Am 25. April ist Bertrand Tavernier siebzig geworden. Eigentlich hätte ich an dem Tag über ihn schreiben sollen. Aber ich konnte es nicht auslassen über Porsche zu schreiben, weil die Firma achtzig Jahre alt wurde, und ich gerne dies wunderbare kleine Porsche ➱Gedicht von Charles Bukowski abdrucken wollte. So kommen die Glückwünsche ein bisschen spät, und vielleicht hätte ich auch gar nicht über ihn geschrieben, wenn ich mich nicht über den mickrigen kleinen 120-Zeilen Artikel von Fritz Göttler in der Süddeutschen Zeitung geärgert hätte. Dr. Göttler ist der Filmkritiker der Zeitung und unterrichtet auch noch an der Hochschule für Film und Fernsehen in München Studenten darin, wie man Filmkritiken schreibt. Dazu sage ich jetzt lieber nix.
Aber von der Süddeutschen hätte ich ein doch bisschen mehr erwartet. Bertrand Tavernier hat natürlich keine Proseminare über das Schreiben von Filmkritiken bei Dr. Göttler besucht, der hat seine Karriere (wie François Truffaut) gleich als Filmkritiker begonnen. Hat für die Cahiers du Cinéma geschrieben, aber auch für die Konkurrenz von Positif. Als er seinen ersten Film, Der Uhrmacher von St. Paul, drehte, war er 33 Jahre alt. Aber da war er schon ein Jahrzehnt im Filmgeschäft. Er war Regieassistent bei Jean-Pierre Melville gewesen. Dem hat er auch Volker Schlöndorff vorgestellt, mit dem er in Paris zusammen auf der Schule war. Ich stelle es mir ziemlich schwierig vor, bei einem Exzentriker wie Jean-Pierre Melville Regieassistent zu sein. Die beiden haben sich auch bald getrennt. Über diese Zeit hat er vor Jahren in einem Interview in Australien gesagt: Unfortunately I was a very bad assistant director. I was awful. [Why do you say that?] Because I was bad, there is no question about that. Melville terrified me. He behaved like a tyrant on the set and I was miserable during those weeks. In the end he told me, you will never succeed as an assistant director. I think he was right but he presented me to the film producer and suggested I become a press agent for the company that produced Melville's films, which I did.
Bertrand Tavernier kommt aus dem bürgerlichen Milieu von Lyon, und seine Heimatstadt kommt in seinen Filmen immer wieder vor. Taverniers Vater René ist Dichter gewesen, ist irgendwann zum Präsidenten des französischen PEN Clubs aufgestiegen und hat 1987 den Grand Prix de poésie de l’Académie française pour l’ensemble de son œuvre bekommen. Er hatte es als Redakteur einen kleinen Literaturzeitschrift während der Okkupation gewagt, Texte von Louis Aragon zu drucken, und die lebenslange Freundschaft von René Tavernier zu Aragon hat auch Taverniers Sohn den Weg in die Presse geebnet.
Die Inhaltsangabe bei arte ist etwas irreführend: Sommer 1912: Seit dem Tod seiner Frau lebt der talent- und erfolglose Maler Ladmiral mit seiner Haushälterin Mercédès allein. Der traditionelle Sonntag im Kreise der Familie wird durch die Ankunft seiner fröhlichen, tatkräftigen Tochter Irène durcheinandergebracht. Bei Irènes Abreise wird dem Vater klar, dass seine Tochter genau das geworden ist, was er gern geworden wäre ... Haben wir den gleichen Film gesehen?
Der alte Maler Ladmiral ist nicht talentlos und nicht erfolglos. Er trägt die kleine Rosette der Légion d’honneur im Knopfloch und hat es zu einem großen Landhaus draußen vor den Toren von Paris gebracht (ein Haus in der Stadt besitzt er auch noch). Die Vorlage für den Film war der Roman Monsieur Ladmiral Va Bientot Mourir von Pierre Bost. Dass Monsieur Ladmiral bald sterben wird, wie es im Romantitel heißt, macht der Film über den schönen Spätsommertag durch eine Vielzahl von Andeutungen deutlich. Es geschieht nicht viel in diesem Film, Tavernier lässt sich viel Zeit.
Er greift auch zu dem altertümlichen Mittel eines Erzählers im off zurück, was die modische Filmtheorie extradiegetische Narration nennt. Ich hasse das Vokabular, insbesonders die extradiegetische Narration. Ich habe mal eine schreckliche Vorlesung eines jungen Filmtheoretikers absitzen müssen, und mein Freund Götz hat mich jedes Mal, wenn der da vorne extradiegetische Narration sagte, mit dem Kugelschreiber in den Arms gepiekt. Ich hatte da hinterher einen blauen Fleck.
Ganz ohne theoretisches Vokabular war eine Tagung zu Truffaut vor einigen Jahrzehnten, bei der der Referent den Teilnehmern im Kommunalen Kino von Freitagnachmittag bis Sonntagvormittag den ganzen Truffaut präsentierte. Ich habe den Mann gehasst (und deshalb habe ich auch leider seinen Namen vergessen), weil er keine Diskussion zuließ und den ganzen Stoff mit hunderten von Filmbeispielen in zwei Tagen durchpowerte. Aber er war, das muss der Neid ihm lassen, ein wirklicher Fachmann. Und er liebte das Kino. So wie Truffaut es liebte, so wie Tavernier es liebt. Diese jungen Filmtheoretiker lieben das Kino nicht, die lieben nur ihr verquastes Vokabular.
Monsieur Ladmiral hat es nicht gewagt, modern zu malen wie seine Kollegen, er steckt noch tief im 19. Jahrhundert. Aber er bewundert seine Kollegen, wie er seiner Tochter bei einem kleinen Ausflug gesteht. Irgendwann sagt er zu seinem Sohn, er hätte ihn einmal in Lila malen sollen, eigentlich sei er ein lila Sohn. Doch wie van Gogh oder Cézanne zu malen, das hat er nie gewagt. Am Ende des Filmes, wenn Kinder und Enkel wieder abgereist sind, nimmt Monsieur Ladmiral das Bild mit der Zimmerecke seines Ateliers (immer wieder von ihm gemalt) von der Staffelei und stellt eine neue Leinwand auf die Staffelei. Dann dreht er nach kurzem Nachdenken die Staffelei um, setzt sich auf die Chaiselongue, die bisher nur ein Objekt für ein Bild war und sein Blick (und die Kamera) geht durch die Terrassentür auf den Garten draußen. Er wird nicht mehr das Interieur malen, er wird etwas ganz Neues wagen. Vielleicht wird er doch noch als Maler unsterblich.
Ich habe das Bild von Monet hier plaziert (und im nächsten Absatz noch eins), weil der ganze Film aussieht, als sei Claude Monet der Kameramann gewesen. Auf die Nähe des Filmes zu Monet (und vielleicht auch zu Renoir) haben viele Kritiker 1984 hingewiesen. Die beste Besprechung, die ich damals las, war von David Denby in dem Magazin New York (von dem Magazin hatte ich mal mehrere Jahrgänge geschenkt bekommen, da wußte ich genau, was in der amerikanischen Kultur damals so lief). Wenn die Leute bei arte diese schöne ➱Rezension gelesen hätten, hätten sie nicht solch blöden Text in die Welt gesetzt.
Das Drehbuch von Taverniers erstem Film war von Pierre Bost, dem gleichen Pierre Bost, den der junge Truffaut in Une Certain Tendance du Cinema Français in den Cahiers du Cinéma (Januar 1954) frontal angegriffen hatte. Tavernier holt ihn wieder in allen Ehren in den französischen Film zurück. Und er hat in einem Interview mit Michel Ciment über Bost und seinen Roman Monsieur Ladmiral Va Bientot Mourir gesagt:
He was an extraordinarily humble man, but I think the book was very autobiographical. He saw himself as a novelist and playwright, who despite several successes — plays produced by Jouvet, and discovering Queneau, Giono, Marcel Aymé — was not really successful overall. Out of a certain puritanical modesty, he chooses to depict himself and his appearance in a comic light… I feel he saw himself as having missed out on a movement. I don’t know if he would have been capable of joining if he tried. Und so ist dieser elegische Film auch ein Film über Pierre Bost und das französische Kino vor der Nouvelle Vague. Er verhilft ihm zu einem späten Ruhm, wie vielleicht das neue Bild, das Monsieur Ladmiral malen wird, ihm einen späten Ruhm bringen wird.
Noch einmal Monet. Manches von dem Bild findet sich auch in Taverniers Film. Es ist bei ihm eine Idylle, die ein wenig täuscht. In den deutschen TV-Programmzeitschriften wird in der Vorschau ja (ähnlich wie bei arte) alles auf Oberflächliches reduziert: Frühstück im Grünen, der Wirbelwind von Tochter bringt neues Leben in die Bude etc.. Ja, dann ist ein Satz wie russische Aristokratie diskutiert im Garten auch ein adäquates Resümee von Tschechows Kirschgarten. Taverniers Filme sind deceptively user friendly (diesen schönen Ausdruck verdanke ich einem Artikel in der Online Filmzeitschrift ➱Senses of Cinema), aber sie haben mindestens noch eine zweite, wenn nicht eine dritte Ebene. Vieles in dem Film erinnert an Proust, in dieser Phase seines Werkes wäre Tavernier der ideale Regisseur für eine Proust Verfilmung gewesen. Der größte Teil der Filmmusik ist von Gabriel Fauré, einem Komponisten, den Proust sehr geschätzt hat, und von dem auch diese berühmte petite phrase der Sonate des fiktiven Komponisten Vinteuil in Un amour de Swann sein könnte.
Wann wirst Du aufhören, soviel vom Leben zu verlangen? fragt Monsieur Ladmiral seine Tochter Irène (wunderbar gespielt von Sabine Azéma), die ihn mit ihrem neuen Automobil zu einem Gartenlokal gefahren hat. Aber er weiß in diesem Augenblick auch, dass er wie seine Tochter hätte leben sollen. Dass er mehr vom Leben hätte verlangen sollen, er hätte nicht bei der coin d’atelier stehenbleiben sollen.
Die elegische Melancholie, die die Filme von 1984 bis 1990 auszeichnet, ist typisch für Tavernier in dieser Phase, im nächsten Jahrzehnt wird er etwas ganz anderes machen. Doch wenn er sich auch dem sozialkritischen Film zuwendet, zum Kostümfilm wird er immer wieder einmal zurückkehren, sei es mit La fille d'Artagnan oder gerade mit La princesse de Montpensier (2010). Tavernier scheint sich auf dem Terrain der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (und nach dem Krieg, wenn man Das Leben und nichts anderes einbezieht) wie selbstverständlich zu bewegen. Sein Film hat nichts von der artifiziellen Kälte der Merchant Ivory Produktionen, verdankt aber eine Menge ➱Joseph Losey. Einem Regisseur, dessen wortgewaltigster Fürsprecher Tavernier in seiner Zeit als Filmkritiker war. Man kann Loseys The Go-Between durchaus als eine Vorlage für Un dimanche à la campagne sehen.
Der nahende Tod ist das gemeinsame Thema von Ein Sonntag auf dem Lande, Um Mitternacht und Daddy Nostalgie. Tavernier hat einmal gesagt, dass ihn seit den Kindertagen eine tiefe Traurigkeit erfüllt habe, weil seine Eltern sich nicht gut verstanden haben. Wie der Filmkritiker der Zeit schrieb, hat er es bisher noch in allen seinen Filmen geschafft, diese Innenräume seiner Kindheit zu beschwören — mit hohen Decken, halbgeöffneten Fensterläden und einer warmen, undeutlichen Ausleuchtung. Aber das mit dieser tiefen Traurigkeit wundert uns natürlich überhaupt nicht, wenn wir lesen: Somewhere in you, there is a propensity for introversion, quietness and even a kind of isolation, whether they stem from a natural taste or from force of habit. However, beware... you are more secretive and more enigmatic than you are solitary. The reason is because a more or less important part of you... is hidden and inaccessible to others. Das, so wahr es ist, stammt nun nicht von einem Filmkritiker, sondern aus dem ➱Internet-Horoskop von Bertrand Tavernier. Und da soll mir noch mal irgend jemand sagen, dass Astrologie keine Wissenschaft ist.
Der Film Un dimanche à la campagne ist hier zu sehen.
Habe den Film mit meiner Frau auf arte gesehen. Meine Frau konnte mit dem ruhigen ereignisarmen Stoff nichts anfangen, sie blieb ratlos zurück. Genau wie sie auch bei Filmen von Eric Rohmer ratlos bleibt. Sie wies mich dann auch auf zwei Fehler im Film hin. Einmal verschwindet eine Rose kurz aus dem Ausschnitt, die die Tochter zuvor gepflückt hatte. Dann fährt der Wagen kurz vor Schluss an einer Maisplantage entlang ... Gab es damals in Frankreich Maisplantagen? Dennoch: Der Film hatte eine besondere Qualität, eine Stimmung, die deutsche Regisseure nie hinbekommen würden. -- Bei der Gelegenheit: Habe gerade "Menschen am Sonntag" zweimal auf einer Leinwand gesehen. Ich befürchte, deutsche Regisseure haben, von drei, vier Ausnahmen abgesehen, nie wieder einen so guten Film gedreht.
AntwortenLöschen"Menschen am Sonntag" gab es in diesem Blog am 10.8.2010, ich stimme Ihnen in Ihrer Bewertung voll zu. Über Eric Rohmer habe ich auch schon mal geschrieben (12.1.2010). Mit dem konnte ich zuerst auch nichts anfangen, aber man muss seine Filme mehrfach sehen. Dann wächst man in diese Welt hinein. Noch viel leichter bei "Ein Sonntag auf dem Lande", da ist man eigentlich beim zweiten Mal schon zu Hause. Als ob man "Sommer in Lesmona" liest und an die Villenwelt von St. Magnus denkt.
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