Einmal standen wir drei Stunden in Magdeburg auf dem Bahnhof. Wir durften aus dem Zug aussteigen, aber den Bahnsteig nicht verlassen. Die Russen hatten den Zug der Reichsbahn angehalten, es war ein kleinerer diplomatischer Zwischenfall, weil auch amerikanische Soldaten im Zug saßen. Dass in Marienborn unser ganzer Bus auseinandergenommen wird, das war Alltagsroutine. Es war vor sechzig Jahren nicht so leicht, nach Berlin zu kommen. Man hat das heute alles hinter sich gelassen, was es da an Nickeligkeiten und Schikanen an der Grenze gab, aber ganz vergessen kann man es nicht. Ich nutzte damals jede Möglichkeit, um in die Stadt zu kommen, die einmal eine Weltstadt gewesen war. Diese einwöchigen Berlinreisen in den fünfziger und sechziger Jahren waren staatlich gefördert, man zahlte für eine Woche Berlin fünfzig Mark. Man wollte die Jugend an die geteilte Stadt binden, die nur noch durch Subventionen am Leben erhalten wurde.
Es gab Klassenfahrten für Schulen, und Jugendgruppen jeder Couleur machten Fahrten nach Berlin. Man bekam für eine Berlinfahrt immer eine Woche schulfrei. Als ich begriffen hatte, wie das System funktionierte, meldete ich mich bei den unterschiedlichsten Gruppen an. Einmal sogar bei den Roten Falken. Auch mit unserer Malgruppe aus dem Jugendheim waren wir in Berlin. Die Lehrer haben mich damals schon etwas scheel angeguckt. Durften aber nichts sagen, war ja alles zu einem staatsbürgerlichen Zweck. Die Unterbringung erfolgte in Jugendherbergen, in der Gardeschützenkaserne in Lichterfelde (wo heute der BND sitzt) oder in den Umkleidekabinen des Schwimmstadions im Olympiastadion. Da musste man rechtzeitig zurück sein, sonst war das Olympiastadion zu. Wie die blonde Traute mit ihrem engen Rock um Mitternacht elegant über das Tor des Stadions geklettert ist, das vergesse ich nie.
Ein staatsbürgerlicher Vortrag im Schöneberger Rathaus gehört zum Pflichtprogramm. Der wird immer von dem demselben gelangweilten Referenten gehalten. Er rauchte, während er redete, aber die Asche fällt nie von seiner Zigarette. Niemand hört auf seinen Vortrag (nach dem ersten Berlin Besuch kennt den jeder), alle beobachten das Anwachsen der Asche. Die Stadt Berlin hat aber auch an die Zuhörer gedacht, auf den kleinen Tischen liegen Zigarettenschachteln zur Selbstbedienung aus. Kristallaschenbecher gibt es auch. Dann war da noch die obligatorische Stadtrundfahrt und der Besuch der Gedenkstätte Plötzensee, den russischen Panzer im Tiergarten und das sowjetische Ehrenmal in Treptow musste man natürlich sehen. Die gerade gebaute Kongresshalle, die schwangere Auster genannt wurde, auch. Das Programm wechselte mit dem Veranstalter, der Mann mit der Zigarette und Plötzensee waren aber immer im Programm.
Seit 1959 trommelte Axel Springer Macht das Tor auf!, aber das Tor war ja noch offen. Man konnte damals unter dem Brandenburger Tor hinduchgehen, so wie hier Chris Barbers Bus das Tor passiert. Oder wie Horst Buchholtz mit seinem Motorrad in dem Billy Wilder Film Eins, Zwei, Drei. Es gab zwei Berlins, aber es gab noch keine Mauer. Die wurde allerdings gebaut, während Billy Wilder seinen Film drehte, das Brandenburger Tor mussten sie jetzt in Geiselgasteig nachbauen. Es wurde immer schwieriger in den Osten Berlins zu gelangen. Und die dreitausend DDR Bürger, die Chris Barber 1959 im Westen in der Deutschlandhalle gehört hatten, konnten 1961 den Osten nicht mehr verlassen.
Der Bahnhof Friedrichsstraße wurde zu einer Art Festung umgebaut, eine Ausreise mit der S-Bahn wurde für die Bürger Ost-Berlins unmöglich. Die S-Bahn fährt zwar immer noch rund um Berlin, hält aber im Osten nur noch in der Friedrichstraße. Alle anderen Bahnhöfe sind zu Geister-Bahnhöfen geworden. Und auch die Einreise der Bürger der BRD (ein Kürzel, das damals nur von der DDR verwendet wurde) wurde schwieriger, endlose Passkontrollen. Wenig später standen an dem Checkpoint C, der im Nato Alphabet Charlie heißt, Panzer. Auf beiden Seiten.
Aber Ost-Berlin musste immer wieder sein. Wegen der Museumsinsel. Wegen dem Löwentor und dem
Pergamonaltar. Und der Nationalgalerie, da war ich beinahe zuhause. Vor sechzig Jahren war ich mit meiner Freundin Traute, die leider viel zu früh verstorben ist, eine Woche in Berlin. Wir bewegten uns von Museum zu Museum. Wir hatten noch kein Abitur, aber ihr war klar, dass sie Kunst studieren würde. Mir war klar, dass ich
Kunstgeschichte studieren würde. Und an diesem schönen Spätsommertag, als wir auf der Museumsinsel landeten, konnte ich es wieder einmal nicht lassen, den Mini-Kunsthistoriker herauszulassen und gab vor jedem Bild meine Kommentare ab.
Als wir bei
Franz Krüger und seinem Bild von der Parade auf dem Opernplatz angekommen waren, gesellte sich eine vierköpfige Familie aus Sachsen zu uns, die irgendwie den Eindruck hatten, dies sei eine offizielle Museumsführung. Bei der Nennung von
Pferde-Krüger nickten sie schon alle fachmännisch mit den Köpfen, und als ich dann noch hinzufügte, dass Krüger bei einem Landschaftsmaler namens Kolbe gelernt hatte, den man den Eichen-Kolbe nannte (weil er immer so schöne Eichen in seine Bilder malte), waren sie von mir begeistert. Pferde-Krüger und Eichen-Kolbe, das kann man sich leicht merken. Und dann zur Krönung noch die Geschichte, dass Krüger am Anfang seiner Karriere Kohlezeichnungen von Pferden und Stallburschen gemacht hat,
für fünf Groschen das Bild. Die Geschichte stimmt wahrscheinlich nicht, kommt aber immer gut an. Am Ende des Nachmittags war die Gruppe, die wir von Saal zu Saal mitschleppten auf etwas über zwanzig Leute angewachsen. Traute hatte die ganze Zeit über Schwierigkeiten, nicht vor Lachen loszuprusten. Ein schwedisches Diplomatenehepaar mit einem verzogenen Gör gab mir zum Schluss sein ganzes DDR Blechgeld. Sie glaubten wohl, einem jungen DDR Bürger damit einen großen Gefallen zu tun.
Mein Berlin 1961 das waren die Museumsinsel und die Gemäldegalerie in
Dahlem in der Lansstraße, alles, was
Wilhelm von Bode damals zusammengekauft hatte. Manche Bilder muss ich immer wieder sehen, manche Bilder habe ich schon so häufig gesehen, dass ich das Gefühl habe, sie gehörten mir. Also zum Beispiel das Charlottenburger Schloß, da bin ich immer nur rein, um mir das Portrait von
Harry Graf Kessler anzusehen. Und den
Mönch am Meer von
Caspar David Friedrich im Vorbeigehen. Ich weiß, dass das schon Snobismus ist. Und neben der Kunst war mein Berlin das Kino. Oder genauer die vielen Kinos, wie hier der Zoo Palast, wo man Filme sehen konnte, die es bei uns in der Provinz nicht gab. Obgleich sich unser
Schülerfilmclub schon bemühte, wichtige Filme zu zeigen.
Als ich in dem Wikipedia Datenblatt für den 30. Mai las, dass
Walter Felsenstein, Gründer, Intendant und Chefregissuer der Komischen Oper Berlin (Bild), am 30. Mai 1901 geboren wurde, fiel mir ein, dass ich in den Sixties eine Operninszenierung von ihm in Ost-Berlin gesehen hatte. Und es wurde mir plötzlich klar, dass Opernbesuche bei all meinen vielen Berlinfahrten nie auf meinem Programm standen. Kinos und Museen immer wieder, Jazzkonzerte und die erste
Disco Berlins am Hohenzollerndamm (wo man Boogie-Woogie, Twist oder Schmuse-Blues tanzte, im Osten tanzt man etwas, das
✺Lipsi heißt). Und dann war da noch
Juliette Gréco in der Komödie am Kurfüstendamm, sogar einmal die
Wühlmäuse, als sie noch in einem kleinen Saal auftraten. Und die blonde Beate Hasenau in dem politischen Kabarett
die bedienten, aber keine Oper. Nur zweimal in all den Jahren.
Das hier nannten die Berliner
die dicke Wand, es ist die Straßenfront zur Bismarckstraße (mit der Skulptur von Hans Uhlmann) der am 24. September 1961 neu eröffneten Deutschen Oper Berlin, deren Schöpfer der Architekt
Fritz Bornemann war. Im Osten baut man die Mauer, hier hatte man auch eine Mauer; aber diese Mauer aus Waschkieselputzplatten (70x12 Meter) trennte nicht die Stadt, sie trennte nur den Autolärm der vierspurigen Bismarckstraße vom Gesang auf der Bühne.
Es war ein potthäßliches Bauwerk. Die Sängern Christa Ludwig hat gesagt, es sei eine Schachtel von innen und außen, kühl, funktional, sachlich und ohne jeden Charme. Die Sängerin war zur Premiere eingeladen worden und hatte sich ein neues Kleid gekauft:
Mit sehr viel großem Tüll. Als ich mich aber auf meinen Platz setzte, erstreckte sich mein Rock über die Plätze rechts und links neben mir. Da konnte niemand mehr sitzen. Sie ging in die Damentoilette und fragte nach einer Schere.
Kurzerhand schnitt ich sämtliche Volants unter dem Rock ab! Dass Damen in großem Abendkleid in der Oper auch sitzen wollen, hatte der Architekt wohl nicht bedacht. Anfang Oktober war ich in der Betonschachtel. Es gab
Don Giovanni,
✺Fischer-Dieskau hatte zur Premiere gesungen, als der Bundespräsident Lübke im Publikum saß. Doch in der Woche, als ich die Oper hörte, hatte er das schon nicht mehr nötig, in Berlin zu sein. Er hatte andere Verpflichtungen. Wenn ich in Bremen geblieben wäre, hätte ich ihn in der
Glocke die
✺Winterreise singen hören können. Immerhin war Christa Ludwigs Ehemann Walter Berry, der den Leporello sang, noch da.
Was bei dem Presserummel um die Deutsche Oper Berlin nicht erwähnt wurde, war die Tatsache, dass man drüben in der
Staatsoper Unter den Linden auch einen
Don Giovanni hätte sehen können. Die Oper war 1955 neu eröffnet worden, aber man hatte damals den goldenen Schriftzug
Fridericus Rex Apollini et Musis durch
Deutsche Staatsoper ersetzt, was für den Dirigenten Erich Kleiber ein Grund war, seine Stelle als Generaldirektor zu kündigen:
Für mich ist dieser Vorfall ein trauriges, aber sicheres Symptom, dass, wie im Jahr 1934, Politik und Propaganda vor der Tür dieses ‚Tempels‘ nicht haltmachen werden.
Politik und Propaganda machen damals nirgendwo halt. Auch die Namensgebung Deutche Oper Berlin war ein politischer Akt gewesen. Die erste Spielzeit nach dem Mauerbau hatte für die Staatsoper unter den Linden einschneidende Auswirkungen. Die meisten Künstler gingen in den Westen. Mitarbeiter, die im Westteil der Stadt wohnten, konnten ihren Arbeitsplatz noch erreichen, aber konnten ihr Gehalt in Ostmark nicht mehr 1:1 tauschen. Sie blieben, das betraf vor allem die Chormitglieder, in der Folgezeit weg. Um das Ensemble zu retten, holte man sich von den Musikhochschulen der DDR alle angehenden Musiker, die Solisten kamen aus anderen Häusern der DDR oder wurden von Opernhäusern des Ostblocks ausgeliehen. Den Don Giovanni sang 1961 der tschechische Bariton Rudolf Jedlicka.
Die Sänger der Deutschen Oper Berlin trugen 1961 Kostüme, die an das 18. Jahrhundert erinnern sollten, und das Bühnenbild war ein klein wenig scheußlich, eine moderne Inszenierung war das nicht. Die dicke Wand war moderner. Und der Don Giovanni in Bremen im Januar 1966 in der Inszenierung von Götz Friedrich und dem Bühnenbild von Josef Svoboda war etwas ganz anderes. Ich hatte für die Deutsche Oper Berlin (wie die Städtische Oper jetzt auf den Vorschlag von Ferenc Fricsay hieß) eine billige Karte ganz weit oben bekommen; es war schwierig gewesen, überhaupt eine Karte zu bekommen. Was mich faszinierte, war die große weißbeleuchtete Glasplatte vor dem Dirigenten, auf der die Noten lagen. Dagegen hob sich Ferenc Fricsay in seinem schwarzen Frack wie ein Gespenst ab. Man merkte Fricsay an, dass er schon schwerkrank war, und wenige Monate später hat er sein letztes Konzert gegeben.
Götz Friedrich, der in den sechziger Jahren ein halbes Dutzend Opern in
Bremen in der Ära von
Kurt Hübner inszenierte, war Mitarbeiter von Walter Felsenstein an der
Komischen Oper in Berlin (Ost) gewesen. Nach einem Gastspiel in Stockholm 1972 kehrte er nicht mehr in die DDR zurück. Zwanzig Jahre nach dem
Don Giovanni an der Deutschen Oper Berlin wurde er da Generalintendant und Chefregisseur. Da war Felsenstein schon tot. Felsenstein war ein berühmter Mann, und beinahe all seine Inszenierungen wurden mit Adjektiven wie
epochal oder
legendär versehen. So auch die Janácek Oper
Das schlaue Füchslein, ein Werk, in das er sich auf eine seltsame Art verliebt hatte, wie er sagte. Die Inszenierung, die 1965 für das Fernsehen aufgenommen wurde, gilt heute als sein Hauptwerk. Man bekommt sie bei arthouse als DVD, Sie können sie aber auch
✺hier sehen.
Man redete in Berlin von nichts anderem, Felsensteins Opern zogen die Leute an. Das hier ist keine Corona Impfschlange, das sind Jugendliche in Karl Marx Stadt, die unbedingt in die Oper wollen. Da ist Karl Riha Chef, ein Österreicher wie Felsenstein, und Karl Riha, bei dem Harry Kupfer gelernt hat, war Kult. Es ist eine seltsame Sache, dass zwei Österreicher, die jederzeit aus der DDR ausreisen können, das Musikleben der DDR bestimmen. Obgleich ich mit Leoš Janáček und singenden Füchsen nicht so viel anfangen kann, bin ich in den Osten, um mir Das schlaue Füchslein anzusehen. Meine Verwandten rieten mir, das Geld 1:1 einzutauschen, aber ich dachte nicht daran. Ich nahm den Kurs, den mir die Wechselstube in West-Berlin anbot, und der war ganz bestimmt nicht 1:1. So konnte ich mir eine sehr teure Karte kaufen, die natürlich sehr billig war. Und dann saß ich ganz weit vorn, da wo die Leute mit den teuren Karten saßen. Das waren übergewichtige SED Parteibonzen mit Orden am schwarzen Anzug. Es waren noch andere mit Orden in den vorderen Reihen. Das waren englische Leutnants in blauen Paradeuniformen, die ihren Mädels mal ein bisschen DDR Kultur gönnen wollten. Ich fand die Tiere auf der Bühne in ihren billigen DDR Trikotagen total bescheuert, da gefielen mir die Bonzen und die Leutnants besser.
Ich weiß, ich bin ein Banause, ich kann's nicht ändern. Für Walter Felsenstein Fans habe ich hier noch ein
✺Portrait und eine
✺Dokumentation des berühmten Regisseurs. Man bekommt nicht nur Felsensteins Inszenierung von
Das schlaue Füchslein bei arthaus, man bekommt da auch die
Don Giovanni Aufführung von 1961, Kulturdenkmäler aus einer inzwischen ganz fremden Zeit. Ich bin der Bundesregierung immer noch dankbar, dass sie die Sache mit den 50 Mark Berlinreisen erfunden hat. Wenn ich Walter Felsensteins Geburtstag als Anlass genommen habe, um über die
Sixties in Berlin zu schreiben, dann ist das nicht das erste Mal, dass ich über das Berlin meiner Jugend schreibe. Sie könnten jetzt auch noch die schwer autobiographischen Posts
Liaisons Dangereuses,
Karl Lemke,
Kunsterziehung und
Bauarbeiten lesen.
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