Mittwoch, 7. Februar 2018

Ausländer


Heute vor 540 Jahren wurde Thomas Morus geboren. Als ich das las, war ich versucht, einen Post über den englischen Staatsmann und Philosophen zu schreiben. Einen Mann, den ein Zeitgenosse a man for all seasons genannt hat. Ich gab seinen Namen aber erst einmal in das Suchfeld auf dieser Seite ein, um zu sehen, wie oft ich ihn schon erwähnt habe. Fand dabei zu meiner Überraschung einen Post, der ➱Thomas Morus heißt. Das hatte ich völlig vergessen, Thomas Morus habe ich natürlich nicht vergessen, der steht bei mir im Regal. Der Post aus dem Jahre 2011 endet mit dem Absatz: Denn daß alle Verhältnisse sich gut gestalten, ist nicht möglich, wenn nicht die Menschen alle gut sind. Und das, meine ich, wird noch eine gar hübsche Weile auf sich warten lassen. Ja, die Utopie ist nie für hier und heute. Wir warten seit 1516 immer noch darauf, dass alle Menschen gut sind.

Ich zitiere heute einmal Sir Thomas More mit einer Rede, die er am sogenannten Evil May Day 1517 gehalten hat. More, einer der beiden Under-Sheriffs von London, spricht da zu einem wütenden Pöbel, der die Fremden aus London vertreiben will. Flamen, Wallonen, Hugenotten und auch Deutsche sind ihr Hassobjekt. Bis auf die wohlhabenden deutschen Kaufleute sind die meisten anderen ➱Flüchtlinge, aus ihren Heimatländern wegen ihrer Religion vertrieben. Das Thema kennen wir, Flüchtlinge und pöbelnder Mob, das ist unser deutsches Thema. Das war mit Lichtenhagen 1992 nicht zu Ende, das fing da erst an.

Wir hören einmal in die Rede von Thomas More hinein:

Nehmt an ihr wärt sie los und dass euer Lärm
alle Majestät Englands heruntergezogen hätte,
stellt euch die geplagten Fremden vor,
ihre Babies auf den Rücken und ihr armseliges Gepäck,
sich zu den Häfen und Küsten schleppend für die Überfahrt,
und dass ihr wie Könige auf euren Wünschen thront,
die Obrigkeit zum Schweigen gebracht durch euren Aufruhr 
und ihr in die Halskrausen eurer Meinungen gezwängt,
was hättet ihr erreicht? Ich sags euch, ihr hättet gezeigt wie
Frechheit und Gewalt obsiegen,
wie Ordnung bezwungen wird, und wie nach diesem Muster
kein Einziger von euch ein hohes Alter erreicht,
denn andere Grobiane werden so es ihnen gefällt
mit derselben Hand, denselben Gründen und demselben Recht
über euch und andere wie Haie herfallen und 
wie hungrige Fische frisst einer den anderen...

Angenommen nun der König 
zieht euch für euren großen Fehltritt nur so weit zur Rechenschaft, 
dass er euch aus dem Land verbannt, wohin würdet ihr gehn ? 
Welches Land würd euch, nach der Art und Weise eurer Irrungen, 
Zuflucht gewähren? Ob ihr nach Frankreich oder Flandern geht, 
irgendeine der deutschen Provinzen, Spanien oder Portugal, 
ja irgendein Land, das nicht zu England gehört, 
da ihr dort notwendig Fremde seid, wärt ihr erfreut 
ein Volk von so barbarischem Gemüt zu finden, 
die ausbrechend in abscheuliche Gewalt 
euch keine Bleibe auf Erden gönnen. 
Die ihre Messer an eure Gurgeln wetzen, 
euch als Hunde verachten und als ob ihr nicht 
von Gott behütet oder geschaffen wäret, 
nicht dass die Umstände alle zu eurem Vorteil sind, aber auf sie 
angewiesen, was würdet ihr denken 
so behandelt zu werden? Das ist das Los des Fremden, 
und das ist eure gipfelhohe Unmenschlichkeit. 

Er sagt das natürlich auf ➱Englisch (Sie können hier ➱Sir Ian McKellan mit der Rede hören). In ➱Blankversen. Die etwas holpriger daherkommen als in Hamlet, dem Stück, an dem Shakespeare gerade schreibt. Ich habe die Rede auf Deutsch zitiert, damit der Mann mit den ➱karierten Jacken, der ➱unser Land zurückholen will, das auch versteht. Es ist ein erstaunlicher Text. Ein schöner Text. Aber wir wissen nicht wirklich, was Thomas Morus dem lärmenden Mob vor einem halben Jahrtausend gesagt hat. Denn das hier lässt William Shakespeare in dem Theaterstück Sir Thomas More seinen ➱Thomas More sagen. Er hat seinen Text beim Schreiben ein wenig korrigiert. Wir wissen das, weil die British Library mehrere ➱Seiten davon aufbewahrt; es ist das einzige Theaterstück, zu dem wir handschriftliche Zeilen von Shakespeare besitzen. Vielleicht, ganz ➱sicher ist es nicht.

Das Manuskript von Sir Thomas More ist eine Gemeinschaftsarbeit, das ist nichts Ungewöhnliches in der elisabethanischen Zeit. Wahrscheinlich stammte die erste Version von Anthony Munday und Henry Chettle. Sie wurde Jahre später von einem anderen Team von Autoren überarbeitet, zu dem Thomas Heywood, Thomas Dekker und William Shakespeare gehörten. Dem Zensor Sir Edmund Tilney gefällt das Ganze nicht, er schreibt in das Manuskript: Leave out the insurrection wholly and the cause thereof, and begin with Sir Thomas More at the Mayor’s sessions, with a report afterwards of his good service done being Sheriff of London upon a mutiny against the Lombards – only by a short report, and not otherwise, at your own perils. Das Stück wurde nicht gespielt. Vielleicht, weil Shakespeare sich nicht an das Leave out the insurrection wholly and the cause thereof gehalten hat.

Seit 1737 ist der Lord Chamberlain für die Zensur zuständig. Erst 1968 wurde die Macht des Lord Chamberlain bezüglich der Theater in London beschnitten. Da hatten die Amtsinhaber über die Jahrhunderte Stücke wie König Ödipus von Sophokles, die Salome von Oscar Wilde und George Bernard Shaws Mrs Warren's Profession verboten. Und Beckett hatte große Schwierigkeiten, dass er sein Waiting for Godot auf die Bühne bringen konnte. Die Engländer sind seltsame Menschen.

Der Deutsche Taschenbuchverlag hat 2016 ein Büchlein herausgebracht, das die Rede von Sir Thomas More in der deutschen Übersetzung von Frank Günther enthält. Es ist ein Buch, das unter falscher Flagge segelt, William Shakespeare hat niemals etwas geschrieben, das Die Fremden: Für mehr Mitgefühl heißt. Auf dem Buch klebt ein rotes Etikett: Weckruf aus einer anderen Zeit - Von erschütternder Aktualität. Irgendwie ist das Ganze ein bisschen peinlich. Sie können ➱hier eine Rezension lesen - und hier eine ➱andere. Bilden Sie sich ihre Meinung, dazu brauchen Sie den dtv Band nicht, der reine Beutelschneiderei ist. Shakespeares Text können Sie ➱hier lesen. Und die sechs Euro, die Sie jetzt gespart haben, die überweisen Sie doch bitte an eine Hilfsorganisation für Flüchtlinge.

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