg, aus dem NDR. Jetzt singt er zum hundertsten Geburtstag von Friedrich Hollaender den Zyklus Lieder eines armens Mädchens. Und er lässt uns vergessen, dass er erst dreiundzwanzig ist.

Das ist das Erstaunliche an Tim Fischer, er beherrscht diese chamäleonhafte Mimikry, er ist auf der CD Chansons Live (ein Live-Mitschnitt aus dem Jungen Theater Bremen) Serge Gainbourg (oder Juliette Gréco) oder Stephen Sondheim. Auf der zweiten CD ist er Blandine Ebinger, für die Friedrich Hollaender die Lieder eines armen Mädchens geschrieben hat. Er ist jetzt seit zwanzig Jahren auf der Bühne, immer mit dem Pianisten Rainer Bielfeldt. Er wechselt ständig seine Outfits, ich habe ihn neuerdings schon mit einer Lederjacke gesehen. Ist ein Fortschritt, immer herumzulaufen wie Lilo Wanders oder Olivia Jones, das kann es nicht sein.

Das hier sind natürlich Noten, es sind die Noten zu Mozarts Klaviervariationen von Ah, vous dirai-je maman. Hat Mozart geschrieben, als er aus Paris zurückkam, offensichtlich sang da jeder dieses Lied. Leicht anzüglich, das ist ja etwas, was das ständig schweinigelnde Wolferl liebt. Abgesehen davon, dass das Lied jedes Jahr zu Weihnachten millionenfach mit einem anderen Text gesungen wird (Morgen kommt der Weihnachtsmann), ist es zuletzt wohl in Deutschland 1964 von Helen Vita gesungen worden. Noch Frechere Chansons Aus Dem Alten Frankreich hieß die LP. Wurde von der ➱Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Man fasst es nicht. Inzwischen sind wir ein halbes Jahrhundert weiter, da darf Tim Fischer Ach mama, ihr ahnt es nicht auf der Bühne ➱singen. Sogar vor dem Berliner Kanzleramt.

Für alle die, denen das jetzt etwas zu viel Subkultur ist, hätte ich natürlich noch etwas zu Mozarts Ah, vous dirai-je maman. Fängt ganz easy an, wird dann aber von Variation zu Variation immer schwerer. In der ersten Variation sind es schon einige Noten mehr. Da kann man das nachvollziehen, dass der Kaiser Joseph einmal gewaltig viel Noten, lieber Mozart gesagt hat. Worauf Mozart antwortete Gerade so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind. Schauen Sie einmal ➱hier auf die Noten, während Clara Haskil die zwölf Variationen spielt.

Sonntag, 10. März 2013

Deutsche Romantik


Es war ein schöner Sommerabend, als Florio, ein junger Edelmann, langsam auf die Tore von Lucca zuritt, sich erfreuend an dem feinen Dufte, der über der wunderschönen Landschaft und den Türmen und Dächern der Stadt vor ihm zitterte, sowie an den bunten Zügen zierlicher Damen und Herren, welche sich zu beiden Seiten der Straße unter den hohen Kastanienalleen fröhlich schwärmend ergingen. Kein Schriftsteller würde es heute wagen, einen Roman so zu beginnen. Es ist der Anfang von Joseph von Eichendorffs Das Marmorbild. Geschrieben im Jahr 1818. Napoleon ist gerade besiegt, der Leutnant Eichendorff war dabei. Bis nach Paris ist er gekommen. Da war er schon einige Jahre zuvor auf einer Studienreise gewesen. Aber Paris spielt in seinen Erzählungen keine so große Rolle. Eine Ausnahme ist nur Das Schloß Dürande. Die Reisenden bei Eichendorff zieht es nach Italien. Wo Eichendorff nie gewesen ist. Die Frage im Taugenichts: Können Sie mir nicht sagen, wo der Weg nach Italien geht?... Nach Italien, wo die Pomeranzen wachsen, könnte er nicht beantworten. Aber sein Italien ist auch kein Italien der Landkarte. Es ist ein Italien der Sehnsucht, ein Italien der Seele.

Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: «Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot.» – «Nun», sagte ich, «wenn ich ein Taugenichts bin, so ists gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen.» So beginnt Aus dem Leben eines Taugenichts, und immer, wenn der Frühling nicht kommen will, lohnt es sich, diesen Romananfang zu lesen. Er gibt einem Hoffnung. Hoffnung auf den Frühling und auf eine Entführung in eine märchenhafte Welt. Die hier natürlich wieder Italien heißen wird. Seit diesem Abend hatte ich weder Ruh noch Rast mehr. Es war mir beständig zumute wie sonst immer, wenn der Frühling anfangen sollte, so unruhig und fröhlich, ohne daß ich es wußte warum, als stünde mir ein großes Glück oder sonst etwas Außerordentliches bevor.

Uns steht als Leser immer ein großes Glück bevor, wenn wir Eichendorff lesen. Weil dies Märchen für Erwachsene sind. Und die dürfen nun einmal so kitschig anfangen wie Das Marmorbild oder wie Die GlücksritterDer Abend funkelte über die Felder, eine Reisekutsche fuhr rasch die glänzende Straße entlang, der Staub wirbelte, der Postillon blies, hinten auf dem Wagentritte aber stand vergnügt ein junger Bursch, der, im Wandern heimlich aufgestiegen, bald auf den Zehen lang gestreckt, bald sich duckend, damit die im Wagen ihn nicht bemerkten. Und hinter ihm ging die Sonne unter und vor ihm der Mond auf, und manchmal, wenn der Wald sich teilte, sah er von ferne Fenster glitzern im Abendgold, dann einen Turm zwischen den Wipfeln und weiße Schornsteine und Dächer immer mehr und mehr, es mußte eine Stadt ganz in der Nähe sein.

Doch die Städte sind nicht das Thema für Eichendorff, seine Erzählungen entführen uns in den Wald. Wenn man auf einem Schloss geboren wird und zum Besitz der Familie Wiesen und Wälder gehören, dann wundert einen das vielleicht nicht. Aber Eichendorfs Wälder sind nicht die Wälder Schlesiens (lediglich ein Literaturkritiker namens Franz Uhlendorff glaubt daran). Es sind Wälder, die wir alle zu kennen meinen (bei einem Blog mit dem Namen Silvae muss ich so etwas sagen). Weil wir sie alle seit der Kindheit kennen. Sie haben etwas von unserem Trauminventar - oder von unseren Albträumen: nur von den Bergen noch rauschet der Wald und mich schauert im Herzensgrunde. Diese Wälder haben etwas Archetypisches mit ihrem kühlen Grunde, wo ein Mühlenrad geht. Es sind auch Erzählungen von der Nacht, die langsam die ungeheuren Drachenflügel über den Kreis der Wildnis unter ihnen dehnt, da wo die Wälder dunkel aus der grenzenlosen Stille heraufrauschen. Wo das Abendrot draußen uns zu einer Aurora eines künftigen, weiten, herrlichen Lebens wird, und unsere ganze Seele wie mit großen Flügeln in die wunderbarste Aussicht hinein fliegt

Wo selten durch die weite Stille der dumpfe Schlag eines Eisenhammers herüber klingt. Wir wissen beim Lesen, dass das alles nicht wahr ist, dass die ➱Industrielle Revolution längst angefangen hat - und Eichendorff weiß das natürlich auch. Eine Stelle wie diese wird uns irritierten: An einem schönen warmen Herbstmorgen kam ich auf der Eisenbahn vom andern Ende Deutschlands mit einer Vehemenz’ dahergefahren, als käme es bei Lebensstrafe darauf an, dem Reisen, das doch mein alleiniger Zweck war, auf das allerschleunigste ein Ende zu machen, die Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, unermüdlich durcheinander wie ein Kaleidoskop, wo die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgendeine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet, bevor man noch die alten recht überwunden. Diesmal blieb indessen eine Ruine rechts überm Walde ganz ungewöhnlich lange in Sicht. Ist das von Eichendorff? ➱Ja, ist es. Natürlich wird Eichendorff den fliegenden Kasten verlassen: Desto besser! dachte ich, schnürte mein Ränzel und schritt wieder einmal mit lang entbehrter Reiselust in die unbestimmte Abenteuerlichkeit des altmodischen Wanderlebens hinein. Es zieht ihn zu der Ruine da oben im Wald. Die vielleicht auf einer symbolischen Ebene die Ruine der Romantik ist. Das weiß Eichendorff wohl. Schließlich ist bei ihm alles ein Symbol.

In Eichendorffs erstem Roman Ahnung und Gegenwart heißt es gleich am Anfang über den Grafen Friedrich: ein gemeiner Menschensinn hätte ihn leicht für einfältig gehalten. Aber der Graf Friedrich ist nicht einfältig, ebenso wenig wie sein alter ego, der Baron Eichendorff. Wenn das Ich hatte diesen Roman vollendet, ehe noch die Franzosen im letzten Krieg Rußland betraten wirklich wahr ist, dann ist dieser Friedrich geradezu prophetisch: Mir scheint unsre Zeit dieser weiten, ungewissen Dämmerung zu gleichen! Licht und Schatten ringen noch ungeschieden in wunderbaren Massen gewaltig miteinander, dunkle Wolken ziehn verhängnisschwer dazwischen, ungewiß ob sie Tod oder Segen führen, die Welt liegt unten in weiter, dumpf stiller Erwartung. Kometen und wunderbare Himmelszeichen zeigen sich wieder, Gespenster wandeln wieder durch unsre Nächte, fabelhafte Sirenen selber tauchen, wie vor nahen Gewittern, von neuem über den Meeresspiegel und singen, alles weist wie mit blutigem Finger warnend auf ein großes, unvermeidliches Unglück hin. Unsere Jugend erfreut kein sorglos leichtes Spiel, keine fröhliche Ruhe, wie unsere Väter, uns hat frühe der Ernst des Lebens gefaßt. 

Im Kampfe sind wir geboren, und im Kampfe werden wir, überwunden oder triumphierend, untergehn. Denn aus dem Zauberrauche unsrer Bildung wird sich ein Kriegsgespenst gestalten, geharnischt, mit bleichem Totengesicht und blutigen Haaren; wessen Auge in der Einsamkeit geübt, der sieht schon jetzt in den wunderbaren Verschlingungen des Dampfes die Lineamente dazu aufringen und sich leise formieren. Verloren ist, wen die Zeit unvorbereitet und unbewaffnet trifft; und wie mancher, der weich und aufgelegt zur Lust und fröhlichem Dichten, sich so gern mit der Welt vertrüge, wird, wie Prinz Hamlet, zu sich selber sagen: Weh, daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam! Denn aus ihren Fugen wird sie noch einmal kommen, ein unerhörter Kampf zwischen Altem und Neuem beginnen, die Leidenschaften, die jetzt verkappt schleichen, werden die Larven wegwerfen, und flammender Wahnsinn sich mit Brandfackeln in die Verwirrung stürzen, als wäre die Hölle losgelassen, Recht und Unrecht, beide Parteien, in blinder Wut einander verwechseln. Wunder werden zuletzt geschehen, um der Gerechten willen, bis endlich die neue und doch ewig alte Sonne durch die Greuel bricht, die Donner rollen nur noch fernab an den Bergen, die weiße Taube kommt durch die blaue Luft geflogen, und die Erde hebt sich verweint, wie eine befreite Schöne, in neuer Glorie empor. O Leontin! wer von uns wird das erleben!

Das passt - ebenso wie hüte dich, das wilde Tier zu wecken in der Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt in Das Schloß Dürande - wenig zu unserem Eichendorff Bild. Das natürlich immer ein Trugbild gewesen ist. Ebenso wie das Bild von Mozart in Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag und auf den Mozartkugeln nicht den wahren Mozart wiedergibt. Es gibt noch einen anderen Eichendorff, der durchaus ein zoon politikon ist. Man brauchte da nur das Fragment Das Inkognito oder die Erzählungen ➱Auch ich war in Arkadien und ➱Libertas und ihre Freier genau zu lesen.

Joseph Freiherr von Eichendorff wurde heute vor 225 Jahren geboren. Es gab hier vor einem Jahr schon einen langen ➱Post zu Eichendorff. Und vor drei Jahren gab auch schon einen kurzen ➱Post, der aber eigentlich mehr ein Mini Forschungsbericht und eine Leseempfehlung für das ➱Eichendorff Buch von Eckhard Henscheid ist. Die Bilder sind von Carl Blechen, Andreas Achenbach, Carl Gustav Carus,  Olga Wisinger-Florian, Francisco de Goya und Georg Friedrich Kersting.

Und wenn Sie Eichendorff einmal ganz anders haben wollen, dann klicken Sie dies ➱hier an.