Donnerstag, 9. Januar 2014

Kieler Frieden


Endlich mal etwas Gutes aus der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt. Nicht diese häßlichen Geschichten über Politiker und ➱Steuerbetrüger. Nein, dies ist ein Tag zum Feiern: heute vor zweihundert Jahren hat die dänische Armee gegen die Invasoren der Nordarmee kapituliert. Fünf Tage später wurde hier der Friede zwischen Dänemark, Schweden und England geschlossen. Im Buchwaldtschen Hof in der Dänischen Straße, den gibt es heute nicht mehr. Er ist einem anderen Krieg als dem napoleonischen Krieg zum Opfer gefallen, die Reste des Hauses wurden nach dem Zweiten Weltkrieg abgebrochen. Der Buchwaldtsche Hof war (wie das Nachbargebäude der ➱Warleberger Hof) das stattlichste Stadthaus in Kiel. Eigentlich hätte die Zeremonie ja im Kieler Schloss stattfinden können, aber das war 1814 zum Lazarett für die Verwundeten des Krieges geworden. Außerdem war es derart baufällig, dass man den Adelssitz in der Dänischen Straße vorzog.

Am ersten Dezember 1813 war der ehemalige französische Marschall Bernadotte, der jetzt als Prinz Karl Johan der Anwärter auf den schwedischen Thron ist, mit einer Armee von 44.000 Mann bei Boizenburg und Artlenburg über die Elbe gekommen, wenig später gehören ihm Lübeck und Kiel. Der kleine Flecken Artlenburg an der Elbe ist immer wieder der Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen. 1803 hatte hier die hannöversche Armee kapituliert, jetzt ist der damalige Oberbefehlshaber, der Graf von Wallmoden, wieder da. 1945 werden hier die Engländer gegen die Deutschen kämpfen.

Kaum ist Bernadotte in Holstein, erlässt er folgende Proklamation:

Bewohner Holsteins! Erst nachdem Eure Regierung alle wiederholten Vorschläge der Verbündeten Mächte der allgemeinen Sache Europas beyzutreten, verworffen hat, betritt die Vereinigte Armee von Nord-Deutschland Eur Gebith. Die zwischen diesen Mächten geschlossenen Bündnisse vereinigen Norwegen mit Schweden, dagegen waren für Dannemarck Enthschädigungen bestimmt, welche Eure politische Existenz gesichert hätten, die Dänische Regierung hat aber alles verweigert, das Herzogthum Holstein wird also jetzt im Besitz genommen, als ein Unterphand der Abtretung Norwegens an Schweden. Bewohner Holsteins! mischt Euch nicht in die Verhandlungen der Politic! Die friedfertigen Bürger werden beschützt, die Unruhigen werden bestraft werden, die Armee wird die strengste Ordnung beobachten. Eine Provisorische Regierung wird angestellet werden, man wird dazu dijenigen von Euren Mitbürgern berufen, welche durch ihre Talente, ihre Aufführung und ihre Vermögens-Umstände die Angesehensten sind. Ihnen wird die inn're Verwaltung des Landes aufgetragen, und der Beruf für Eur Wohl zu sorgen: Gehorcht den Befehlen wozu die jetzigen Verhältnisse veranlassen werden. Im Haupquartier zu Oldesloh, den 9ten Decbr. 1813

Das Ganze unterschreibt Auf Befehl der Generalleutnant Frh. v. Tawast, Sous-Scheff des General-Staabes der Vereinigten Armee von Nord-Deutschland. Dem schwedischen Baron (später Grafen) Johann Henrik von Tawast vertraut Bernadotte seit Jahren, er wird ihn zu Verhandlungen mit Napoleon und mit den Türken in Istanbul schicken und immer auf seinen Rat hören.

Es war ein klein wenig blöd von den Dänen, dass sie noch vor der Völkerschlacht von Leipzig in Dresden ihr Bündnis mit Napoleon erneuert hatten und ihm zehntausend Soldaten zur Verfügung stellten. Zuvor hatte Graf Christian Günther von Bernstorff in London versucht, mit den Engländern zu verhandeln. Er wollte sich von den Franzosen lösen und dafür die dänische Flotte zurückbekommen, die die Engländer 1807 an sich genommen hatten, nachdem sie Kopenhagen in Brand geschossen hatten (Wellington hatte sein ➱Lieblingspferd damals Copenhagen getauft).

Aber die Engländer lassen Bernstorff abblitzen, sie haben es nicht vergessen, dass er als Außenminister die englandfeindliche Politik Dänemarks bestimmt hatte. Also wirft sich das bankrotte Land wieder Napoleon in die Arme, schließt mit ihm am 10. Juli 1813 ein Trutzbündnis gegen Preußen und Russland und erklärt am 3. September Schweden den Krieg. Die Kriegserklärung an Preußen und Russland folgt am 22. Oktober, angesichts der verlorenen Schlacht von Leipzig etwas erstaunlich. Bernstorff ficht das alles nicht an, fünf Jahre später wechselt er den Arbeitgeber und wird Preußens Außenminister. Wird ein gefügiger Anhänger von Metternichs Restaurationspolitik. Es gibt in Dänemark noch andere Bernstorffs, mit denen man diesen Opportunisten nicht verwechseln sollte. Ich denke da an seinen Verwandten, den Grafen Johann Hartwig Ernst von Bernstorff, den Freund Klopstocks. Der hat sich 1759-1765 in Gentofte von dem Franzosen Nicolas-Henri Jardin dieses bezaubernde Schlösschen bauen lassen, eins der ersten neoklassizistischen Bauwerke, mit denen Jardin Dänemark verzieren wird. Auch Johann Hartwig Ernst von Bernstorff ist ein Staatsmann, aber er ist auch ein Mann der Aufklärung. In der Zeit, in der er Dänemarks Außenminister war, ist es Dänemark wesentlich besser gegangen als zu der Zeit dieses Christian von Bernstorff.

Ein dänischer Untertan spielt bei dem Machtpoker nicht mit. Der junge Graf Wolf von Baudissin weigert sich, den geheimen Staatsminister Frederik Julius Kaas zu dem Treffen mit Napoleon in Dresden zu begleiten. Er schreibt dem dänischen König vom Landsitz Emkendorf aus einen Brief, in dem er um Bestrafung bittet. Er darf sich für einige Monate als Staatsgefangener in die Festung Friedrichsort begeben. Die Haft kann nicht so schlimm gewesen sein, da er von seinen Tanten in Emkendorf und Knoop verzogen ward, versehen mit Musikalien, Büchern, Blumen, Früchten und Besuchen. Die Cousinen in Knoop [hier im Bild] kamen im Boote durch den Kanal in seine Festung. Die Freunde versammelten sich oft bei ihm; und Lob und Liebe erklangen unter den hohen Bäumen in schmelzenden, melodischen Tönen über Wald und Meer. Baudissin wird den diplomatischen Dienst verlassen, wir werden ihm als Übersetzer der Werke ➱Shakespeares wieder begegnen.

Seit dem Dezember 1813 residiert Bernadotte im Haus des königlich dänischen Kammerherrn und Landrats Caspar von Buchwaldt (hier schrieb er auch seinen Brief an die Witwe von ➱Captain Bogue). Er war gekommen, um Norwegen in Holstein zu erobern. Jetzt diktiert er die Bedingungen, die Nordeuropa neu ordnen. ➱Helgoland verlieren die Dänen an England, ihr kleinster Verlust. Aber Norwegen verlieren sie auch, das gehört fortan zu Schweden. Die Faröer, Island und Grönland dürfen sie behalten, die will niemand haben. Ein klein wenig bekommen sie von Schweden auch zurück, Rügen und Vorpommern sind fortan dänisch.

Als Ernst Moritz Arndt davon erfährt, schreibt er: Nein, tausendmal lieber bei den gutmüthigen treuherzigen und pomadigen Schweden geblieben, die Fünf grad seyn lassen, als unter diese Dänen hingeworfen werden, dieses verdrehteste verwehteste krittlichste grittlichste aller Menschengeschlechter, die wir von Großvaters und Urgroßvaters Gedächtniß her nur als Plünderer und Verwüster unsrer Küsten gehört haben. Er konnte sich beruhigen, die Dänen tauschen Rügen und Pommern ein Jahr später gegen Lauenburg ein. All dieses Geschacher führt am Ende zu einer territorialen Unübersichtlichkeit, die eines Tages den englischen Premierminister Palmerston bezüglich der schleswig-holsteinischen Frage sagen läßt: Only three people have ever really understood the Schleswig-Holstein business—the Prince Consort, who is dead—a German professor, who has gone mad—and I, who have forgotten all about it.

Der Winter von 1813 auf 1814 bekommt damals in der Bevölkerung die Bezeichnung Kosakenwinter, weil mit den schwedischen, preußischen und russischen Truppen auch russische Kosaken ins dänische Schleswig-Holstein eingefallen sind. Die Geier der Schlachtfelder nennt man sie und macht sie für alle Schrecken und Plünderungen verantwortlich. Das Bild zeigt das Denkmal, das an das Gefecht von Sehestedt (das letzte Gefecht, das die Dänen gewannen) erinnert.

Aber ➱Tettenborns Kosaken sind nicht für allen Schrecken verantwortlich, um es zurückhaltend zu sagen. Die schlimmsten Übergriffe gehen auf das Konto der vielen Freikorps: Wären es reguläre Preußen gewesen, die zu Euch kamen, so wären wir ohne alle Besorgnis gewesen, denn es ist buchstäblich wahr, daß unsere Soldaten im eigentlichsten Sinn viel zu fromm sind, um auch nur im Geringsten etwas Ähnliches zu verüben, was sie an den Franzosen verabscheuen gelernt haben; aber es kamen von uns nur Freicorps, geworbenes Volk und Fremde, oder Pöbel der Hauptstadt, — und sonst nichts als Fremde, und solche, die sich größtentheils auf Beute gespitzt hatten, schreibt Barthold Georg Niebuhr an seine Schwester. Eins dieser Korps nennt sich nach dem verstorbenen Major Ferdinand von Schill, es wird von seinem Bruder angeführt. Die berühmten ➱Lützowschen Jäger sind nicht in Kiel, die befreien gerade Bremen, die Hauptstadt des Département des Bouches du Weser. Aber Friedrichstadt (hier ein zeitgenössisches Bild von Georg David Thomsen), das haben sie wahrscheinlich angezündet. Vae victis.

Nichts Böses hört man in der Zeit der Kämpfe und der Besatzungszeit über die Engländer. Das hätten wir in diesem anglophilen Blog auch nicht anders erwartet. Die britisch-deutsche Division wird kommandiert von General James Lyon, aber der entscheidende Mann bei allen wichtigen Entscheidungen ist der Colonel Hugh Halkett. Der Sohn eines schottischen Generalmajors war mit Wellington in Spanien gewesen, jetzt ist er in Schleswig-Holstein, ein Jahr später wird er in Waterloo dabei sein und ein Held sein. Er ist schon einmal in diesem Blog erwähnt worden, klicken Sie doch mal ➱Nord Ostsee Kanal an. Halkett, inzwischen General, kommt übrigens Jahrzehnte später nach Schleswig-Holstein zurück. Im Deutsch-Dänischen Krieg von 1848 führt er in hannöverschen Diensten die Truppen des 10. deutschen Armeekorps und schlägt die Dänen bei Oeversee. Der Vollständigkeit halber sollte ich noch einen General nennen, nämlich den Oberkommandierenden. Das ist ein Österreicher (dessen Familie aus Hildesheim stammt) in russischen Diensten, Ludwig Georg Thedel Graf von Wallmoden (oben). Dessen Großvater ganz nebenbei gesagt der englische König war.

Ein Franzose, der schwedischer König wird (aber niemals Schwedisch lernen wird), ein Schotte in hannöverschen Diensten, ein Österreicher in russischen Diensten, es sind seltsame Lebensläufe bei den Beteiligten, die da zusammenkommen. Der europäische Adel, der in Kiel die napoleonischen Kriege beendet, findet sich in allen Armeen wieder, manchmal gehen Trennungen sogar durch die Familie. Ein Jahr nach dem Kieler Frieden wird der Frieden zwischen Deutschland und Dänemark von Vater und Sohn geschlossen werden: auf preußischer Seite steht da Karl August Freiherr von Hardenberg (hier im Bild von Schadow gemalt). Als Vertreter Dänemarks steht ihm sein Sohn, der Graf Christian Heinrich August von Hardenberg-Reventlow, gegenüber. Wenn die Beteiligten in diesem Krieg von überall her kommen, nur nicht aus Schleswig-Holstein, muss man doch den Kommandeur der dänischen Truppen, Friedrich von Hessen-Kassel, als echten Schleswig-Holsteiner bezeichnen. Er wird in Gottorf als Sohn jenes Carl von Hessen-Kassel (nachdem die Carlshütte in Rendsburg heißt), der wurde ➱hier schon einmal erwähnt. Der General wird zuerst 1813 Oberkommandierender der dänischen Hilfstruppen und darf Marschall Davout in Hamburg zur Seite stehen. Nach dem Frieden von Kiel muss der Prinz dann mit seinen Truppen gegen Napoleon ziehen, erst 1818 kommt er aus Frankreich zurück. Er hat die Seiten nicht aus Opportunismus gewechselt wie Bernadotte, er tat das, was sein König ihm befohlen hat.

Der Friedensschluss von Kiel bedeutet auch, dass ein toter König von Dänemark und Norwegen nach Hause kommt. Das ist Christian VII, der 1808 in Rendsburg gestorben war. Dort war er in einem Mausoleum aufgebahrt gewesen, jetzt holt ihn sein Sohn nach Roskilde zurück, wo alle dänischen Könige ihre Grabstätte gefunden haben. Als er 1808 starb, hatte er längst keine Macht mehr, er war schon früh geisteskrank geworden. Wenn Sie alles darüber wissen wollen, dann lesen Sie den schönen Roman Der Besuch des Leibarztes von Per Olov Enquist. Übersetzt von Wolfgang Butt, der beim Übersetzen mehr Freude hatte, als wenn er ➱Henning Mankell übersetzen muss.

Der Kielfreden ist auch die Geburtsstunde Norwegens, und deshalb ist der norwegische Botschafter Sven Erik Svedman am 14. Januar in Kiel. Die Feier in Kiel ist für Norwegen der Auftakt zu den Feiern des Jubiläums des norwegischen Grundgesetzes. Man hatte damals am 14. Januar 1814 in Kiel vergessen, die Übergabemodalitäten detailliert zu regeln. Und so ist Norwegen für kurze Zeit unabhängig. Gibt sich ratzfatz in einer Nationalversammlung am 17. Mai 1814 in Eidsvoll eine Verfassung, die mit leichten Änderungen heute immer noch gilt. Und deshalb kommt am 14. Januar der norwegische Botschafter mit einer Regierungsdelegation am Vormittag mit einer Fähre der Color Line hier an.

Die Delegation reist am Nachmittag wieder ab. Zusammen mit vielen betrunkenen Norwegern. Betrunkene Norweger gehören hier zum Stadtbild, die torkeln an jedem Nachmittag völlig duhn aber gesittet zurück zum Norwegenkai oder zum Oslokai. Wenn Deutsche betrunken sind, dann fangen sie an zu singen. Oder sie randalieren und kloppen sich. Die Norweger nie, die marschieren mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht zum Fährschiff. Nirgendwo in Deutschland fühlt sich ein Norweger so zu Hause wie in Kiel! hat der norwegische Botschafter gesagt. Wie recht er hat.

Im Warleberger Hof wird am 14. Januar die Ausstellung Der Kieler Frieden. 1814 - ein Schicksalsjahr für den Norden eröffnet.

Dienstag, 7. Januar 2014

Robert Nicoll


Es ist ein großes Monument, das man da in Little Tullybelton 1840  für einen kleinen Dichter errichtet hat: Robert Nicoll: One of the Sweetest of Scottish Bards. Man hat Robert Nicoll, der heute vor zweihundert Jahren geboren wurde, einen zweiten Robbie Burns genannt, doch das sind wohl zu große Kleider für einen minor poet. Vielleicht wäre er ja noch ein größerer geworden, aber er ist mit dreiundzwanzig Jahren gestorben. Wenn Dichter früh sterben, sichert ihnen das häufig einen Mythos zu. ➱Thomas Chatterton starb mit achtzehn, Keats mit fünfundzwanzig. Ein amerikanischer Wissenschaftler hat vor Jahren herausgefunden, dass im Durchschnitt Dichter zweiundsechzig Jahre alt werden, während Romanautoren vier Jahre älter werden. Es ist schön, dass es so sinnvolle Untersuchungen gibt. Robert Nicoll hat auch ein Gedicht auf den Tod geschrieben, wahrscheinlich ist Death eins seiner letzten Gedichte.

Wenn ihn auch die meisten englischen Literaturlexika nicht kennen (oder bestenfalls als minor poet erwähnen), in Schottland hat man ihn nicht vergessen, so sagte der Reverend T. Hinks 1850: as a poet, he stands by the side of Burns, of whom, however, he was deemed not a rival, nor indeed and equal; but when Nicoll died, he had written what Burns up to that time had not equalled. Tracing his career through various vicissitudes, at last we find him become editor of the 'Leeds Times' . . . . on the small salary of £100 per year, he made the fortune of that paper, as well as the proprietors . . . . there is no question that his editorial articles were remarkable for extraordinary talent, and there can be no doubt that his writings at this period may be classed among the most brilliant effusions of the provincial newspaper press. But, alas! his unwearied labours broke down his talented and energetic mind. His health became impaired, and sickness overtook him. He returned to his native Scotland and died of consumption at the early age of 23. His poetry is noble and brilliant; his poetical pictures of Scottish scenery are very fine, and his sympathy was readily accorded to all.

Wenn Sie sich jetzt fragen, was das Bild vom heimkehrenden Tiroler Landsturm von Franz Defregger hier in dem Post zu einem kleinen schottischen Dichter verloren hat, dann habe ich dafür natürlich einen Erklärung. Und die heißt Andreas Hofer. Ein Name, der mir (ebenso wie das Bild von Defregger aus Opas großem Buch mit Historienmalerei) seit Kindertagen vertraut ist. Weil das ➱Lied Zu Mantua in Banden (heute immer noch Tiroler Nationallied) das Lieblingslied meines Opas war. Er spielte es mit großer Inbrunst auf dem Klavier. An der Stelle, wo es im Lied heißt Gebt Feuer! Ach, wie schießt ihr schlecht! (was wahrscheinlich die letzten Worte von Andreas Hofer waren), sang mein Opa immer Franzosen, ach wie schießt ihr schlecht! Dass die Franzosen Deutschlands Erbfeind waren, das konnte er nie vergessen. Wenn das Lieblingslied Ihres Großvaters nicht Zu Mantua in Banden Der treue Hofer war gewesen ist, und wenn Sie das Tiroler Nationallied noch nie gehört haben, dann sollten Sie es sich ➱hier (von dem berühmten Emanuel List gesungen) anhören.

Es gibt noch ein zweites Andreas Hofer ➱Lied, das mit den Versen beginnt:

Ach Himmel, es ist verspielt
ich kann nicht mehr lange leben,
der Tod steht vor der Tür
will mir den Abschied geben,
meine Lebenszeit ist aus
ich muss aus diesem Haus

Das soll der Wirt des Sandhofs (der in dem Lied ironisch General vom Sand genannt wird) selbst im Gefängnis geschrieben haben, aber das ist wohl nicht zu beweisen. Ich habe natürlich auch von diesem Lied eine Aufnahme. Bitte klicken Sie ➱hier. Aber es gibt noch ein anderes Lied, eins zu dem es keine Melodie gibt. Und das man in Tirol wahrscheinlich gar nicht kennt. Denn es stammt von dem schottischen Dichter Robert Nicoll. Es heißt The Death Song of Andreas Hofer:

My hour of life is nearly past,—
I shrink not from my doom:
The men of many lands will make
A pilgrim-shrine my tomb;
My name will be in coming time
The watchword of the free;
The mountains of my rugged home
My monuments will be.

I have not borne a tyrant's thrall,
But stood for liberty—
Among our mountains and our rocks,
Where slaves can never be;
I stood, as stood the Switzer bold,
When Uri's horn did swell,—
I fought, I bled—my name will live
With that of William Tell.

Death! what is death in freedom's cause?—
For thee, mine own Tyrol,
Had I a thousand, thousand lives,
O! I would give the whole.
I die, as men should proudly do,
For home and liberty,—
I sow the seed that yet shall grow
And make my country free.

Farewell, my craggy native hills,
My children all, farewell:
That Hofer was your father's name
Full proudly ye may tell.
Farewell ye mountains, heart-enshrined,—
God! shield a freeman's soul!
I die in joy—I die for thee—
My own—my wild Tyrol.

Warum schreibt ein junger Schotte über Andreas Hofer? Robert Nicoll ist nicht nur Dichter und im Alter von zweiundzwanzig Jahren der Herausgeber der Leeds Times, er ist auch Politiker. Anhänger der Radicals, ein Wort, das man nicht so einfach übersetzen kann. Denn diese politische Gruppierung ist kein Haufen blindwütiger Radikaler, das sind die Vorläufer der Liberal Party Englands. Wir wollen lieber nicht darüber reden, wohin der Liberalismus heute verkommen ist, aber damals repräsentierten die Radicals den Fortschritt.

Seinen politischen Überzeugungen verdankt Robert Nicoll auch sein Weiterleben im Internet. Denn sein Werk findet sich auf einer Seite Minor Victorian Poets and Authors, die dem Chartisten Gerald Massey gewidmet ist. Eingeleitet von Herausgeber Ian Pettigrew: Welcome. This web site is dedicated to the life and work of the Chartist, poet, author, and free thinker, Gerald Massey, and to comparable poets and authors of his era, a number of whom by their protests were to influence social reform in Victorian Britain. Most had working-class backgrounds. My aim is to resurrect their writing, much of which has for many decades been unavailable outside of national archives and university libraries, and to place it before a wider audience. 

I have written my heart in my poems; and rude, unfinished, and hasty as they are, it can be read there. Dies Zitat von Nicoll steht über dem ➱Werk von Robert Nicoll. Dank des Internets kann man es heute noch lesen. Für solche Seiten kann man dem Internet dankbar sein. I do not rate my published volume too highly, for I know its defects; but I think that by keeping to Nature—to what Wordsworth has called the 'great sympathies'—I shall yet do better. If I do not, it shall not be for the want of close, strict, untiring perseverance,—or single-minded devotion to literature, schreibt er in einem Brief. Er hat hart daran gearbeitet, ein gutes Englisch zu schreiben. Das Wort grammar taucht immer wieder in seinen Briefen auf. Und so wird in einem Alter, in dem andere eines Tages mit Ach und Krach einen Abituraufsatz zusammenstoppeln, zu einem rhetorisch gewandten politischen Schriftsteller:

From among the People the greatest men of every age have arisen. Those rich in worldly goods rarely find time for aught but luxurious enjoyments; while, among the poor, there are always a few who sanctify the hours saved from toil by striving to attain intellectual excellence. From among those few sometimes arise master-spirits, who give a tone, not only to the age in which they live, and to their own land, but to future generations, and to the whole world. The peculiar greatness of mental power is, that it does not blaze up in a corner, and then become extinct, but enlightens and delights all nations. . . Who can estimate the influence which the life and writings of Robert Burns have exerted on our national character? Who can estimate the good effects which the writings of Sir Walter Scott—so filled with human sympathies and wise examples—may yet exert on the destinies of mankind? We know no more heart-elating enjoyment than to peruse Benjamin Franklin's narrative of his own life: in which he tells of his rise from a runaway printer's boy to be the first philosopher of the day; and one of the founders of an empire the freest and happiest the world ever saw. Is the influence of all the kings that ever reigned to be for a moment compared with the silent mental power possessed by Franklin? . . . But in our day it is comparatively an easy matter for the so-called lower classes to educate themselves. The gates of knowledge—of mental power—stand ever open.

Man könnte das als schöne viktorianische Sonntagsreden abtun, wenn heute einer unserer Politiker das sagen würde, wir würden ihm nicht glauben. Weil wir niemandem mehr glauben. Herrn Pofalla nicht und Frau Merkel auch nicht. Doch der Satz I have written my heart in my poems gilt auch für die politischen Schriften von Robert Nicoll, der bei seinem Kampf für bessere Verhältnisse auf ein unerschütterliches Gottvertrauen bauen kann. Die Professorin Regenia Gagnier hat in dem aufsehenerregenden Buch Subjectivities: A History of Self-Representation in Britain, 1832-1920 (➱hier in Teilen zu lesen) die Autobiographien unter die Lupe genommen, die im viktorianischen Zeitalter geschrieben wurden, diese gefeierten Selbstzeugnisse und Selbstentwürfe der Great Victorians wie Ruskin, John Stuart Mill, Charles Darwin und Beatrice Webb. Das wäre genug für ein Buch. Um das Spiegelbild des Jahrhunderts zu komplettieren, kontrastiert sie diese Selbstzeugnisse des Establishments mit den Autobiographien aus der working class, in denen das Leben anders verläuft und auch die Werte anders sind. Karl Marx hätte das gefallen. Auf diese Weise konstruiert Gagnier unter Herbeiziehung hunderter Autobiographien ein komplexes, widersprüchliches Jahrhundert. Robert Nicoll kommt nicht darin vor, aber er würde in das Buch hineinpassen. Jemand aus der working class, der daran glaubte: The gates of knowledge—of mental power—stand ever open.

The mountains of my rugged home My monuments will be, heißt es in The Death Song of Andreas Hofer. Der Tiroler Nationalheld braucht keine Monumente. Robert Nicoll schon. Aber sein Monument in der Nähe von Tullybelton ist renovierungsbedürftig, das sollten die örtlichen Behörden schnellstens reparieren. Spätestens zum Referendum über die schottische Unabhängigkeit am 18. September 2014 sollte das aber fertig sein.

Sonntag, 5. Januar 2014

Cardigan


Dirk Bogarde beschreibt in seiner Autobiographie An Orderly Man einmal die ersten Rollen, auf die er festgelegt zu sein schien: But in the main it was, apart from the raincoat, what I call a 'cardigan and knitted tie' part, and I had hardly to open my mouth. Which suited me perfectly well. ➱Bogarde hasste diese Rollen. Privat hat er durchaus Strickjacken getragen, wie dieses Photo beweist. Die Strickjacke wird zur Zeit modisch wieder propagiert, natürlich slim fit. Jogi Löw trägt so etwas. Sieht natürlich etwas anders aus als Helmut Kohl. Dessen Strickjacke ist heute im Haus der Geschichte. Und mit Helmut Kohl wird die Strickjacke ja auch häufig assoziiert, weniger mit der Jogi Löw Strickjacke der Firma Strenesse.

Mein Großvater hatte eine graue Strickjacke, die trug er im Haus anstelle des Jacketts. Unter der Strickjacke trug er natürlich Oberhemd und Krawatte, Anzughose und Weste. Wenn er das Haus verließ, zog er seine Strickjacke aus und zog das Jackett an. Anders habe ich ihn nie erlebt. Dass Menschen außerhalb des Hauses, wo man ordentlich zu sein hatte, so herumlaufen könnten, wäre für meinen Opa unvorstellbar gewesen. Aber früher orientierten sich die Konventionen der Kleidung auch noch nicht an Fußballtrainern, die einen Werbevertrag mit einem Bekleidungshersteller haben. Die Bekleidung des Bundestrainers ist offensichtlich ständig Gegenstand des öffentlichen Interesses, auch in diesem Blog wurde sie schon ➱erwähnt. Der Designer Michael Michalsky hat über die Stilikone Jogi Löw gesagt: Wenn die Nationalmannschaft so spielt, wie er sich kleidet, dann müssten wir die EM gewinnen. Wenn wir nicht Weltmeister werden, ist die Firma Strenesse schuld, das merken wir uns mal.

Die Strickjacke heißt im Englischen cardigan. Ich könnte jetzt lang über Lord Cardigan schreiben, aber das möchte ich nicht tun. Die bösen Dinge, die ich in dem Post ➱Raglan gesagt habe, sind noch nicht böse genug. Ein Freund schrieb mir hinterher, dass ich unfair zu Lord Raglan gewesen sei. Mag sein, Christopher Hibbert ist 1961 in seinem Buch The Destruction of Lord Raglan etwas netter. Ich lasse jetzt auch einmal weg, dass ➱Errol Flynn 1936 und Trevor Howard 1968 Lord Cardigan im Film gespielt haben.

Der erste Film hat nichts mit der historischen Wirklichkeit zu tun, der Film von Tony Richardson 1968 (hier in ganzer Länge) schon. Der basiert auf dem Buch The Reason Why der Lieblingshistorikerin von ➱Alan Bennett, Cecil Blanche Woodham-Smith. Das John Osborne dann zu einem Drehbuch umgeschrieben hatte. Wenn Sie einen bitterbösen Antikriegsfilm sehen wollen, 139 Minuten lang mit Starbesetzung, dann kaufen Sie sich Tony Richardsons The Charge of the Light Brigade.

Die amerikanische Filmkritikerin ➱Pauline Kael mochte den Film nicht: Tony Richardson's quasi-absurdist vaudeville-epic-a view of the Crimean War with modern revue humor. It's composed of Victorian vignettes, with fragments of dialogue, mostly a few lines leading to a snapper, schrieb sie. Gab aber auch zu: And at times, the satire of political platitudes is excruciatingly entertaining. Das Wort Vietnam kam in ihrer Rezension nicht vor, obgleich damals jeder wusste, dass dies nicht nur ein Film über den Krimkrieg im Jahre 1854 war. Ich lasse das militärische Desaster des Kriegs (das auch die Basis für Tolstois Krieg und Frieden war) jetzt einmal draußen vor. Vielleicht schreibe ich noch einmal darüber.

Modegeschichtlich beschert uns der Krimkrieg den cardigan, den Raglan Mantel und diese schwarze Skimütze, die gerne von Bankräubern getragen wird. Die heißt im Englischen balaclava, da lebt der Krimkrieg immer noch weiter, vor allem auf den Überwachungsvideos der Banken. Was immer Lord Cardigans Truppen auf der Krim getragen haben, die Strickjacken, wie wir sie heute kennen, sind es bestimmt nicht gewesen. Da kann man alle Photos von Roger Fenton anschauen, man wird dieses Kleidungsstück nicht finden.

Wenn unter der Werbeanzeige der Firma Pringle oben Gentleman's Cardigan steht, dann muss ich leider sagen, dass die Anfänge des Kleidungsstückes wenig mit dem Gentleman zu tun haben. Wir sehen einmal ganz davon ab, dass James Thomas Brudenell, der siebte Earl of Cardigan, kein Gentleman war. Das Kleidungsstück taucht im 19. Jahrhundert zuerst als Weste mit Ärmeln auf. Noch nicht gestrickt, sondern aus Stoff. Und diese Jacke wird von Pferdeknechten und Gepäckträgern in Bahnhöfen getragen. Erst um 1894 taucht die Weste mit Ärmeln in gestrickter Form (oder in dem, was die Engländer Berlin wool nennen) auf. Sagen C. Willett und Phillis Cuningham in ihrem Handbook of English Costume in the 19th Century. Denen kann man nicht widersprechen, wenn die Kostümhistoriker eine Bibel haben, dann ist es dieses Buch.

Mir hat letztens jemand erzählt, dass Strickjacken modisch der letzte Schrei seien. Und hat auf Daniel Craig hingewiesen, der in irgendeinem James Bond Film eine Strickjacke trägt. Aber eigentlich denken wir bei James Bond und Strickenjacken ja immer an ➱Goldfinger und die gelbe Strickjacke von Gert Fröbe, der mit all seinen Klamotten in dem Film die Karikatur eines Engländers ist. Die einzige wirklich abgefahrene Strickjacke (ein Kleidungsstück, dass im 19. Jahrhundert auch Seelenwärmer genannt wurde) im Film ist dieser Cardigan, den Nigel Green in Play Dirty über seiner Uniform trägt. Nachts ist es auch in Nordafrika (wo der ➱Film spielt) kalt. In England ist es natürlich noch kälter, und das erklärt wohl auch, warum die Strickjacke unter dem Jackett getragen von den dreißiger bis in die fünfziger Jahre in England so beliebt ist. Zentralheizung kennen die Engländer damals kaum. Und die Zimmertüren reichen nicht bis zum Boden, wie man in vielen Agatha Christie Filmen sehen kann, wo alle möglichen Dinge unter der Tür hindurchgeschoben werden.

Männer räumt Opas Kleiderschrank aus! Spießige Altherren-Cardigans sind wieder super hip, Schlagzeilen dieser Art kann man immer wieder lesen. Die Modemacher schrecken vor nichts zurück, um das Kleidungsstück zu propagieren, das in den dreißiger Jahren chic war und in den fünfziger Jahren noch lebte. Da galt es noch als chic eine dünne Strickjacke unter dem Jackett zu tragen, wie man auf diesem Photo aus Breakfast at Tiffany's sehen kann. Und damals galt auch Rex Harrison als Stilideal: Who but our beloved Rex could ever make a cardigan seem the heart of chic? fragte sein Freund Brendan Gill. Es gibt natürlich nur eine richtige Antwort: niemand sonst als er.

Aber der cardigan war wieder da, schwappte auch gleich in die Damenmode hinüber. Anne Klein propagierte ihn, und ➱Mary Quant machte ihn richtig peppig. Und wenn Frauen damals ganz, ganz damenhaft aussehen wollten (und in den fifties wollten ja viele junge Frauen partout wie ihre Mütter aussehen), dann trugen sie ein Twinset. Angeblich wurde das von dem Chefdesigner der schottischen Firma Pringle 1934 erfunden. Mit dieser englischen Firma ist es ja immer weiter bergab gegangen, nicht erst seit den neunziger Jahren, als englische football hooligans bevorzugt Pringle trugen.

Am besten war das Twinset natürlich, wenn es aus Kaschmir war. Und mit Perlenkettchen. Dies Photo ist von dem englischen Modephotographen Norman Parkinson, er hat hier seine Gattin portraitiert, die unter ihrem Namen Wenda Rogerson ebenso berühmt war wie ➱Barbara Goalen. Wenn man so aussieht und mit dieser hauteur dasitzen kann, dann kann man tragen, was man will. Aber es ist wie bei Rex Harrison, es steht nicht jedem. Und wenn das Internet vollgepflastert ist mit Werbung für Hollister Cardigans und das Teil bei H+M 19.95 kostet, wir lassen die Finger davon.

Ich muss gestehen, ich besitze gar keine Strickjacke. Bei mir gibt es nur die Wahl zwischen Pullover und Jackett. Wobei diese unstrukturierten Jacketts ja immer strickjackenähnlicher werden. Morgens an der Schreibmaschine trage ich ein altes Sweatshirt. Aber wenn Jogis Jungens in Brasilien Weltmeister werden, dann gehe ich zu diesem eleganten Herrn in den ➱Laden und frage ihn, ob er auch Jogi Löw Strickjacken führt. Mal sehen, was er sagt.


Freitag, 3. Januar 2014

Jubiläum


Sie hatten schon Sorge, weil es hier einige Tage ruhig war? Keine Angst, es geht weiter. Es geht immer weiter. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Aber es gibt heute etwas zu feiern, ich werde mir heute Abend ein Gläschen Bruichladdich genehmigen. Nicht, dass das unbedingt meine Lieblingsmarke wäre, die Flasche ist ein Geschenk. Irgendwie scheinen meine Freunde zu glauben, ich könne nur schreiben, wenn der schottische Whisky neben mir steht. Dem ist aber nicht so, ich bin nicht ➱William Faulkner oder ➱Ernest Hemingway. Wenn ich auf ein Glas Whisky im Monat komme, dann ist das viel. Und so steht da noch ein halbes Dutzend Flaschen in der Speisekammer. Aber das Zeuch wird ja nicht schlecht. Den Grund für die heutige kleine Feier kann ich ganz kurz beschreiben:

Name des Blogs: SILVAE
Name des Bloggers: JAY
Adresse: http://loomings-jay.blogspot.de/
im Internet seit: 3. Januar 2010
Posts: 1.321
Besucherzahlen (seit Ende Juli 2010): 1.071.665
Lesermeinung: Ihr Weblog ist ein Diamant unter den unzähligen beliebigen und nichtssagenden Sandkörnern in der "blogosphere"!

Na ja, nicht alle waren dieser Meinung. Aber der Satz war trotzdem schön. Vier Jahre im Internet, words, words, words. Irgendwie macht mich das melancholisch. Hätte ich in den vier Jahren etwas anderes tun sollen? Sollte ich diesem Blog mehr Struktur geben? Soll ich ihn lassen, wie er ist? Ich ändere erst einmal nichts, ich kann nur den Satz zitieren, der in den sündhaft überteuerten Boglioli K-jackets drin steht: Take it as it is.

Und für die Freunde des schottischen Nationalgetränks und alle, die mit George Bernard Shaw glauben, Whisky is liquid sunshine, habe ich hier noch zwei nette Posts. Lesen Sie doch ➱Cutty Sark und ➱halbe Million.

Mittwoch, 1. Januar 2014

Neujahr


Thomas Hardys Gedicht The Darkling Thrush hatte ursprünglich den Titel The Century's End, 1900. Es erschien am 29. Dezember des Jahres 1900 in der Zeitschrift The Graphic. Man ist sich aber ziemlich sicher, dass es schon ein Jahr früher geschrieben wurde. Es ist eins der schönsten Gedichte von ➱Hardy, der mit dem Ende des 19. Jahrhunderts beschlossen zu haben scheint, keine Romane mehr zu schreiben und fortan Dichter zu sein. 1898 war mit Wessex Poems sein erster Gedichtband erschienen, viele weitere sollten folgen. 864 Seiten ist meine Ausgabe der Collected Poems stark. Ich weiß nicht, wie viele Gedichte diese ➱Internetausgabe enthält, aber es scheint mir ausreichend zu sein. Sonst nehmen Sie ➱diese hier, die habe ich auch. Sie kostet bei Amazon mal gerade etwas mehr als fünf Euro: gute Lyrik war noch nie so preiswert.

The Darkling Thrush

I leant upon a coppice gate
When Frost was spectre-gray,
And Winter’s dregs made desolate
The weakening eye of day.
The tangled bine-stems scored the sky
Like strings of broken lyres,
And all mankind that haunted nigh
Had sought their household fires.

The land’s sharp features seemed to be
The Century’s corpse outleant,
His crypt the cloudy canopy,
The wind his death-lament.
The ancient pulse of germ and birth
Was shrunken hard and dry,
And every spirit upon earth
Seemed fervourless as I.

At once a voice arose among
The bleak twigs overhead
In a full-hearted evensong
Of joy illimited;
An aged thrush, frail, gaunt, and small,
In blast-beruffled plume,
Had chosen thus to fling his soul
Upon the growing gloom.

So little cause for carolings
Of such ecstatic sound
Was written on terrestrial things
Afar or nigh around,
That I could think there trembled through
His happy good-night air
Some blessed Hope, whereof he knew
And I was unaware.

Und für jene Leser, die sich immer beklagen, dass hier zuviel Englisch im Blog zitiert wird, habe ich heute einmal eine deutsche Übersetzung. Die habe ich von der interessanten Seite von ➱Walter A. Aue, eine Seite, die ich schon mehrfach erwähnt habe. Nicht nur diese Seite ist interessant, auch Walter A. Aue, ein emeritierter Chemieprofessor ist sehr interessant (klicken Sie diese wunderbare kleine ➱Vignette über sein Einstellungsgespräch an der Dalhousie University einmal an). Hier also Walter A. Aues Übersetzung von The Darkling Thrush:

Die dunkelnde Drossel

Ich stützt mich auf den Zaun im Wald
im Reif gespenstergrau,
als Winters Abschaum, öd und kalt,
bedeckt des Himmels Blau.
Gerank zerschnitt den Himmelsraum
gleich Saiten toter Leier,
und wer geirrt um Busch und Baum
eilt heim zum Abendfeuer.

Die harten Züge dieser Welt
Jahrhunderts Leichnam sind:
Sein Grab das trübe Himmelszelt,
sein Totensang der Wind.
Der alte Puls von Keim und Werd
lag eingeschrumpft und bloß:
Jedweger Geist auf dieser Erd,
gleich mir, war willenlos.

Da barst aus Zweigen kaum erspäht
der ew'gen Freude Klang:
So voll das Herz im Nachtgebet,
so grenzenlos der Sang
der alten Drossel, dürr und klein
im sturmzerzausten Kleid,
die ihrer ganzen Seele Sein
warf gegen Dunkelheit.

So wenig Grund zum Jubiliern,
zu solch verzücktem Schall
war auf dem Erdenkreis zu spürn -
wie hier so überall -
daß es mir schien, als zög durch's Land,
im Drosselsang zur Nacht,
gesegnet Hoffnung, ihr bekannt,
doch von mir nie gedacht.

Wenn Sie das Gedicht vorgelesen hören wollen (das habe ich aber nur in Englisch), dann klicken Sie ➱hier. Ich hätte es ja lieber gehabt, wenn Richard Burton es vorgelesen hätte, der mit dieser walisischen Singsangstimme ein begnadeter Sprecher für die Gedichte von Thomas Hardy war (hören Sie doch einmal in ➱Weathers oder in ➱In Tenebris hinein).

Gedanken zur Jahreswende machen wir uns alle, Thomas Hardy macht sich hier auch noch Gedanken zur Jahrhundertwende, er läßt das engstirnige viktorianische Jahrhundert hinter sich. Er ist skeptisch, aber es ist auch ein klein wenig Hoffnung in dem Gesang des Vogels. Wenn Sie für den Jahresanfang weniger Hoffnung und mehr Skepsis serviert haben wollen, dann hätte ich sozusagen als Weisheit aus einem philosophischen Glückskeks einen Aphorismus von Lichtenberg, zweihundert Jahre älter als das Gedicht von Hardy: Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber soviel kann ich sagen: Es muß anders werden, wenn es gut werden soll.

Das war der Satz, der in der Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin fehlte.

Dienstag, 31. Dezember 2013

31. Dezember


Und wieder hier draußen ein neues Jahr -
Was werden die Tage bringen?!
Wird's werden, wie es immer war,
Halb scheitern, halb gelingen?


Das schreibt Theodor Fontane 1855 in London. Er hatte zuvor eine Reise durch Süddeutschland gemacht, bevor er nach London zurückkehrte. Und schrieb dann das ➱Gedicht Unterwegs und wieder Daheim. Ein Gedicht, in dem er sich zurücksehnt:

Ich möchte noch wirken und schaffen und tun
Und atmen eine Weile,
Denn um im Grabe auszuruhn,
Hat's nimmer Not noch Eile.


Er wird noch wirken und schaffen, bis er ➱Vor dem Sturm schreibt, werden aber noch zwei Jahrzehnte vergehen, bis zu Effi Briest sind es noch vier Jahrzehnte. Gott hat ihm Zeit gegeben. Und dass Gott uns Zeit gibt, darauf können wir alle nur hoffen.

Ich wünsche all meinen Lesern ein gutes neues Jahr.

Und wenn Sie noch etwas Fröhliches brauchen, dann lesen Sie ➱dies. Oder klicken Sie ➱hier.

Montag, 30. Dezember 2013

Han van Megeren


Am 30. Dezember 1947 ist der Holländer Henricus Antonius van Meegeren gestorben. Er war ein holländischer Maler. Dieser schöne Kitsch hier ist sein bekanntestes und beliebtestes Werk. Henricus Antonius van Meegeren, der gemeinhin Han van Meegeren genannt wurde, hatte noch einen anderen Namen: er malte auch als ➱Jan Vermeer. Verkaufte sogar dem Kunstsammler Hermann Göring einen angeblich echten ➱Vermeer. Wahrscheinlich wollte Göring unbedingt einen Vermeer haben, weil Hitler auch einen hatte (lesen Sie ➱hier alles dazu). Was mich bis heute fasziniert, ist die Frage, wie konnte man auf van Meegeren hereinfallen und seine Machwerke für echte Vermeers halten?

Wenn hier der Direktor und der Restaurator des Museums Boijmans (das heute Boijmans van Beuningen heißt) voller Stolz vor ihrem gerade entdecken Vermeer sitzen, dann fragt man sich: Sind sie beide blind? Selbst auf schlechten Abbildungen kann man sehen, dass das kein Vermeer ist. Man kann ja offensichtlich alles fälschen, Banknoten sowieso. Im Mittelalter hat man Urkunden gefälscht, das Privilegium Maius und die Konstantinische Schenkung sind Fälschungen.

Im 18. Jahrhundert waren gefälschte Gedichte wie ➱Ossian oder die angeblich mittelalterlichen Gedichte von ➱Thomas Chatterton die große Sache. Und in Italien verkaufte man den reichen Engländern auf ihrer Grand Tour gefälschte ➱Claude Lorrains und Salvator Rosas. Mit gefälschten Kunstwerken kann man natürlich mehr Geld verdienen als mit gefälschten Gedichten. Das hat vor wenigen Jahren der Skandal um die Sammlung Jäger gezeigt. Heute sind gefälschte ➱Louis Vuitton Taschen und gefälschte Rolex Uhren das große Geschäft. Uhren wurden schon früh gefälscht, um 1795 ersann der berühmte Abraham Louis Breguet eine Geheimsignatur für seine Uhren. Und dass die van Meegerens (und die von Guttenbergs) nicht aussterben, hat man gerade wieder daran gesehen, dass Galileo Galileis angebliche Skizzen vom Mond auch eine Fälschung waren. Da sieht der Professor Bredekamp ganz schön blöd aus. Vielleicht ist das Buch Echtes Geld für falsche Kunst von Klaus Ahrens und Günter Handlögten schon etwas veraltet, amüsant ist es auf jeden Fall.

Mein Triumph als Fälscher war meine Niederlage als schöpferischer Künstler, hat Han van Meegeren gesagt. Mit dem Kriegsende folgte für ihn eine lange Untersuchungshaft, ein ➱Prozess, der Einzug des Vermögens. Kurz nach seinem Prozess ist er gestorben. Aber in Holland war er eine Art Volksheld, der Mann, der Göring einen gefälschten Vermeer verkaufte.

Und das rechtfertigte er als nationale Tat, da er von Göring kein Geld sondern hunderte beschlagnahmter Kunstwerke bekommen hatte. Die er ganz bestimmt zurückgegeben hätte. Hier wird gerade Görings falscher Vermeer von amerikanischen Soldaten beschlagnahmt. Han van Meegeren hat sich nicht als Fälscher gesehen, er wollte angeblich denen, die seine Kunst abgelehnt hatten nur sein wahres Genie beweisen. Auf jeden Fall hat er das später behauptet: Ich glaubte nicht an die Unfehlbarkeit der Kunstexperten, und daher entwickelte ich einen Plan, die Herrscher des Kunsthandels, die meine Bilder als drittklassig eingestuft hatten, auf die Probe zu stellen.

Aber diese Erklärung, dass er in einem Stadium der Verzweiflung, in das ihn die Ablehnung durch die Kritiker gestürzt hätte, diesen Racheplan ersonnen hätte, ist eine freche Lüge. Er war schon seit Jahrzehnten  als Fälscher im Geschäft. Wenn er technisch ein so guter Maler gewesen wäre wie ➱Odd Nerdrum (der sich hier selbstironisch in Rembrandtscher Pose malt), dann wäre er vielleicht wirklich eine Gefahr für die Experten und den Kunstmarkt gewesen.

Aber so gut wie Nerdrum war er nie. Lisa Zeitz schrieb zu van Meegerens (hier ein Selbstportrait des verkannten Genies) malerischen Qualitäten im Cicero: Für heutige Augen sind die alten Fälschungen hingegen alles andere als überzeugend. Stilistisch wirken die 'Vermeers' eher so, als hätte man biblische Szenen von Caravaggio mit den hohlwangigen Figuren von Karl Hofer und einem Filmplakat von Marlene Dietrich verquirlt. Doch in den dreißiger und vierziger Jahren meinte die Fachwelt allen Ernstes, neue Werke des verehrten alten Meisters entdeckt zu haben.

Wenn man sich ein Photo von Greta Garbo nimmt und sie dann in der Art von Vermeer malt, dann hat man einen Vermeer. Ist klar. Nicht alle sind auf die Fälschungen hereingefallen. Aber der Kunsthistoriker Abraham Bredius hatte das Bild von Jesus in Emmaus (links) für echt erklärt, das zählte damals für das Boijmans Museum. Vom Ruf, den Bredius einst hatte, ist heute nicht viel übrig geblieben. Sein Katalog der Rembrandt Gemälde hat heute nur noch historisches Interesse.

Bredius veröffentlichte im renommierten Burlington Magazine einen Artikel über den Vermeer, der eher nach einer emphatischen Liebeserklärung als nach wissenschaftlicher Kühle klingt: It is a wonderful moment in the life of a lover of art when he finds himself suddenly confronted with a hitherto unknown painting by a great master, untouched, on the original canvas, and without any restoration, just as it left the painter's studio. And what a picture! Neither the beautiful signature . . . nor the pointillés on the bread which Christ is blessing, is necessary to convince us that we have here—I am inclined to say—the masterpiece of Johannes Vermeer of Delft . . . quite different from all his other paintings and yet every inch a Vermeer. In no other picture by the great master of Delft do we find such sentiment, such a profound understanding of the Bible story—a sentiment so nobly human expressed through the medium of highest art.

Man hätte im Boijmans Museum nicht auf solch schwelgerische Töne hören sollen. Man hätte lieber auf das Auktionshaus ➱Duveen hören sollen, deren Direktoren Edward Fowles und Armand Lowengard (ein Neffe von Lord Duveen) nach der Besichtung des Abendmahls nur lakonisch sagten: a rotten fake. Der Direktor von Boijmans Dirk Hannema (der nach dem Krieg als Nazikollaborateur seine Stellung verlor) kaufte das Bild für 500.000 Gulden (heute etwas in der Größenordnung von zehn Millionen Dollar) an. Joseph Duveen war ein gebranntes Kind. Er hatte 1927 The Lace Maker (oben) und The Smiling Girl (unten)zwei sehr frühe Vermeer Fälschungen von van Meegeren - für ein kleines Vermögen angekauft, um sie Andrew Mellon weiterzuverkaufen.

Der berühmte ➱Wilhelm von Bode in Berlin hatte die Bilder, die ihm von einem dubiosen Engländer namens Harold Wright angeboten wurden, zu echten Vermeers erklärt (hatte allerdings zuvor einen ➱'Vermeer' aus dieser Quelle als bestenfalls aus Vermeers Umfeld stammend bezeichnet). Wilhelm von Bode erwähnt diese Episode aus verständlichen Gründen mit keiner Zeile in seiner Autobiographie. Doch man sieht auf einen Blick, dass diese frühen Vermeer Fälschungen ein bisschen wie ein Vermeer ausschauen und sehr wenig mit den geradezu karikaturhaften Fälschungen in van Meegerens Spätwerk gemein haben.

Die Direktoren von Duveen waren ja nicht die einzigen, die ihre Zweifel hatten. Und immer wieder werden Fälschungen früh erkannt. So ➱schreibt zum Beispiel der berühmte Dr Johnson an James Macpherson, der der Welt den Ossian präsentierte: I thought your book an imposture from the beginning, I think it upon yet surer reasons an imposture still. For this opinion I give the publick my reasons which I here dare you to refute. But however I may despise you, I reverence truth, and if you can prove the genuineness of the work I will confess it. Your rage I defy, your abilities since your Homer are not so formidable, and what I have heard of your morals disposes me to pay regard not to what you shall say, but what you can prove. You may print this if you will.

Aber es hören wenige auf ihn. Napoleon auf jeden Fall nicht, der wird noch Jahrzehnte später seinen geliebten Ossian mit nach St Helena nehmen: Ces pensées, ces sentiments, ces images sont bien autre-ment noble que les rabâchages de votre 'Odyssée'. Voilà du grand, du sentimental et du sublime, Ossian est un poète; Homère n'est q'un radoteur. Wahrscheinlich funktioniert das nur im Märchen, dass die Wahrheit schlagartig evident wird. Wenn da ein kleines Mädchen kommt und sagt: Aber er hat ja gar nichts an. Dies Bild ist natürlich ein echter Vermeer, das im Absatz darüber nicht. Das ist Scarlett Johansson in Das Mädchen mit dem Perlenohrring.

Die weltt die will betrogen syn, wusste schon Sebastian Brandt in seinem Narrenschiff. Da hat er auch ein kleines Kapitel, das ganz einfach Von falsch vnd beschiss heißt. Man sollte dieses schöne deutsche Wort nicht vergessen, das wir schon seit dem Mittelhochdeutschen haben. Da heißt es beschiz und bedeutet nichts anderes als Betrug. Und als beschisz steht es immer noch im Wörterbuch der Brüder Grimm. Aber wenn man es gerne vornehmer ausgedrückt haben will, es gibt den Satz von Sebastian Brandt auch auf Latein: Mundus vult decipi, ergo decipiatur.

Das Museum Boijmans van Beuningen machte Jahrzehnte nach dem Kauf von Christus und die Jünger in Emmaus gute Miene zum bösen Spiel und präsentierte Van Meegeren's Fake Vermeers im Jahre 2010 in einer Ausstellung. Die Ausstellung hatte großen Zulauf, die weltt die will betrogen syn. Das Bild im Absatz oben ist allerdings keine Fälschung, das ist ein echter van Meegeren. Sogar signiert. Aber auf Künstlersignaturen geben Kunsthistoriker schon lange nichts mehr.

Wenn Sie die ganze Geschichte nachlesen wollen, dann kann ich nur Jonathan Lopez' Buch The Man Who Made Vermeers empfehlen (sie können den Autor ➱hier sehen). Gut recherchiert und spannend wie ein Krimi, im Jahre 2009 sogar für einen Edgar in der Kategorie Best Fact Crime nominiert.