Montag, 22. September 2014

Rosamunde


Sie wird heute neunzig Jahre alt. Das gibt mir Gelegenheit (da es ansonsten hier heute nichts Neues gibt), einen älteren Post noch einmal abzudrucken. Was heute hier steht, war im Jahre 2010 mein Geburtstagsgruß (den ich heute noch einmal wiederhole) an eine der berühmtesten Engländerinnen der Gegenwart. Manche Leser fanden den Post etwas bösartig, aber eigentlich ist er doch ganz nett.

Join the Wrens – and free a man for the fleet, lautete der Slogan, den die englische Regierung während des Zweiten Weltkriegs ausgab, um Angehörige für den Women's Royal Naval Service zu werben. Rosamunde Scott, Tochter eines Marineoffiziers, hat ihn beherzigt. Als sie aus dem Krieg zurück war, hat sie den Major Graham Pilcher geheiratet, vier Kinder gekriegt und irgendwann zu schreiben angefangen. Heute wird sie 86, ihr Ehemann ist im letzten Jahr im Alter von 92 Jahren gestorben. Obgleich ich ihre Romane nicht mag, gratuliere ich doch ganz herzlich zum Geburtstag. Sie hat nie behauptet, dass sie große Literatur schreibt: Nennen Sie es Kitsch. Das berührt mich nicht. Ich glaube dennoch, dass ich einen guten Stil habe. Das mit dem guten Stil weiß ich nicht so genau, aber gutes Englisch schreibt sie, das ist richtig. Ich bin Experte, ich besitze einen Rosamunde Pilcher Roman. Habe ich für zwei Mark im Grabbelkasten gefunden, ich wollte endlich mal wissen, was an dem Pilcher Phänomen dran ist. Ich habe die 1.016 Seiten nicht zu Ende gelesen, weil ich in der Gegend von Seite 200 aufgehört habe. Danach habe ich nur noch kursorisch darin gelesen, hier ein Häppchen, dort eins. Reicht für den Gesamteindruck. Die Sunday Times sprach von warmth, sincerity and easy, undemanding prose. Stimmt alles. Aber wenn man etwas in der Größenordnung von tausend Seiten lesen will, dann könnte es ja auch ➱Gone with the Wind sein. Oder etwas more demanding, die Forsyte Saga.

Der Roman heißt Coming Home, er ist natürlich auch verfilmt worden, 199 Minuten lang (es gibt ihn auch vorgelesen). Aber diesmal ist die Verfilmung nicht eine dieser schrottigen ZDF Produktionen, hier hat man sich schon Mühe gegeben und gute Schauspieler geholt. Peter O'Toole, Joanna Lumley, Emily Mortimer, Susan Hamphire (ja, die hübsche Fleur aus der Forsyte Saga Verfilmung). Zwei Jahre vorher hatte die BBC mit der Verfilmung von September es dem ZDF mal gezeigt, wie man das richtig macht, wieder mit Mengen von Stars Jacqueline Bisset, Edward Fox, ➱Michael York, Mariel Hemingway etc.

Aber das ZDF hat sich von diesen englischen Filmen nicht beeinflussen lassen und haut eine Pilcher Verfilmung nach der anderen raus (natürlich haben sie Coming Home und September auch gezeigt). Ich habe September gesehen, weil ich ➱Jacqueline Bisset ganz schnuckelig finde. Nicht dass sie eine besonders gute Schauspielerin wäre, aber was wäre Truffauts La Nuit Américaine ohne sie? Dass sie auch in Richard Lesters The Knack war, haben wir alle nicht bemerkt. Dafür hat sie in Under the Volcano gezeigt, dass sie auch eine gute Schauspielerin sein kann. In September spielt sie jemanden namens Pandora Blair (was ein toller Name für Tony B-Liars Gattin wäre) und beweist, dass Frauen auch jenseits der fünfzig noch gut aussehen können.

So halbwegs qualitätvoll die BBC Inszenierung daherkommt, auch hier gibt es schlimme Schnitzer. Man guckt diese Sorte Film ja nicht wegen der Handlung oder der Kameraarbeit an. Der englische Professor ➱Malcolm Bradbury, der auch viel für das Fernsehen gearbeitet hat, hat mal in einem Vortrag gesagt, dass man sich in Bezug auf die Genauigkeit bei einer Verfilmung ja große Mühe gäbe. Aber kaum sei der Film gesendet, da rufen die Leute bei der BBC an, um zu sagen, dass es das eben im Film gezeigte Automodell im Jahre 1954 noch gar nicht gegeben hätte. Sie verstehen, was ich meine. Also es gibt in dem Film eine Szene, in der Michael York (die Inkarnation des englischen Gentleman, da kann man ja nicht viel falsch machen) geschäftlich in die Großstadt muss. Er trägt einen eleganten Anzug, hat einen dieser schweineteuren englischen Aktenkoffer (also so etwas, was Swaine, Adeney & Brigg verkaufen) und steigt in einen Land Rover.

So weit so gut. Der Fehler ist: alles ist neu, nagelneuer Anzug, nagelneuer Aktenkoffer, nagelneuer und ganz sauberer Land Rover. Wenn man so, oder so ähnlich wohnt, dann hat man nix Neues! Kein Gentleman würde einen Anzug tragen, dem man das NEU auf hundert Meter ansieht. Das bedeutet, dass wir unsere Arbeit nicht richtig gemacht haben, würden die Savile Row Schneider sagen. Und kein englischer Gentleman würde einen neuen Aktenkoffer in die Hand nehmen. Der rote Koffer, den der jeweilige englische Schatzkanzler bei der Präsentation des Budgets in die Kamera hält, stammt aus dem Jahre 1860. Damals hatte Gladstone ihn für diese Zwecke anfertigen lassen. Und wieso steht ein sauber glänzender Land Rover vor dem Landhaus? Da muss doch die untere Hälfte voller Lehm sein. Das sind schlimme handwerkliche Fehler, die in der Serie Der Doktor und das liebe Vieh nie vorkommen.

Wenn solche Schnitzer in den englischen Produktionen vielleicht marginal sind, in den deutschen Produktionen sind sie die Regel. Hier bastelt man sich ein synthetisches England zusammen, das Cornwall sein soll (aber meistens woanders gedreht wurde). Die Engländer sind natürlich alle aus deutschen Serien bekannt, und sie tragen abscheuliche Dinge, die bestimmt kein Engländer trägt. Oder sagen wir das etwas genauer: kein Engländer aus dieser spezifischen Gesellschaftsschicht. Denn eine bestimmte Sorte Kleidung ist in England wie ein bestimmter Akzent immer noch an eine bestimmte soziale Gruppe gebunden (zu der die meisten deutschen Darsteller auch nicht gerade gehören).

Peter O'Toole, Edward Fox und Michael York könnten den schlimmsten Unsinn anziehen, den man sich in Mainz ausdenken mag, sie würden immer noch einen englischen Landadligen abgeben. Aber den meisten deutschen Darstellern, die in diesen Pilcher Filmen brillieren, gelingt das nun mal nicht. Die echt englischen Outfits wären zur Unterstützung ihrer schauspielerischen Leistungen ebenso wichtig wie die richtige Umgebung. Warum plündern die, wenn es offensichtlich nicht für Rudolf Beaufays in Hamburg reicht, nicht mal zu Beginn der Dreharbeiten einen Oxfam ➱Secondhand Laden?

Nun könnte man sagen, dass diese kleinen Nuancierungen in der Welt der upper middle class völlig nebensächlich sind, aber das ist nicht wahr. Der englische Roman lebt davon, Rosamunde Pilcher ganz besonders. Denn dies ist ja keine working class literature. Dies ist genteel literature für diejenigen, die dahin kommen möchten, wo Pilchers Figuren schon sind: auf den großen Landsitz in Cornwall. Rosamunde Pilcher ist in dem Land der romance nicht allein, sie hat in England massenhaft Konkurrenz, von der guten alten Barbara Cartland bis zu Jilly Cooper. Diese Sorte Literatur macht die Hälfte des englischen Buchmarkts aus.

Wenn man nun glaubt, dass ganz Cornwall Pilcher Country ist, fest im Besitz von Rosamunde, wird man sich getäuscht sehen. Es gibt in England noch eine Autorin, die in Deutschland nicht so bekannt geworden ist, die aber schöne Romane geschrieben hat, die auch in Cornwall spielen. Vor Jahren habe ich im Grabbelkasten eines Antiquariats für eine Mark Mary Wesleys Buch A Sensible Life gefunden. Ich las die ersten Seiten und war hingerissen, hier war eine Frau, die schreiben konnte. Sie war 78 Jahre alt, als sie diesen Roman schrieb. Jane Austen plus Sex, hat die englische Presse ihre Romane klassifiziert. Fand sie nicht so witzig, aber Sex spielt bei ihr schon eine Rolle. Auch in ihrem Leben, nicht nur im Roman. Die upper middle class spielt bei ihr auch eine Rolle, wird aber bei ihr schärfer gezeichnet. Ist kein Gegenstand der heimlichen Verehrung, eher der Ironie.

Rosamunde Pilchers Romane haben hundertausende von Touristen nach Cornwall gelockt, dafür ist sie mit dem British Tourism Award ausgezeichnet worden. Der ZDF Programmdirektor Claus Beling auch. Pilcher hat vor zehn Jahren aufgehört zu schreiben, aber dafür schreibt beim ZDF eine Frau namens Christiane Sadlo weiter. Die die gleiche Formel dann auch noch mal unter dem Namen Inga Lindström vermarktet. Dann spielt das in Schweden, ist aber sonst das gleiche. Die Darsteller meistens auch.

Muss man Rosamund Pilcher lesen? All normal people need both, classics and trash, hat George Bernard Shaw einmal gesagt. Meine kursorische Lektüre von Coming Home hat keine bleibenden Schäden hinterlassen. War auch nicht so schreiend komisch, wie die Lektüre von Kathleen Woodiwiss' Ashes in the Wind (ein Gone with the Wind Derivat). Eine Zeitschrift namens Woman and Home hat Coming Home als A great featherbed of a novel, all the right ingredients bezeichnet. Wahrscheinlich ist das so. Wenn Sie aber nun aus der Bettenabteilung in das richtige Leben wechseln wollen, dann empfehle ich das Buch Class von ➱Jilly Cooper, in dem man ALLES über die englische Gesellschaft erfährt.

Samstag, 20. September 2014

Anna Waser


Heute vor dreihundert Jahren starb die Schweizer Malerin Anna Waser. Sie war ein Wunderkind dessen Kunst angeblich von Queen Anne und Zar Peter geschätzt wurde. Hofmalerin des Grafen Wilhelm Moritz von Solms-Braunfels ist sie auch gewesen, ganz Europa stand ihr offen. Sie war nicht die erste Malerin in der Welt der Kunst, Frauen haben sich längst einen Platz in der Malerei erobert. Anna Waser war die erste Malerin der Schweiz, das feiern die Schweizer, denn viel Kunst haben sie nicht. Dieses Selbstbildnis hat sie hat Zwölfjährige gemalt, der Mann auf der Leinwand soll der in Winterthur als ➱Fächermaler bekannte Johannes Sulzer sein, der neben dem viel berühmteren Joseph Werner einer ihrer Lehrer war.

Aber wie es mit den Wunderkindern so ist, das Leben verläuft meistens nicht so, wie die Umwelt es erwartet. Die Geschichte des Wunderkinds ➱Christian Heineken steht hier schon im Blog, Wolfgang Amadeus Mozart wird nur fünfunddreißig. Anna Waser auch. Das Bild oben ist das einzige, das von ihren Schöpfungen erhalten ist. Es soll noch fünfundzwanzig Zeichnungen geben, aber mehr ist da nicht. ➱Mozart hat uns glücklicherweise mehr hinterlassen. Die Schweizer Künstlerin Ruth Greter, die über Die Künstlerin und ihr Werk in der deutschsprachigen Kunstgeschichtsschreibung promoviert hat, hat einen ➱Lexikonartikel geschrieben, der die gesicherten Fakten über das Leben und Werk der Anna Waser enthält. Viel mehr als hier steht findet sich nicht, der Rest ist freie Phantasie. Doch Anna Waser ist nicht vergessen, das verdankt sie der Maria Waser. Die Literaturwissenschaftlerin hat 1913 die Geschichte der Anna Waser aufgeschrieben.

Sie können das ➱hier im Volltext lesen. Sie können es auch lassen, es ist grauenhaft. Hat sich aber verkauft wie geschnitten Brot. Es ist erstaunlich: hier ist eine gebildete Frau, die einen Schriftsteller wie Robert Walser gefördert hat (der einer meiner Lieblingsschriftsteller ist und ➱hier natürlich schon einen Post hat), und die haut da eine Schmonzette raus, die Frau Courths-Mahler alt aussehen lässt. Die von mir etwas bespöttelte ➱Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem wirkt schon wie high-brow Literatur gegen diese Lebensgeschichte der kleinen Schweizer Malerin. Ich zitiere aus dem Roman einmal ein kleines Gedicht:

Wann ich einst tot bin,
Deckt Staub mich Armen,
Führt dich wohl zu mir hin
Ein still‘ Erbarmen?

Sieh, wie der Mond so weiß
Über mein Grab geht,
Denk, wie verlangend heiß
Um dich mein Herz steht.

Daß ich im kalten Grab
Nach dir mich sehne —
Dringt wohl zu mir herab
Leis eine Träne?

Bringt wo ein weicher Wind
Den Duft von Rosen,
Fühlst du im Nacken lind
Ein heimlich‘ Kosen?

Spürt dann dein Seidenhaar
Zitternde Küsse,
Weiß, daß es immerdar
Mir gehören müsse...

Und weil ich tot bin,
Im Grab gefangen,
Zieht dich wohl zu mir hin
Ein heiß Verlangen?

Mehr geht nicht. Wenn Sie seriöse Informationen haben wollen, dann lesen Sie auf keinen Fall ➱Daniele Muscionico, das ist genau so schlimm. In einem Nachruf auf Maria Waser (Bild) heißt es: Daß diese hingebungsvolle und opferbereite Güte ganz ihr Wesen durchdrang und als Cantus firmus ihr innerstes Streben begleiten mußte, wissen alle, die sich in ihren Büchern auskennen. Hier dominiert ihr Menschliches und ließ sich nicht zurückdrängen, noch läßt es sich verkennen. Am innigsten, will es mir scheinen, habe es sich mit der künstlerischen Gestalt eines ihrer Bücher in dem frühen historischen Romane verschmolzen, in dem die Dichterin die Figur jener Anna Waser aus dem Stamme ihres Gatten beschwor, von der sie sich selber wohl im Tiefsten angesprochen fühlte. Und sie vollbrachte das Wunder: in einem historischen Romane mit allen seinen Schranken das vollkommen lebendige und unmittelbar nachfühlbare Wesen einer Frau von tiefster Innerlichkeit zu gestalten. Sie war ihr nahe, dieser Anna Waser, der der Verzicht zum Gesetz ihres Lebens wurde und die demütig entsagen lernte, um für die andern da zu sein. Müssen die Schweizer immer übertreiben?

Dieses Frontispiz zu Johann Jakob Scheuchzers Ouresiphoítes helveticus, sive Itinera per Helvetiæ alpinas regiones ist von der Künstlerin gezeichnet. Wenn man so will, ist das ein Werk, das den ➱Alpentourismus begründet. Scheuchzer hatte es der Royal Society gewidmet. Berühmtheiten wie Isaac Newton und ➱Sir Hans Sloane hatten Illustrationen geliefert. Das Werk ist dem deutschen Wikipedia Artikel keine große Erwähnung wert, dem englischen schon. Die Schweiz hat den Naturwissenschaftler Scheuchzer nicht so gemocht, in England, wo man ihn in die Royal Society aufnahm, war er ein berühmter Mann.

Vielleicht hätte Anna Waser auch nach England gehen sollen, ➱Johann Heinrich Füssli (dessen Vater die kleine Malerin Anna Waser aus Zürich in seine ➱Geschichte und Abbildung der besten Maler in der Schweiz aufnahm) hat das getan. Auch der Schweizer Historiker Johannes von Müller (dessen homoerotischer Briefwechsel gerade das Feuilleton beschäftigt) zog es vor, nicht in der Schweiz zu bleiben. Und wir denken heute schon gar nicht mehr daran, dass ➱Angelika Kauffmann auch in der Schweiz geboren wurde. Dies Selbstportrait zeigt sie hin- und hergerissen zwischen Musik und Malerei. Anna Waser wird nur hin- und hergerissen zwischen der Malerei und ihren Tochterpflichten gegenüber der Familie.

Eng! Eng! So eng, sollen die letzten Worte der Anna Waser gewesen sein. Die geistige Enge der Schweiz wird nicht nur heute beklagt. Da ist es vielleicht besser, das Land zu verlassen. Viele tun das unfreiwillig. Sie werden als Reisläufer verkauft und können dann nicht mehr das ➱Alphorn hören. Oder sie müssen Napoleon dienen und singen das ➱Beresinalied. Und wie sagt ➱Harry Lime in The Third Man so schön: Don't be so gloomy. After all it's not that awful. Like the fella says, in Italy for 30 years under the Borgias they had warfare, terror, murder, and bloodshed, but they produced Michelangelo, Leonardo da Vinci, and the Renaissance. In Switzerland they had brotherly love - they had 500 years of democracy and peace, and what did that produce? The cuckoo clock. So long Holly.

Die Teufelsbrücke, die auf der Zeichnung von Anna Waser zu sehen ist, sieht da irgendwie ein bisschen mickrig aus. Wir mögen es ja lieber, wenn sie so aussieht, wie auf dem Bild von ➱Carl Blechen. Hitler auch, er hatte das Bild für 380.000 Reichsmark gekauft. Ich nehme mal an, dass es nicht sein eigenes Geld war.











Mittwoch, 17. September 2014

Tänzer


So fängt der Film an, den Channel 4 im Jahre 1997 sendete. Wahrscheinlich muss eine Verfilmung des Romans A Dance to the Music of Time heute mit nackten Frauen anfangen. Um den Zuschauer bei Laune zu halten, denn die Verfilmung ist vierhundert Minuten lang. Powells roman fleuve ist auch sehr lang. Er besteht aus zwölf Bänden, es ist einer der längsten Romane der englischen Literatur. Ich nehme an, dass der Roman einen Artikel in Kindlers Literatur Lexikon hat (ich habe nicht nachgeschaut), den hätte ich nicht schreiben mögen. Ich habe schon über die Artikel geflucht, zu denen man mich vor vielen Jahren überredet hat.

Ich habe mich lange davor gedrückt, Anthony Powells Roman zu lesen. ➱Galsworthys Forsyte Saga ist ein Klacks dagegen. ➱Marcel Prousts Recherche (viel länger als Powells Dance) habe ich inzwischen zum dritten Mal gelesen. Vor ➱Tolstois Krieg und Frieden habe ich mich auch lange gedrückt, aber mein Kollege ➱Friedrich Hübner hat mich in seiner sanften Art über die Jahre dazu bekommen. Bei A Dance to the Music of Time war es ein anderer Kollege, der mich - ähnlich wie Cato mit seinem ceterum censeo durch jahrelange Wiederholung - dazu bekam, den Roman zu lesen. Oder vielleicht war es auch der blaue Grabbelkasten vor dem ➱Antiquariat, wo mir an einem schönen Spätsommertag dieser Flamingo Paperback von The Military Philosophers in die Hände fiel. Ich fing schon auf der Straße an zu lesen, konnte gar nicht mehr damit aufhören. Bis mir einfiel, dass es vielleicht praktischer sei, das Buch zu bezahlen (es kostete damals drei Mark) und es zu Hause in einem bequemen Sessel zu lesen. Mit einer Tasse Tee dazu.

In meinem Exemplar fand ich eine kleine Bleistiftnotiz, ich schreibe normalerweise nichts in Bücher. Es ist auch nur eine Seitenzahl: p. 172 ff. Warum hatte ich das notiert? Ich schlug Seite 172 auf, da war mir nach Jahrzehnten sofort alles klar: "Just spell out the name of that place we stopped over last night, Major Jenkins," said Cobb.
"C-A-B-O-U-R-G, Sir."
As I uttered the last letter, scales fell from my eyes. Everything was transformed. It all came back-like the tea-soaked madeleine itself — in a torrent of memory ... Cabourg ... We had just driven out of Cabourg ... out of Proust's Balbec. Only a few minutes before, I had been standing on the esplanade along which, wearing her polo cap and accompanied by the little band of girls he had supposed the mistresses of professional bicyclists, Albertine had strolled into Marcel's life. Through the high windows of the Grand Hotel's dining room — conveying for those without the sensation of staring into an aquarium — was to be seen Saint-Loup, at the same table Bloch, mendaciously claiming acquaintance with the Swanns. A little further along the promenade was the Casino, its walls still displaying tattered play-bills, just like the one Charlus, wearing his black straw hat, had pretended to examine, after an attempt at long range to assess the Narrator's physical attractions and possibilities. Here Elstir had painted; Prince Odoacer played golf. Where was the little railway line that had carried them all to the Verdurins' villa? Perhaps it ran in another direction to that we were taking; more probably it was no more
. Das war es, ich hatte Proust in Powell gefunden, das hatte mich damals zu einem Powell Fan gemacht.

Dieser Herr heißt Kenneth Widmerpool, er spielt im Roman eine große Rolle, er ist schon oben auf dem Buchumschlag von The Military Philosophers zu sehen. Die ➱Buchumschläge wurden von Mark Boxer gestaltet, der als Marc ein bekannter Cartoonist war. Das Konterfei von ➱Prince Charles, auf dem berühmten Teebecher, den man so schön an den großen Ohren halten kann, ist auch von ihm. Widmerpool ist ein Banause, den niemand mag, ein karrieregeiles Ekelstück. Er ist eine der wunderbarsten, bescheuertsten Gestalten im englischen Roman des 20. Jahrhunderts.

Wir haben beim Lesen immer das Gefühl, dass wir ihn kennen. Natürlich hat es Versuche gegeben, die zwölf Bände als einen Schlüsselroman zu sehen und allen Romanfiguren reale ➱Vorlagen zuzuweisen, aber wir als Leser statten die Figuren bei der Lektüre immer mit eigenen Beigaben aus, die vielleicht nicht so im Roman stehen. Während wir lesen, sind sie unsere Familie. Und alle glücklichen Familien gleichen einander. Während wir lesen, schreiben wir den Roman um. Es ist schließlich unsere Romanlektüre, nicht die eines Literaturwissenschaftlers. Das weiß auch Powell, der über die Bilder sagt, mit denen seine Gattin einen Bildband illustriert hat:

I have always been interested in the consumer end of the Arts, what the reader inevitably adds to the information given by the writer; the way the individual who looks at a picture digests and amplifies what the painter has set down on canvas. In the case of the novelist, readers have often made clear how far they have strayed from my original intention in interpreting the words I have written; not necessarily in an uncreative manner. Steht das Bild von George Spencer Watson (oben) mit dem Titel Four Loves I found, a Woman, a Child, a Horse and a Hound für England? Oder steht es nur für ein England der upper class? Das Bild von Watson, das von Muriel Minter hier und das Bild Tagg's Island von Sir Alfred Munnings unten stammen alle aus der gleichen Zeit, aus der Zeit, in der Powells Zyklus beginnt.

Romanverfilmungen vereinfachen. Das müssen sie tun. ➱Tolstois Krieg und Frieden ist x-mal verfilmt worden, aber keine Verfilmung überzeugt so, wie die von Bondartschuk (lesen Sie ➱hier mehr). Visconti sind schöne Romanverfilmungen gelungen, und über Die wiedergefundene Zeit von ➱Raúl Ruiz kann man diskutieren. Joseph Losey hatte Proust verfilmen wollen (Visconti wollte das auch einmal), Pinter hatte schon das Drehbuch geschrieben, doch es ist nicht dazu gekommen.

Joseph Losey ist (mit Pinters Hilfe) mit The Go-Between eine wirklich schöne Verfilmung eines Romans geglückt (lesen Sie ➱hier alles dazu). Hartleys The Go-Between ist ein Roman, den man mit Proust verglichen hat, der Roman fordert dazu heraus. Der natürlich - und hier liegt ein Problem der Literaturverfilmung - viel kürzer war als Tolstois Krieg und Frieden, Prousts À la recherche du temps perdu und Powells A Dance to the Music of Time. Dass man ihn als den englischen Proust bezeichnet hat, das hat Powell immer zurückgewiesen. Er sagte im Jahre 1990 über sein Werk: I look at 'Dance' now, and think . . . what an extraordinary chap I must have been to have written all this stuff.

Die Verfilmung von A Dance to the Music of Time hat ➱Widmerpool zum Zentrum des Filmes gemacht, und ihm dadurch eine Rolle zugewiesen, die ihm im Roman nicht zukommt. Der Schauspieler Simon Russell Beale gewann für seine Darstellung des Kenneth Widmerpool das uneingeschränkte Lob der Kritiker und den Preis als bester Schauspieler der British Academy Television Awards im Jahre 1998. Widmerpool in das Zentrum des Films zu rücken, ist eine bewusste Entscheidung der Drehbuchautoren gewesen, die beide Profis waren: Hugh Whitemore und Anthony Powell (der ja selbst schon als Drehbuchautor gearbeitet hatte). Der Film, der sonst vielleicht Gefahr liefe, zu einer Nummernrevue der englischen Gesellschaft zwischen 1914 und 1971 zu verkommen, bekommt dadurch eine gewisse Geschlossenheit.

Die zweite zentrale Figur  ist natürlich der Erzähler Nicholas Jenkins (in der Verfilmung von James Purefoy gespielt). Die Literaturwissenschaft würde ihn als I as witness (im Gegensatz zu I as protagonist) klassifizieren, er ist ein am Rande stehender Beobachter. Ähnlich wie ➱Nick Carraway in The Great Gatsby. Die Figur des Nick Jenkins enthält natürlich auch viel von Anthony Powell, der sich übrigen Po-ell aussprach (sein Bruder war ein Powell wie alle anderen Powells), enthält Powells Witz und seine Ironie.

Powell can offer many of the rewards of comic creation we find in a Dickens or a Jane Austen, coupled with the ultimate gift of such creations— the fascination of romance as well as the immediacy of humor. . . . Such an art transforms quotidian experience... The author as God can only create his own universe, and we can be grateful that Anthony Powell has done so, sagt John Bayley (der Ehemann von Iris Murdoch) in seiner Rezension von Powells Memoiren. Die erschienen unter den Titeln Infants of the Spring, Messengers of the Day, Faces in My Time und The Strangers All Are Gone zwischen 1976 und 1982. Ich gebe zu Powells unnachahmlichen Stil einmal ein Häppchen Text (aus dem Roman A Buyer's Market):

I was waiting while they looked for my hat, when Widmerpool himself appeared from the back regions of the house ... 'Which way do you go?' he asked.
'Piccadilly.'
'Are you taxi-ing?'
'I thought I might walk.'
'It sounds as if you lived in a rather expensive area,' said Widmerpool, assuming that judicial air which I remembered from France.
'Shepherd's Market. Quite cheap, but rather noisy.'
'A flat?'
'Rooms - just beside an all-night garage and opposite a block of flats inhabited almost exclusively by tarts.'
'How convenient,' said Widmerpool; rather insincerely, I suspected.
'One of them threw a lamp out of her window the other night.'

Ich hoffe, ich habe Sie jetzt auf den Geschmack gebracht, sich die DVD zu kaufen. Es gibt sie leider nur auf Englisch, es gibt auch keine Untertitel. Aber man bekommt in 415 Minuten ein halbes Jahrhundert englischer Sozialgeschichte auf zwei DVDs serviert. Das ist viel besser als Brideshead Revisited und Downton Abbey zusammen. Für Liebhaber vergangener Herrenmode ist es auch noch eine wunderbare Ausstattungsrevue, so etwas können die Engländer, das muss man ihnen lassen. Und es kann nicht verwundern, dass eine Dissertation mit dem schönen Titel The Image of the English Gentleman in Twentieth-Century Literature: Englishness and Nostalgia einen Schwerpunkt auf das Werk von Anthony Powell legt. Es wird auch nicht verwundern, dass die Verfasserin Christine Berberich im Vorstand der Powell Society ist.

Seinen Titel hat der Roman natürlich nach dem gleichnamigen Bild von Nicolas Poussin, das in der Wallace Gallery in London hängt:
At a fairly early stage … I found myself in the Wallace Collection, standing in front of Nicolas Poussin’s picture given the title 'A Dance to the Music of Time'. An almost hypnotic spell seems cast by this masterpiece on the beholder. I knew all at once that Poussin had expressed at least one important aspect of what the novel must be. 

The precise allegory which Poussin’s composition adumbrates is disputed. I have accepted the view that the dancing figures … are the Seasons … Phoebus drives his horses across the heavens; Time plucks the strings of his lyre. There is no doubt a case … that the dancers are not easily identifiable as Spring, Summer, Autumn, Winter. They seem no less ambiguous as Pleasure, Riches, Poverty, Work, or perhaps Fame. In relation to my own mood, the latter interpretations would be equally applicable … The one certain thing is that the four main figures depicted are dancing to Time’s tune.

Das Zitat findet sich in Anthony Powells Autobiographie To Keep the Ball Rolling. Die natürlich sehr lesenswert ist, ich habe die aus den vier Einzelbänden gekürzte Ausgabe (Chicago University Press) von 2001, die immerhin noch 456 Seiten hat. Und diese Biographie von Michael Barber hier, die kaufen Sie bitte nicht, furchtbar langweilig. Ein paar gute Literaturempfehlungen habe ich natürlich auch. Das erste ist Hilary Spurlings Buch Invitation To the Dance: A Handbook to Anthony Powell's A Dance to the Music of Time. Die Engländer haben ja diese Sorte der handbooks perfektioniert, angefangen mit dem berühmten Oxford Companion to English Literature, zu dem wir in Deutschland nicht Vergleichbares haben.

Dieses Buch ist auch unbedingt zum empfehlen. The Album of "Dance to the Music of Time" wurde herausgegeben von ➱Lady Violet Powell. Die Tochter von Lord Longford, die selbst als Verfasserin von Biographien einen Namen hatte, war die Gattin von Anthony Powell. Es war eine Ehe, die fünfundsechzig Jahre gehalten hat. Das Buch hat ein Vorwort von Anthony Powell und eine Einleitung von John Bayley. Und es hat ganz, ganz viele Bilder (das Bild von Muriel Minter oben ist auch darin). Man kann das Buch antiquarisch noch finden, sogar manchmal sehr preisgünstig.

Anthony Powell braucht das Bild von Poussin nicht nur für den Titel seines Romans, er schreibt es auch in den Anfang hinein, wenn er Straßenbauarbeiter an einem kalten Wintertag beschreibt, die sich um ein Feuer scharen: For some reason, the sight of snow descending on fire always makes me think of the ancient world – legionaries in sheepskin warming themselves at a brazier: mountain altars where offerings glow between wintry pillars; centaurs with torches cantering beside a frozen sea – scattered, unco-ordinated shapes from a fabulous past, infinitely removed from life; and yet bringing with them memories of things real and imagined. These classical projections, and something in the physical attitudes of the men themselves as they turned from the fire, suddenly suggested Poussin’s scene in which the Seasons, hand in hand and facing outward, tread in rhythm to the notes of the lyre that the winged and naked greybeard plays. The image of Time brought thoughts of mortality: of human beings, facing outwards like the Seasons, moving hand in hand in intricate measure: stepping slowly, methodically, sometimes a trifle awkwardly, in evolutions that take recognisable shape: or breaking into seemingly meaningless gyrations, while partners disappear only to reappear again, once more giving pattern to the spectacle: unable to control the melody, unable, perhaps, to control the steps of the dance.

Das ist, zugegeben, vielleicht ein wenig weit hergeholt. Ich weiß jetzt nicht, weshalb ich dabei immer an das Bild Pennsylvania Station Excavation von ➱George Bellows denken muss. Wahrscheinlich deshalb, weil ich immer noch über den schreiben will. Und natürlich wegen der Kombination von Schnee und Feuer. Die sich, darauf haben Literaturwissenschaftler hingewiesen, bei Powell schon in seinem zweiten Roman Venusberg findet. Dort heißt es am Ende: On one of the quays three drunken night-watchmen were dancing hand in hand around a fire. Vielleicht ist dieser Satz der Auslöser für A Dance to the Music of Time gewesen. Bilder werden im Text des Romans häufig vorkommen, ich habe ➱hier eine Seite, die eine schöne Einführung dazu gibt. Ein Claude Lorrain kommt auch in A Question of Upbringing vor, wir bewegen uns gesellschaftlich in einer Welt, wo Leute so etwas an der Wand haben.

Ein Roman in zwölf gar nicht mal so langen ➱Bänden, geschrieben in einem Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren (John Galsworthy hatte nur fünfzehn Jahre gebracht, um seine Forsyte Saga zu schreiben), die Frage ist, wo soll man anfangen zu lesen? Ich fing, wie gesagt mit The Military Philosophers an, die anderen Bände las ich - je nachdem, was mir meine englischen Buchhändler lieferten (oder was ich im Antiquariat fand) - über einen langen Zeitraum. Und doch fühlte ich mich auch nach monatelanger Abstinenz von der Welt Anthony Powells gleich wieder zu Hause, wenn ich einen neuen Band in die Finger bekam.

Einen, den ich im Antiquariat fand, habe ich sogar auf Deutsch gelesen. Das war Lady Molly’s Menagerie, 1961 bei Cotta erschienen, übersetzt von Katharina Focke, die noch Bundesministerin werden würde. Im Spiegel gab es dazu nur eine etwas gehässige Rezension. Einige ➱Romane (Eine Frage der Erziehung, Tendenz steigend und Die neuen Herren) erschienen in den achtziger Jahren beim Münchener Ehrenwirth Verlag. Der Übersetzer war Dr. Heinz Feldmann, der Powell mehrfach besucht hatte, bevor er sich an die Übersetzung wagte. Etwas zu optimistisch kündigte Feldmann im Nachwort die zügige Lieferung des gesamten Dutzends an. Es gab drei Bände, und das war's. Ich sollte noch erwähnen, dass in den sechziger Jahren schon die Deutsche Verlags Anstalt (bei der das Ganze Tanz zur Zeitmusik hieß) gescheitert war. Zur deutschen Rezeption von Powell lohnt es sich unbedingt, diesen schönen ➱Aufsatz von Michael Maar zu lesen.

A Dance to the Music of Time beschreibt den langsamen Untergang einer Gesellschaftsschicht, der Powell selbst angehörte. Romane, die den Untergang einer Oberklasse beschreiben, sind immer schön zu lesen, heißen ihre Autoren nun Powell, Proust oder Faulkner. Faulkner machte sich Pläne für seine Romane, die Struktur von A Fable schrieb er an die Wand seines kleinen Büros (seine Frau ließ das später überstreichen). Powell macht keine solchen Pläne, er hat alles im Kopf. Wenn er einen neuen Roman begann, las er alles noch einmal, was er bisher geschrieben hatte: I always used to reread the whole thing before starting a new volume. It was tortuously boring.

Als Cyril Connolly zu seinem siebzigsten Geburtstag einlädt (wie es sich für einen englischen Exzentriker gehört, war der Ort der Veranstaltung etwas ausgefallen, es war der Londoner Zoo), musste er sich Gedanken wegen der Sitzordnung machen. Über ➱John Betjeman heißt es, he doesn't like new faces, aber Anthony Powell konnte Connolly überall hinsetzen, jeder war grist to his mill. Er ist der Beobachter, er macht sich keine Notizen. Er funktioniert wahrscheinlich ein wenig so, wie die ersten Sätzen von Christopher Isherwoods Goodbye to BerlinI am a camera with its shutter open, quite passive, recording, not thinking. Recording the man shaving at the window opposite and the woman in the kimono washing her hair. Some day, all this will have to be developed, carefully printed, fixed.

Wenn Powell seinen Zyklus beendet, beginnt ein Literaturprofessor aus Oxford, der Powell in vielem ähnlich ist (vor allem stilistisch), einen Romanzyklus über seine Universität zu schreiben. Der Autor heißt John Innes Mackintosh Stewart. Er hat aber noch einen zweiten Namen, den er nur für etwas völlig Unprofessorales verwendet. Als Michael Innes schreibt er nämlich Krimis. Sie werden nicht überrascht sein, dass es in diesem Blog schon einen langen Post über ➱Michael Innes gibt. Sein Romanzyklus, der den Namen A Staircase in Surrey hat, besteht aus fünf Romanen: The Gaudy (1974), Young Patullo (1975), Memorial Service (1976), The Madonna of the Astrolabe (1977) und Full Term (1978). Ich erwähne das hier nur für den Fall, dass Sie schon alle Romane von Powell gelesen haben. Denn wie hatte Michael Maar am Ende seines Aufsatzes über Powell gesagt? Wahrscheinlich sollte ich das jetzt mal fett drucken: Und spätestens jetzt muß eine Warnung ausgesprochen werden: Wer diesen letzten Band zuschlägt, ist lange Zeit für andere Literatur verdorben.


Montag, 15. September 2014

Manfred Hausmann


Die Weser taugt offensichtlich nicht für ein nationales Epos. Wellgunde, Woglinde und Floßhilde schwimmen nicht in der Weser. Bestenfalls taugt der Fluss für kleine Geschichten wie die vom Riesen Hüklüt (der auch für den ➱Weyerberg verantwortlich ist) und der Bremer Düne. Wir haben natürlich Franz Dingelstedts Weserlied (Hier hab' ich so manches liebe Mal mit meiner Laute gesessen, hinunterblickend ins weite Tal mein selbst und der Welt vergessen), was eigentlich ziemlicher Kitsch ist. Aber mein Vater mochte es gerne, und so habe ich es sogar auf dem ➱Klavier gespielt. Na ja, ich habe es als einen Wink mit dem Zaunpfahl verstanden, dass da immer die Noten zum ➱Weserlied auf dem Klavier lagen.

Ein anderes Weserlied ist schon älter, es stammt aus dem frühen 14. Jahrhundert, es ist ein lateinisches Loblieb:

Dort sind Bäche, dort sind Bronnen,
Wasser kommt vom Berg geronnen
Zu der Herden reicher Zahl
In den waldumkränzten Auen.
Dort sind züchtig holde Frauen,
Und die Weser strömt ins Tal

Aber dieses Loblieb eines Mönches auf die Stadt Minden* ist doch eher ein locus amoenus als eine realistische topographische Beschreibung. Und auch in die große Literatur ist die Weser selten gewandert, mit Ausnahme von Anton Reiser von ➱Karl Philipp Moritz. Wir haben in Bremen Georg Drostes Ottjen Alldag, wir haben ➱Hermann Allmers, der bei jeder Nennung das Epitheton der Marschendichter bekommt. Aber wir haben keinen Mark Twain der Weser, nichts Vergleichbares mit Huckleberry Finn und Life on the Mississippi. Wir hätten da ja einige Schriftsteller, die unterbewertet sind wie Tami Oelfken, ➱Konrad Weichberger (der auch eine Textsammlung mit dem Titel Das Bremer Gastbett zusammengestellt hat), ➱Friedo Lampe und Rudolf Lorenzen, aber wir halten uns in Bremen lieber an ➱Marga Berck, Rudolf Alexander Schröder und Manfred Hausmann. 

Wenn wir keine Literatur haben, so haben wir doch einen Bremer Literaturpreis, der zum 75. Geburtstag des Bremer Geistesriesen Rudolf Alexander Schröder ins Leben gerufen wurde. Der brachte damals 5.000 Mark. Heute lobt das ärmste Land der Bundesrepublik mit 20.000 Euro die höchste Summe von allen deutschen Literaturpreisen aus. Bis auf den ersten Preisträger, Heinrich Schmidt-Barrien, haben die alle nichts mit Bremen zu tun. Bremen prämiert den jungen Thomas Bernhard, der am Anfang seiner Karriere vor dem existentiellen Aus steht. Fünf Minuten vor Beginn seiner Dankesrede weiß er noch nicht, was er sagen soll. Dann wird er um den Satz Mit der Kälte nimmt die Klarheit zu herum die kürzeste aller Dankesreden halten. Und ewig schlecht über Bremen reden. Dankbarkeit? Nicht bei Thomas Bernhard. Von dem Geld hat er sich als erstes in Wien bei Don Gil einen sauteuren Anzug gekauft.

Da hätte man lieber rückwirkend Heinrich Albert Oppermann den Preis verleihen sollen, für die schöne und dramatische Schilderung des Eisgangs auf der Weser bei ➱Hoya in seinem Roman Hundert Jahre. Meine Empfehlung an die Bremer Kommission wäre, den Preis in Otto Gildemeister Preis umzubenennen. Und nur zu verleihen, wenn der Preisträger das intellektuelle Niveau von ➱Otto Gildemeister erreicht. Damit könnte Bremen viel Geld sparen. Man macht sich heute in Bremen Gedanken, ob der ➱Preis wirklich noch den Namen von Rudolf Alexander Schröder (hier Schröder mit Ingeborg Bachmann, Preisträgerin 1957) tragen muss. Gut, das Kampflied der Nazis, in dem sich Zeilen wie Die Zeit ist reif und reif die Saat. Ihr deutschen Schnitter, auf zur Mahd: Der Führer hat gerufen finden, hat er schon 1914 geschrieben, aber der Mann, der auch den inneren Widerstand erfand, stand den ➱Nazis doch näher, als man damals glauben wollte.

Manfred Hausmann, der Vorzeigedichter aus Bremen, Berufschrist und Laienprediger wie Schröder (und auch ein Erfinder der inneren Emigration), sitzt auch in der Jury des Bremer Literaturpreises. Er war nicht in der Sitzung, als die Jury beschließt, Günter Grass den Preis für Die Blechtrommel zu verleihen, wendet sich dann aber umgehend an die Öffentlichkeit und kündigte seine Mitgliedschaft in der Jury auf. Der Bremer Senat nimmt das zum Anlass, ➱Günter Grass als Preisträger abzulehnen: Immer wieder tritt die Erzählung in jene verbotene Sphäre ein, wo sich Ekel und Sexualität, Tod und Blasphemie begegnen, hieß es in der Begründung der Ablehnung von Die Blechtrommel. Mit dem Argument kann man viele Bücher verbieten, Ekel und Sexualität, Tod und Blasphemie finden sich auch in der Bibel.

Ich habe Hausmann, den ich zweimal aus der Nähe erlebt habe (abgesehen von den Weihnachtspredigten in Farge, zu denen das Bremer Bürgertum gerne pilgerte), instinktiv nie gemocht. Ich bin auch nie damit glücklich gewesen, dass das Bürgertum der Adenauerzeit ihn und Rudolf Alexander Schröder zu den Lordsiegelbewahrern der Bremer Kultur erhoben hat. Und immer, wenn ich Zweifel habe, dass ich ungerecht gegenüber diesem Mann bin, greife ich zu einem unscheinbaren Pappbändchen. Es heißt Museum-Heute und ist 1948 bei Trüjen in Bremen erschienen (dem Verlag von Trude Wehe, die diese Schmonzette Vryheit do ik ju openbar: Roman aus dem alten Bremen schrieb, die ich mit Begeisterung gelesen habe - als ich sieben war), es war die erste Publikation der Kunsthalle nach dem Krieg. 

Darin ist eine Interpretation des Rembrandtbildes vom Apostel Paulus von Manfred Hausmann. Und wenn man die gelesen hat, dann ist einem richtig schlecht. Egal, ob man Kunstgeschichte studiert hat oder nicht. Das Bild ist ein Geschenk vom Pariser Bankier John Harjes aus dem Jahre 1911. Es ist kein Rembrandt, es ist von Jan Lievens. Aber zu der Zeit, als Günter Busch Direktor war, blieb diese falsche Zuschreibung unter dem Bild. Irgendwie hat Busch kein glückliches Händchen mit seinen ➱Rembrandts (lesen Sie ➱hier alles zu Günter Busch und der Kunsthalle Bremen).

So wie Hausmann verhindert, dass Günter Grass den Preis bekommt, so verhindert Rudolf Alexander Schröder, dass Paul Celan den Preis bekommt. Statt seiner wird Ernst Jünger geehrt. Wenn Sie mehr über diese Preisverleihung lesen wollen, dann klicken Sie ➱hier. Ein Roman über Bremen allerdings, noch dazu von einem Bremer geschrieben, läuft in den fünfziger Jahren völlig an den Bremern vorbei. Besonders natürlich an der Jury des Bremer Literaturpreises. Wahrscheinlich, weil sie den Roman als eine Art Netzbeschmutzung empfunden haben.

Es ist Rudolf Lorenzens Alles andere als ein Held, 1959 bei Ullstein erschienen. Sebastian Haffner war sich 1965 nicht sicher, ob 'Alles andere als ein Held' nicht der beste Roman irgendeines heute lebenden deutschschreibenden Autors ist, Petra Kipphoff fühlt sich in der Zeit an Thomas Mann erinnert, die internationale Presse feiert den Autor. 1961 erscheint in London eine englische Ausgabe, kurz darauf eine in den USA. Und in Bremen verkündet die Bremer Nachrichten ihren Ekel gegen die miserable, undiskutierbare Lebensschilderung eines Jammerkerls, der um sich die Namen bremischer Tradition versammelt, ohne dass je von hanseatischer Würde die Rede ist.

Allenthalben Ekel, die Sprache der Rezensenten klingt ein wenig wie aus einer anderen Zeit. Was in Bremen leider nicht so sehr verwundert. Wenn ein Drehbuchautor von Nazipropagandafilmen Chefredakteur des Weser Kurier wird und der leitende Kulturbeamte Bremens Dr. Eberhard Lutze heißt. Die größte Leistung dieses Kunsthistorikers war es, den Veit Stoß Altar in Krakau (da wo er überall die Verpolung und Verjudung zu beklagen hat) abzubauen und in den geplanten Staatsdom der Stadt der Reichsparteitage zu überführen. Der Spiegel holt 1968, als Lutze den Vertrag von Kurt Hübner nicht verlängern will, noch einmal die ganze Nazivergangenheit von Lutze heraus, aber das interessiert in Bremen nicht. Dieser Mann, der in seiner Entnazifizierungsakte als an sich schwacher Charakter, der sich der Macht anschließt, um Geltung zu bekommen beschrieben wurde, bestimmt zwanzig Jahre lang die offizielle Bremer Kultur. Alle Parteien mögen diesen Opportunisten. Ich möchte nicht wissen, was Manfred Hausmann über Alles andere als ein Held gedacht hat. Rudolf Lorenzen, der im letzten Jahr gestorben ist, hat ➱hier natürlich einen Post. Den hat er übrigens noch lesen können, es hat ihm gefallen.

Wilhelm Lehmann hat ein stilles Leben in Eckernförde (der Stadt seines Schlüsselromans Der Provinzlärm) gelebt. Wenn es überhaupt einen Vertreter der inneren Emigration in Deutschland gab, dann war er das. Auf keinen Fall Manfred Hausmann, der das immer von sich behauptete. Es ist erstaunlich, dass jemand, der sich immer wieder den Nazis angedient hat und während des Zweiten Weltkriegs für eine Vielzahl von Naziorganen geschrieben hat, sich plötzlich 1945 zum Zentrum der inneren Emigration erklärt. In der Olympia-Zeitung von 1936 hatte er noch über den schwarzen amerikanischen Olympiasieger im Hochsprung, den Neger Cornelius Cooper Johnson (der für Hausmann eine tierhafte, pantherhafte Vollkommenheit hatte) geschrieben:

Wissen und Ahnen, Leben aus dem Kopf und Leben aus dem Blut; es sind die rätselhaften Pole der Welt, über die die Menschheit schon so viel nachgegrübelt hat. Die Vollendung des Wissenden, der Allwissende, ist der Gott. Und die Vollendung des Ahnenden, das Instinktwesen, ist das Tier... Darum sind die Möglichkeiten der weißen Rasse, die hauptsächlich die Trägerin des Wissens ist, gar nicht abzusehen. Und darum haben die coloured men, entgegen gewisser pessimistischer Prophezeiungen, keine Chance auf dieser Welt. Klingt ein wenig wie Ernst Jünger. Gott gibt es nur für Weiße, nicht für schwarze Tiere. Nach dem Krieg wird Hausmann als erstes den Emigranten Thomas Mann mit einem offenen Brief im Bremer Weser-Kurier attackieren und Lügen über ihn verbreiten.

Dieser Absatz stand übrigens schon in dem Post ➱Signale, den ich zum 130. Geburtstag von Wilhelm Lehmann schrieb. Meine Aversion gegen Hausmann ist nicht ganz neu. Ich bin mit Manfred Hausmann aufgewachsen. Abel mit der Mundharmonika und Lampioon küßt Mädchen und kleine Birken (was ja ein hübscher Titel ist) gehörten zu meiner Jugendlektüre. Wahrscheinlich damals für alle in Bremen. Der Besitzer des besten Kieler Antiquariats, ➱Harald Eschenburg, hält offensichtlich nicht so viel von Hausmann, er zeichnet die Erstausgaben von Abel mit der Mundharmonika immer mit einem Euro aus. Kaufe ich immer, verschenke ich an Bremer mit dem Zusatz Erstausgabe. Vielleicht sollte ich das mal lassen.

Denn eigentlich kann ich den Mann ja nicht ausstehen, das ist wohl schon klar geworden. Meine Abneigung gegen ihn fing früh an. Wenn man mit den Eltern auf dem Sonntagsspaziergang in ➱Rönnebeck spazieren ging, musste man immer ganze leise sein, wenn man an seinem Haus vorbeikam, da wohnten zwei Dichter nebeneinander, Alma Rogge und Manfred Hausmann. Und die dichteten und dichteten, die darf man als Kind nicht durch Lärm stören.

Manfred Hausmann ist Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen. Hunger, Gas, Trommelfeuer, Regen, Vegetieren im Stollen, Schlaf, Schlaf, Schlaf, unglaubliche Roheit, einzigartige Kameradschaft, Waldlager, Tod, Wahnsinn. Er begriff vom Wesen und Sinn des Krieges so gut wie nichts. Ein lebensgieriger Junge von achtzehn Jahren. Aber im Gegensatz zu dem Worpsweder Maler Hans am Ende ist er aus dem Krieg zurückgekehrt. Danach hat er studiert und wurde mit einer Dissertation zur Kunstdichtung und Volksdichtung im deutschen Soldatenlied von 1914-18 promoviert. Danach wusste der Fabrikantensohn (sein Vater war Mitinhaber der Mikroskopfabrik Zeiss-Winkel in Göttingen) nicht so recht etwas mit sich anzufangen. Er heiratete, zog nach Worpswede und wurde ein gesellschaftlicher Aussteiger: Er legte die Arbeit bei der Zeitung nieder und landstreicherte im Überschwang der neuen Freiheit so lange durch Deutschland auf und nieder, bis er das Buch "Lampioon" fertig hatte. Seine Romane Lampioon küßt Mädchen und kleine BirkenSalut gen Himmel und Abel mit der Mundharmonika wurden riesige Erfolge.

Am Anfang der dreißiger Jahre ist er in einer Sinnkrise: Wenn ich sage, daß ich an nichts glaube, so bringe ich das nicht prahlerisch und selbstsicher vor, sondern eher verzweifelt und sehr leise. Ich bin nicht imstande, an irgend etwas zu glauben. […] Vielleicht glaube ich an meinen Unglauben, obgleich nicht einmal das sicher ist. Wenn ich einen Bleistift in der Hand habe und ein Blatt Papier vor mir, dann merke ich, daß ich doch nicht so recht an diesen meinen Unglauben glaube. Ich glaube an nichts, aber nicht an das Nichts. Danach wurde er Christ. Durch Karl Barth kam ich zu Kierkegaard, zu Dostojewski, zur Bibel und noch einmal und immer wieder zur Bibel. Sie hat nicht ihresgleichen auf Erden, weder als Dichtung – dem größten Teil der Menschheit wird diese atemraubende Dichtung freilich vorenthalten -, weder als Dichtung noch als Kunde vom Wesen des Menschen, noch als Offenbarmachung des dreieinigen Gottes. Und dabei bin ich geblieben, denn hier ist gut sein. Das zur Schau getragene, geradezu zelebrierte, Christentum von Hausmann hat etwas von billiger Bigotterie an sich.

Wenn ich nach etwas suche, das meinem Leben im Getriebe der Welt einen Sinn geben soll, dann muß es eine Macht sein, die über dieser Welt steht. Was kann dem Leben einen Sinn geben? Woran glaube ich also? Ich glaube an die Freiheit. Frei, im eigentlichen Sinne des Wortes, ist nur Gott.
Aber wunderbarerweise kann der Mensch an der Freiheit Gottes teilnehmen, weil Gott sich in seiner freien Gnade dem Menschen zugewandt hat. Das Teilhaben geschieht durch den Glauben und durch den Gehorsam. Wenn der Mensch nicht mehr seine eigene Freiheit begehrt, sondern im gläubigen Gehorsam ein Knecht Gottes wird, gewinnt er die Freiheit. ➱Günther Schwarberg, der zusammen mit Hausmanns Sohn Volontär beim Bremer Weser-Kurier war (wo Hausmann Feuilletonchef war), überschrieb einen Artikel in der Zeit, in dem er Hausmann als Renommiergaul messianischer Laienverkündigung bezeichnet hatte, mit Donnernde Platitüden. Und ➱Henner Reitmeier kommentiert die erhabenen Sätze von Hausmann mit: Dem fügte er nun in neuer Eigenschaft als ordinierter Ältestenprediger der Evangelischen Kirche und treuer Knecht Gottes noch Unmengen an erbaulichen Schriften hinzu, in denen wohl vor allem die Kunst der Scheinheiligkeit studiert werden kann. 

An theologischen Spinnern haben wir in Bremen ja keinen Mangel. Der Bischoff von Hitlers Gnaden ➱Heinz Weidemann (Gauleiter der Deutschen Christen), der in den dreißiger Jahren den Dom so hübsch dekorieren ließ und eine Bremer Kirche in Horst Wessel Kirche umtaufen wollte, war zweifellos ein Fall für die Psychiatrie. Und auch der Pastor ➱Georg Huntemann, der sich nach dem Gottesdienst an der Kirchentür den Ring an der Hand küssen ließ, war nicht so ganz schußecht. Ich möchte jetzt nicht den Eindruck erwecken, dass die Hirten der Bremer Kirchengemeinden nur aus Spinnern bestanden. Wir hatten in Bremen auch einmal einen Emil Felden oder einen Domprediger wie ➱Günter Abramzik.

Nach Hausmanns Tod schrieb der SpiegelDas Jahr 1933 brachte die Wende, nicht nur politisch, für den Mann, der bis dahin die SPD im Worpsweder Gemeinderat vertreten hatte: Unter dem prägenden Einfluß der Schriften Karl Barths und Soren Kierkegaards wurde Manfred Hausmann zum bekennenden Protestanten. Was immer er fortan schrieb - während des Dritten Reiches zurückhaltend, aber bestimmt, nach dem Krieg in einer blühenden Vielfalt von Werken -, war auch Verkündigung: Durch Romane, Novellen, Gedichte, Fest-Spiele ist er ein weithin geschätzter norddeutsch-evangelischer Gemeinde-Dichter geworden. Schließlich, als fast Siebzigjähriger, wurde er in seinem Wohnort Bremen-Rönnebeck 'Ältestenprediger' mit allen Befugnissen eines Pastors, ein Kanzelredner und Hausvater, der Aufrichtigkeit und Liebe verbreitete, eine bremische Institution. Am vergangenen Mittwoch ist Manfred Hausmann in Bremen gestorben. 

Zweifel sind angebracht an dieser Darstellung, in der sich kein Wort über seine Schmutzattacke auf ➱Thomas Mann findet, nichts über seine Verbundenheit zu den Nazis. Wer sich so ausdrückte, wie Thomas Mann, der bewies damit, daß er nichts mehr von den eigentlichen, von den neuen noch nie dagewesenen Bedrängnissen wußte, unter denen der aufrechte Deutsche lebte, schreibt er 1947 über Thomas Mann. Mit dem aufrechten Deutschen meint er sich selbst. Im Nachruf des Spiegel steht auch nichts darüber, dass der aufrechte Deutsche 1939 sofort wieder freiwillig beim Heer ist (obwohl er eigentlich viel zu alt dafür ist). Auf einen Angriff von Wolfdietrich Schnurre (der ihn als Reservefriedensleutnant, der sich im Krieg reklamieren ließ bezeichnete) hat Hausmann behauptet, er sei niemals Leutnant in der Wehrmacht gewesen. Dies hier auf dem Photo ist also nicht der Leutnant Manfred Hausmann, das ist Dr Manfred Hausmann, Zahlmeister bei der 22. Infanterie Division in Bremen. Zahlmeister und Leutnant haben in der Wehrmacht ja unglücklicherweise den gleichen Rang und die gleiche Uniform. Ja: Die Füße gehn im gleichen Schritt, es strafft sich jede Sehne. Der Leutnant pfeift, wir pfeifen mit, wir pfeifen durch die Zähne. Der promovierte Zahlmeister ist nebenbei noch schriftstellerisch tätig: Wenn der deutsche Soldat heute der erste Soldat der Welt ist, so nicht zuletzt dank dem Schrifttum. (…) Im Deutschland von 1940 gehört das Buch zum Schwert, das Schwert zum Buch, gehört der Dichter zum Soldaten und der Soldat zum Dichter. Und an anderer Stelle schreibt der begeisterte Segelflieger: So gesehen kann der Krieg sich geradezu als die Vollendung dessen darstellen, was das tiefste Geheimnis des Sports ausmacht […] Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Sport und Krieg – beide als menschliche Haltung betrachtet – besteht jedenfalls nicht. Der Krieg ist lediglich eine Steigerung des sportlichen, des kämpferischen Lebens ins Äußerste.

Voller Bewunderung berichtet der Leutnant (Entschuldigung: Zahlmeister) Hausmann 1940 in Goebbels' Zeitung Das Reich über den Auftritt des Worpsweder Schriftstellers Otto Tügel bei einem Großdeutschen Dichtertreffen. Der dort (in der Uniform eines Hauptmanns, was Hausmann besonders gefiel) sagte: Denn alle Ordnungen, von denen wir heute sprechen können, liegen beschlossen in der Wirklichkeit „Reich", dessen gehorsame Kinder und gestaltende Künder wir sein wollen. Zur gleichen Zeit waren die Bilder seines Bruders, des Moor-Poeten und Malers Tetjus Tügel als entartete Kunst aus den Museen entfernt worden.

Für meinen Opa war ➱Worpswede ein Ort, wo die Roten wohnten. Er wusste es wohl besser, genügend viele seiner Stahlhelmkameraden wohnten da auch. Und die Geschichte mit dem Feldwebel ➱Fahlbusch, die kannte er natürlich auch. Worpswede war einmal eine Insel der Illusion für Sozialrevolutionäre wie ➱Heinrich Vogeler, aber Worpswede war auch ein Ort, in dem viele ➱Nazis wohnten. Spuren davon kann man noch in Moritz Rinkes Roman Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel finden. Die Ausstellung Mythos und Moderne. 125 Jahre Künstlerkolonie Worpswede, die gerade zu Ende gegangen ist, konnte diesen Aspekt natürlich nicht auslassen. Dass der überzeugte Nazi Fritz Mackensen (Major der Propaganda-Ersatzabteilung) noch im Mai 1945 Worpswede mit dem Maschinengewehr verteidigen wollte und die einrückenden Engländer mit dem Hitlergruß willkommen hieß (woraufhin die Limeys ihm als erstes die Bilder in seiner Villa von der Wand geschossen haben), habe ich schon in dem Post über ➱Richard Oelze erwähnt.

1970 hat Manfred Hausmann den Konrad Adenauer Preis der Deutschland Stiftung angenommen, erst nach einigem Bedenken, weil der berüchtigte Ex-Nazi Kurt Ziesel im Vorstand der Deutschland Stiftung saß (wenn Sie wissen wollen, was Heinrich Böll von Ziesel hielt, dann klicken Sie ➱hier). Ziesel hatte 1935 in Wille und Macht: Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend über das Buch Hausmanns, Lampioon küßt Mädchen und kleine Birken, gesagt: Dieser Roman gehört wohl mit zum schmutzigsten und gemeinsten, was an erotisch-pornographischer Literatur erschienen ist und von der gesamten Judenpresse einem armen deutschen Volk als große deutsche Dichtung aufgeschwätzt wurde. Ja, und nun kloppen sich Ziesel und Hausmann. Ziesel wird später noch dazu sagen: Mein Angriff gegen Manfred Hausmann ... erfolgte deshalb, weil Herr Hausmann 1935 die größten Anstrengungen unternahm, durch Lesungen beim Arbeitsdienst und bei der Hitlerjugend den Anschluß an das Dritte Reich zu finden. Gegen mich mobilisierte Herr Hausmann damals deswegen sogar die Reichsschrifttumskammer. Das ist jetzt die Illustration des englischen Idioms the pot calling the kettle black. Manfred Hausmann hat den Preis natürlich nicht zurückgegeben.

Nach dem Zusammenbruch Hitler-Deutschlands 1945 vollzieht Manfred Hausmann erstaunlich schnell und unangefochten einen Wandel vom Nazi-Mitläufer zum Demokratie-Apostel, heißt es auf einer Seite von Radio Bremen. Sie können ➱dort auch den Dichter in einem Interview hören. Er ist eine wandlungsfähige Person. Das Wort Person kommt von personare, es bezeichnet die Maske durch die der Schauspieler spricht. Manfred Hausmann kann Toyotama Tsuno sein, deren japanische ➱Gedichte dann von Manfred Hausmann ins Deutsche übersetzt werden. Der Mann, der sich vor 1945 gerne als Dichter unter dem Stahlhelm bezeichnete und Wandervogellieder wie Es tropft von Helm und Säbel, die Erde ruht so bang. Wir traben durch den Nebel mit Pauken und Gesang verzapfte, schreibt nach 1945 Gedichte über eine Bambus Bar in Bremen:

Nirgends ist es so gemütlich wie
in der Bambus Bar zu Bremen.
Alle Damen haben nackte Knie
und ein zärtliches Benehmen.
Mit den sanften Sachen fängt es an,
weil man erst in Stimmung kommen muß.
Eine scharfe Mischung folgt sodann
und das große Feuerwerk zum Schluß.


Das ist die dritte Strophe, ich erspare uns die anderen. Das ist nun meilenweit entfernt von seinen ersten Gedicht nach 1945, wo es heißt:

Soll das Geheimnis in den Worten singen,
muss dein Gedicht den Widersinn vollbringen,
das Urbeständige im Wandel gestalten,
das tief Inwendige
im Außen zu entfalten,
das hold Lebendige im Toten zu erhalten.

Wo bleibt das Positive? Die Frage an Dr Kästner ist immer wieder aktuell. Erstaunlicherweise habe ich da einen Moment im Leben von Manfred Hausmann, wo er meinen ungeteilten Respekt genießt. Er ist nämlich am 18. Oktober 1934 bei der Beerdigung von seinem Verleger Samuel Fischer auf dem jüdischen Friedhof in ➱Weißensee gekommen. Die Reichskulturkammer schickte damals keinen Vertreter, der Börsenverein auch nicht. Der Schriftsteller Otto Flake (der ➱hier einen Post hat), der sicherlich ein größerer Schriftsteller ist als Hausmann, war auch da. Den blonden Hünen hätten die Nazis gerne auf ihrer Seite gehabt, aber er hat sich ihnen konsequent verweigert. Er hatte zwar 1933 wie 87 andere deutsche Schriftsteller eine Ergebenheitsadresse an Adolf Hitler unterschrieben, aber er glaubte, dass das er damit seine Ehefrau, die als Halbjüdin galt, schützen könnte. Und außerdem hatte ihn Samuel Fischer darum gebeten. Deshalb ist sein Name wie auch der von Oskar Loerke (der auch bei Fischers Beerdigung war) und ➱Hermann Kasack auf dieser Liste zu finden.

Für Manfred Hausmann Freunde habe ich noch etwas zum Schluss: eine Strophe von Weg in die Dämmerung aus dem Jahre 1938:

Wer des Lichts begehrt,
muss ins Dunkel gehn.
was das Grauen mehrt,
lässt das Heil ersteh´n!
Wo kein Sinn mehr misst,
waltet erst der Sinn!
wo kein Weg mehr ist,
ist des Wegs Beginn!

Und hier wird es von Heinz Rühmann gelesen. Mehr geht nicht.

Da Leser nach dem Original des eingangs zitierten lateinischen Gedichts gefragt haben, gebe ich gerne das Original:

 Ibi rivi, ibi fontes, 
 Ibi aquae nec non montes, 
 Et brutorum pascuae; 
 Inibi videntur frontes 
 Dominarum et insontes, 
 Ibi torrens Wiserae.