Sonntag, 24. März 2013

Peter Nicolaisen ✝


Ich hatte Peter Nicolaisen in einem scheußlich kalten Wintersemester kennengelernt. Ich war von der Uni Hamburg nach Kiel gewechselt, weil mir ein Typ, mit dem ich auf der Heeresoffiziersschule gewesen war, in einer Vorlesung zugeflüstert hatte, dass es in Kiel ganz kleine, übersichtliche Seminare geben solle. Wir saßen in dem Augenblick zusammen mit x-tausend anderen Studenten im Hamburger Audimax. Im Sommersemester konnte man in Kiel am Fördestrand in der Sonne liegen, aber Wintersemester in Kiel sind nix. Da kann man nur lernen und lernen. Oder an der Stadt verzweifeln. Im Vorjahr hatten sie am Englischen Seminar in Kiel mal einen berühmten amerikanischen Schriftsteller aus den Südstaaten gehabt, der verzweifelte an Kiel. Soff sich zu und landete regelmäßig unten an der Küste im Rotlichtbezirk.

Das Proseminar von Dr. Peter Nicolaisen hatte im Vorlesungsverzeichnis die Nummer 735 und kostete sechs Mark Unterrichtsgeld. Man musste die Kurse, die man belegte, damals bezahlen. Nur Colloquien mit dem Zusatz privatissime gratis waren kostenfrei. Unter dem spröden Titel Die Lyrik der englischen Vorromantik hetzte uns Peter Nicolaisen durch ein ganzes Jahrhundert. Von John Dyers Grongar Hill zu Alexander Popes Windsor Forest. James Thomsons Seasons nicht zu vergessen. Jagte uns durch die Philosophie, die Kunst des Landschaftsgartens und durch die Landschaftsmalerei – und natürlich durch die ganze englische Literatur, von William Cowper bis Thomas Chatterton. Dazu kamen Klassiker der Kritik wie Elizabeth Manwarings Italian Landscape in 18th Century England zu Marjorie Hope Nicolsons Mountain Gloom and Mountain Glory und Newton demands the Muse. Und das alles für sechs Mark! Wenn Sie als regelmässiger Leser dieses Blogs das Gefühl haben, dass ich mich in der Kultur des England des 18. Jahrhunderts gut auskenne, hier wurden die Grundlagen dafür gelegt.

Wir waren dreizehn Studenten in dem Kurs, für damalige Verhältnisse in Kiel schon beinahe ein großer Kurs, von solchen Zahlen träumt man heute an den Universitäten. Am Ende des Kurses dankte uns Peter Nicolaisen. Und der ansonsten so trockene, coole und ironische Nicolaisen zeigte eine gewisse Rührung, als er uns versicherte, dass wir ein solches Seminar in unserem Studium wohl nicht wieder erleben würden. Es war eins seiner ersten Seminare, er hatte (was er immer tat) sein Herzblut in die Vorbereitung gesteckt. Er hatte Recht mit seiner Voraussage, das Seminar hatte mehr geboten als manches Haupt- oder Oberseminar in meinem Studium bieten würde.

Im nächsten Semester war ich in seinem Joseph Conrad Seminar, das habe hier schon einmal erwähnt. Als er im Seminar fragte, was in dem Satz I watched the procession of head-lights gliding high and of green lights gliding low in the night, when suddenly a red gleam flashed at me, vanished, came into view again, and remained in Conrads Youth passierte, war ich der einzige im Kurs, der das beantworten konnte. Ich ging an die Tafel und machte eine Zeichnung, damit jeder begriff, wo in diesem Augenblick Backbord und Steuerbord auf dem Wasser waren. Und ich wusste in jenem Moment, dass er sich auf dem Wasser auskannte (er war ein leidenschaftlicher Segler), denn niemand anderer hätte diesen Satz in der Erzählung beachtet. Doch Conrads to make you see steckt eben auch in so kleinen Sätzen.

Ich hätte für den Rest meines Studiums bei ihm Seminare belegt, wenn er nicht für einige Zeit als Gastprofessor nach Amerika gegangen wäre, dahin zog es ihn immer wieder. Bevor er ging, fragte er mich, was ich im nächsten Semester machen wollte. Ich sagte ihm, dass ich eigentlich zu Germer ins Shakespeare Hauptseminar wollte. Tun Sie das bloß nicht, der liest doch nur aus dem Clemen vor, sagte er. Dass Professor Rudolf Germer der größte Langweiler des Lehrkörpers war, hatte ich inzwischen durch den Besuch von vier Romantik Vorlesungen auch schon gemerkt. Germer wusste in seiner Vorlesung nicht, was er vorlas. Sein Assistent schrieb ihm die Vorlesungen. Wenn das letzte Wort auf einer Seite Words- war, machte Germer eine Pause, blätterte um und las dann worth. Ungelogen. Es sind Leute wie er gewesen, die eine studentische Revolution in den sechziger Jahre verständlich erscheinen lassen.

Nicolaisen bewahrte mich nicht nur vor Germer, er verschaffte mir vor seinem Abflug in die USA auch noch eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft. Die wichtigste Aufgabe einer Hilfskraft bestand damals darin, für den Professor Tabak der Marke TK 93 bei der Firma Trennt zu kaufen. Denn der alte Trennt hatte einmal dem Professor die Pfeife aus dem Mund genommen und gesagt: Sie können überhaupt nicht richtig Pfeife rauchen. Ihnen verkaufe ich doch keinen Tabak. Seitdem traute der sich nicht mehr in den Laden. Unsere sonstigen Tätigkeiten waren wissenschaftliche Sklavenarbeit. Wir holten Gastprofessoren vom Bahnhof ab und zeigten ihnen die wenigen Schönheiten der Stadt. Manche dieser Gelehrten verdankten wir den Beziehungen von Peter Nicolaisen, ohne ihn hätte ich den Faulkner Biographen Joseph Blotner nicht kennengelernt. Wissenschaftliche Hilfskräfte waren damals eine Art von unterbezahlten Assistenten, wir bibliographierten und exzerpierten die gesamte Sekundärliteratur für Seminare und Vorlesungen. Wir waren Ghostwriter für Vorträge, Vorlesungen und Aufsätze. Wir tippten alle benötigten Texte auf Wachsmatrizen – einen Photokopierer besaß das Seminar noch nicht. Man entwickelt dabei ein geradezu haptisches Verhältnis zur Literatur, wenn man sie abtippen muss.

Eine der kuriosesten Aufgaben betraf eines Tages den Herrn Professor Germer, der verlangt hatte, dass man die leeren Bücherregale in seinem neuen Dienstzimmer mit Büchern füllte. Eigene Bücher brachte er offensichtlich nicht mit. Books do furnish a room, wie es bei Anthony Powell heißt. Schweren Herzens opferte unsere Bibliothekarin, Frau Gertrud Klein, die sogenannte studentische Ausleihbibliothek, die eigentlich aus nichts anderem als Doubletten und ausgesonderten Luschen bestand. Mein Freund Götz und ich arbeiteten tagelang daran, die vorzeigbarsten Stücke in die Regale zu sortieren. Schön nach Autoren und Jahrhunderten geordnet. Als Germer zum ersten Mal das neue Zimmer betrat, würdigte er unsere Arbeit keiner genaueren Betrachtung. Er sagte nur: Meine Herren, ich bin Ästhet. Ordnen Sie die Bücher bitte nach Farben! Ich habe mir immer gedacht, dass dies zwei Sätze sind, die – wären sie Thomas Bernhard oder Botho Strauß eingefallen – zur Weltliteratur hätten werden können.

Diese Anekdote zeigt nur wieder einmal die Lächerlichkeit mancher Professoren damals. Über Peter Nicolaisen machte niemand jemals Witze, er besaß eine natürliche Autorität, eine norddeutsche Vernünftigkeit, die uns allen ein Vorbild sein konnte. Und es auch war. Der Professor, bei dem er Assistent war, nannte ihn nur Sir Peter. Das mag ein wenig ironisch gemeint gewesen sein, drückte aber auch die Bewunderung für seinen Assistenten aus. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat Nicolaisen in ihrem Nachruf einen Nonkonformisten genannt, und das war er sicherlich. Er nahm niemals (selbst als er Präsident seiner Hochschule wurde) die Allüren eines Großordinarius an, was in den sechziger Jahren jeder Universitätsprofessor so gerne sein wollte. Der Jahrmarkt der akademischen Eitelkeiten hatte für ihn keine Reize. Er blieb trotz seiner wissenschaftlichen Meriten immer zurückhaltend und erschreckend normal. Er war immer wieder in Amerika (wo er schon als Schüler mit dem AFS einmal gewesen war), man hörte das seinem präzisen Englisch aber nicht an. Aber man konnte es sehen, er hatte den Stil der amerikanischen Ivy League Mode adaptiert, trug immer hellblaue Buttondown Hemden, die zu seinen wasserblauen Augen passten. Und Cordjacketts, bei denen das oberste Knopfloch nach amerikanischem Stil in das Revers hineingebügelt war. Sehr cool.

Er hatte über die Dichtung von Edward Taylor promoviert, und die Liebe zur Lyrik hat ihn nie verlassen. Von Edward Taylor über die englische Vorromantik bis zu Wilhelm Lehmann. Vielleicht mochte er Faulkner deshalb, weil dessen Romane eigentlich Poesie sind: I am a failed poet. Maybe every novelist wants to write poetry first, finds he can't and then tries the short story which is the most demanding form after poetry. And failing again at that, only then does he take up novel writing. Sein letztes Buch, das er mir vor wenigen Monaten zusandte, hieß Stimmenvielfalt: Gedichte aus Schleswig-Holstein: Vom Barock bis in die Gegenwart. Es ist eine erstaunliche Anthologie: dänische, platt- und hochdeutsche Gedichte, chronologisch geordnet, im 17. Jahrhundert beginnend - so etwas hatte zuvor noch kein Herausgeber übernommen.

Peter Nicolaisen hatte großen Erfolg mit seinen Publikationen. Vielleicht nicht so sehr mit seiner Habilitation Ernest Hemingway: Studien zum Bild der erzählten Welt, die wohl nur die Fachwissenschaft beeinflusste. Aber dann erschienen bei Rowohlt drei Bücher über William Faukner, Joseph Conrad und Thomas Jefferson, die zu Recht eine Vielzahl von Neuauflagen (und Übersetzungen) erfuhren. Ich hatte die Manuskripte gelesen, bevor er sie beim Verlag abgab. Was immer wieder zu langen Diskussionen führte. Mir war seine klare wissenschaftliche Sprache eine Spur zu kühl, mir fehlten die kleinen Anekdoten, der feuilletonistische touch. Aber in dem Punkt war mit ihm selten zu handeln. Er schrieb nun einmal so (und die Vorgaben von Rowohlt erlaubten wohl auch keine Digressionen). Andererseits hat er mir meinen essayistischen Stil auch nie austreiben können, obgleich er es versucht hatte.

Seine Aufsätze erschienen in den renommiertesten Fachzeitschriften, als Kapazität für Faulkner und Jefferson war er ein gesuchter Autor. Selten war er im Internet zu finden, wie in diesem kleinen Post, den er vor Obamas Amtseinführung im Januar 2009 schrieb. Nicolaisen schrieb aber auch für die FAZ, das Nordfriesische Jahrbuch und das Journal der Wilhelm Lehmann-Gesellschaft. Der Dichter Wilhelm Lehmann lag ihm immer am Herzen, Peter Nicolaisen hat auch im letzten Jahr den Begleittext zu dem Audiobook Hanns Zischler liest Wilhelm Lehmann 'Der Provinzlärm' geschrieben. Und war auch in einer Publikation des Kunstvereins Flensburg mit einem Aufsatz Über Ekkehard Thiemes ‘Moby-Dick‘-Radierungen zu finden. Er kannte und schätzte Ekkehard Thieme (zu dem er auch ein Buch herausgab). Er kannte auch eine Vielzahl anderer Künstler, beim Nissenhaus Husum hatte er ein Katalogbuch zu Hans-Ruprecht Leiß ediert. Den Moby-Dick Zyklus von Thieme kannte ich seit der Moby-Dick Ausstellung von 1976, damals musste ich mir natürlich gleich einen kleinen Thieme besorgen. War schwer zu kriegen, weil seine Graphiken damals so gut wie gar nicht in den Handel kamen. Das da ist nicht meiner, sieht dem aber ziemlich ähnlich.

Peter Nicolaisen hatte einen warmen Humor, aber er hatte auch wunderbare Ironie im Repertoire. Die war gefürchtet. Er konnte emphatische Übertreibungen nicht ausstehen, damals mussten viele Fächer der Philosophischen Fakultät ja noch mit dem haut goût kämpfen, ein Schwafelfach zu sein. Das war einem Philologen wie Nicolaisen ein Graus. Als in einem Colloquium ein Professor die These äußerte, dass die Beschreibung des Ruderns in Hemingsways The Old Man and the Sea einer Beschreibung des Sexualakts ähnelte und sich mit einem Meinen Sie nicht auch, Herr Kollege? an Nicolaisen wandte, sagte der nur: Ich weiß nicht. Ich kann nicht rudern. Es fiel sehr schwer, in dem Augenblick den nötigen sittlichen Ernst zu bewahren.

Er nahm sich viel Zeit für seine Studenten, er konnte ihnen zuhören. Ich weiß das, weil wir uns einmal jahrelang ein Büro geteilt haben. Mit seinem Lob war er immer sparsam, wenn er sehr schön oder habe ich gerne gelesen sagte, dann war das schon das höchste der Gefühle. Insofern war ich überrascht, als ich von ihm im letzten Jahr - ich hatte ihm gerade gesagt, dass ich ihn in den Joseph Conrad Post hinein geschrieben hatte - diese Mail erhielt: Dank für den Dank. Ihren Post über Paul Leicester Ford habe ich gern und mit Gewinn gelesen - wie ich denn überhaupt mit Freude in und bei 'Silvae' stöbere, voller Bewunderung für den Verfasser, der sein großes Wissen mit so leichter Hand und im Plauderton unter die Leute bringt, anschaulich, lebendig, unterhaltsam. Und das Tag für Tag. Das ist, lassen Sie mich das sagen, eine wirklich eindrucksvolle Leistung. Echt, wie meine Enkelkinder sagen. Noch nie zuvor in beinahe einem halben Jahrhundert hatte ich so viel Lob von ihm bekommen. Ich zweifelte einen Augenblick an der Echtheit der Mail, aber dieser Nachsatz Echt, wie meine Enkelkinder sagen, das war typisch Nicolaisen. Echt.








Peter Nicolaisen ist am 23. Februar in Flensburg gestorben. Er fehlt mir jetzt schon. Vielen anderen auch. Er war mein Lehrer und mein Vorbild. Außer ihm waren es nur ganz wenige - wie Wolfgang J. Müller und die Baronin Gisela von Stoltzenberg - von denen ich in meinem Studium wirklich etwa mitgenommen habe. Im Flensburger Tageblatt schrieb ein mit ihm befreundeter Journalist: Ein nobler Gelehrter, dessen Leidenschaft und unermüdlicher Fleiß die schleswig-holsteinische Literaturforschung nachhaltig bereichert hat. Das klingt besser als der nüchtern lapidare Nachruf, den seine Uni für ihn übrig hatte. Warum kriegen die nichts Besseres hin? Aber man wird ihn nicht vergessen, the past is never dead. It's not even past.

Grey the Day

Grey the day, all the year is cold,
Across the empty land the swallows' cry
Marks the southflown spring. Naught is bowled
Save winter, in the sky.

O sorry earth, when this bleak bitter sleep
Stirs and turns and time once more is green,
In empty path and lane and grass will creep
With none to tread it clean.

April and May and June, and all the dearth
Of heart to green it for, to hurt and wake;
What good is budding, gray November earth?
No need to break your sleep for greening's sake.

The hushed plaint of wind in stricken trees
Shivers the grass in path and lane
And Grief and Time are tideless golden seas—
Hush, hush! He's home again.

1 Kommentar:

  1. Ein für mich echt interessanter und schöner Text,Vielen Dank.Peters Enkel

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