Donnerstag, 22. Oktober 2015

Kingsley Amis


Das Gedicht hat keinen Titel, deshalb wird es häufig als Untitled zitiert. Man hat es erst nach dem Tod des Autors Sir Kingsley Amis (der heute vor zwanzig Jahren starb) gefunden. Es ist ein Gedicht, das ein wenig nach Philip Larkin klingt. Was nicht so verwunderlich ist: Larkin war sein bester Freund.

Things tell less and less:
The news impersonal
And from afar; no book
Worth wrenching off the shelf.
Liquor brings dizziness
And food discomfort; all
Music sounds thin and tired,
And what picture could earn a look?
The self drowses in the self
Beyond hope of a visitor.
Desire and those desired
Fade, and no matter:
Memories in decay
Annihilate the day.
There once was an answer:
Up at the stroke of seven,
A turn round the garden
(Breathing deep and slow),
Then work, never mind what,
How small, provided that
It serves another's good
But once is long ago
And, tell me, how could
Such an answer be less than wrong,
Be right all along?
Vain echoes, desist.


Fangen wir mal eben mit der schmutzigen Seite an. Das ist Kingsley Amis, wie man ihn nicht unbedingt kennt. I Fat Englishman – I fuck anything hat seine Gattin Hilary dem schlafenden Kingsley Amis auf den Rücken geschrieben. Sie kannte ihn. Er war als Ehebrecher notorisch, noch notorischer als ➱Säufer (Now and then I become conscious of having the reputation of being one of the great drinkers, if not one of the great drunks, of our time). Im Alter war er rechtsradikal. Und homophob, xenophob, phob gegen alles. In seiner Jugend war er in der Kommunistischen Partei. So it goes.

Sein Freund Philip Larkin teilt viele seiner Ansichten. Das ist leider die nicht so schöne Seite von Philip Larkin. Wenn Sie mehr zu dieser Freundschaft zweier Literaturgrößen wissen wollen, kann ich die Lektüre von Richard Bradfords Buch The Odd Couple - The Curious Friendship between Kingsley Amis and Philip Larkin empfehlen. Die Personen auf diesem Photo sind (von links) Anthony Powell, Kingsley Amis, Philip Larkin und Hilary Amis. Anthony Powell (der ➱hier einen langen Post hat) passt eigentlich nicht in diese Gruppe, aber Amis hat den Autor von A Dance to the Music of Time geschätzt. Und hat in seinen Memoirs auch ein ganzes Kapitel für ihn. Amis' Memoirs sagen sehr wenig über ihn selbst, mehr über andere. Manche Kapitel sind ein giftiges Abrechnen mit alten Feinden, manche sind Lobhudeleien für neue Freunde. Wie ➱Mrs Thatcher (she has replaced the Queen as my dream girl).

Man kann Amis schwer einordnen. Sein komplexes Werk - mehr als zwanzig Romane (zwei davon Detektivromane), sechs Lyrikbände, Essays, Kurzgeschichten und Skripts für die BBC und das Fernsehen - lässt das kaum zu. Ihm selbst gefiel es nicht, mit Etiketten beklebt zu werden. In dem Vortrag Socialism and the intellectuals (➱hier im Volltext) sagte er 1957: how shall I describe myself? As an elderly young intellectual, perhaps, with connections in the educational and literary worlds and with left-wing sympathies.

Er wollte nicht als Angry Young Man gehandelt werden (der deutsche Wikipedia Artikel stellt ihn beinahe als Zentralfigur dar - der englische nicht), und wenn man es genau betrachtet, hat sein Roman Lucky Jim auch sehr wenig mit ➱John Braines Room at the Top zu tun. Lucky Jim ist der Roman, der ihn berühmt gemacht hat, und es ist nach über sechzig Jahren immer noch ein schöner Roman. Satirisch und komisch. His humor is much more thoroughly moral than either Shaw's or Waugh's, and in his early books it was a very different kind of morality— essentially concerned with the difficulties of sexual life and with emotional and intellectual sincerity, hat Martin Burgess Green geschrieben.

Vielleicht beginnt das Genre des Universitätsromans mit diesem Roman. Die Universität kannte Amis gut, nicht nur, weil er in Oxford studiert hat. Er war dreizehn Jahre lang an der Universität Swansea und zwei Jahre in Cambridge, aber auch amerikanische Universitäten wie Princeton haben ihn gerne als Gastprofessor gehabt. Wir nehmen mal an, dass er sich dort anders benommen hat als der liebenswerte Chaot Jim Dixon, der Held des Romans Lucky Jim. Cambridge soll Amis übrigens verlassen haben, weil dort die Professoren zu wenig Wert auf Geselligkeit und Alkohol legten.

Universitätsromane sind eine typisch englische Gattung. Sie reichen von ➱Dorothy Sayers Gaudy Night über das A Staircase in Surrey Quintett von J.I.M. Stewart (denn wir besser unter seinem Pseudonym ➱Michael Innes kennen) bis zu David Lodge. Die Gattung ist bei den Engländern am besten aufgehoben. Der Campus von Schwanitz ist ein klägliches Elaborat, bei dem die ganze Struktur von ➱Tom Wolfes Bonfire of the Vanities geklaut war. Ich habe in dem Post ➱Ray Bradbury einiges zu dem Thema Universitätsroman gesagt und hebe mir das Thema mal für spätere Zeiten auf.

Amis hat sich immer für die Dinge interessiert, die außerhalb des Curriculums der Universität lagen. Zum Beispiel für die Science Fiction. Ein Genre, das ich überhaupt nicht mag, das habe ich in dem langen Post ➱Fantasy schon dargelegt. Aber ich habe sein Buch New Maps of Hell: A Survey of Science Fiction natürlich gelesen. Hat mir das Genre allerdings auch nicht näher gebracht. Was mir näher liegt, ist dieses Buch, von dem ich sogar die Erstausgabe besitze. Ist immer noch, trotz der Unmengen von Sekundärliteratur zu dem Thema, eines der besten Bücher zu dem Phänomen James Bond. Im gleichen Jahr erschien auch The Book of Bond or, Every Man His Own 007 von einem gewissen  Colonel William ("Bill") Tanner, der natürlich niemand anderer als Kingsley Amis war.

Aber das war dem Schriftsteller noch nicht genug, er musste unbedingt auch noch einen James Bond Roman schreiben. Diesmal unter dem Pseudonym Robert Markham. Ein Roman, der übrigens besser ist als manche Romane von Fleming. Das fand Anne Fleming, die Witwe von Ian Fleming, überhaupt nicht, sie schrieb in einer Rezension für den Sunday TelegraphAmis will slip Lucky Jim into Bond’s clothing, we shall have a petit-bourgeois red-brick Bond, he will resent the authority of M., then the discipline of the Secret Service, and end as Philby Bond selling his country to SPECTRE. 

Das sind natürlich Bücher, mit denen man viel Geld verdienen kann. Und Amis, der 1961 seinen Job an der Universität von Swansea aufgab, verdiente viel Geld. Er kaufte sich keinen Rolls-Royce: er konnte überhaupt nicht fahren. Autos interessierten ihn nicht. Er brauchte viel Geld für seinen Lebensstil, seine beiden Scheidungen kosteten ein Vermögen (im Alter jammerte er, dass es der größte Fehler seines Lebens gewesen sei, Hilly zu verlassen). Und dann ist da noch der Alkohol: In the month of February 1993, while still active and ambulatory, if not exactly fit, Amis spent £315 on radio taxis, £432 on the Garrick Club (not including annual subscription) and £1.038 on drink, schreibt Zachary Leader in The Life of Kingsley Amis. Es verwundert nicht, dass Amis ein Buch über das Trinken geschrieben hat. Falls ein Leser gerade verkatert sein sollte, empfehle ich daraus die Lektüre des Kapitels ➱The Hangover.

Oder einen Blick auf den verkaterten Jim Dixon in Lucky Jim zu werfen: Dixon was alive again. Consciousness was upon him before he could get out of the way; not for him the slow, gracious wandering from the halls of sleep, but a summary, forcible ejection. He lay sprawled, too wicked to move, spewed up like a broken spider crab on the tarry shingle of the morning. The light did him harm, but not as much as looking at things did; he resolved, having done it once, never to move his eyeballs again. A dusty thudding in his head made the scene before him beat like a pulse. His mouth had been used as a latrine by some small creature of the night, and then as its mausoleum. During the night, too, he’d somehow been on a cross-country run and then been expertly beaten up by secret police. He felt bad.

Ich habe das kleine Portrait von Kingsley Amis mit einem Gedicht begonnen, ich will mit einem Gedicht schließen, das instead of an epilogue am Ende seiner Memoirs steht. Es ist seiner Ex-Frau Hilary gewidmet, bei der er im Alter wieder landete. Die ist inzwischen Lady Kilmarnock, weil sie Alastair Boyd, den siebten Baron Kilmarnock geheiratet hatte. Aber das Haus hatte Kingsley ihr gekauft, jetzt zog er da wieder ein. Und das Ehepaar Kilmarnock besorgte ihm den Haushalt. Hier ist Amis mit Hilly und seinem Sohn Martin zu sehen.

Der ist auch Schriftsteller geworden, er hat über die letzten Lebensjahre seines Vaters das rührende Buch Experience geschrieben. Aber in dem Gedicht für Hilly wird er nicht erwähnt. Kingsley Amis hat seinen Sohn sowieso selten erwähnt: How could he be so incurious about me? fragte Martin Amis nach dem Tod seines Vaters. Vielleicht rebelliert er immer noch gegen seinen Vater. Das hat er geerbt, er ist auch gegen alles. Vor allem gegen das Königshaus: Still, I allowed myself to say impetuously when she greeted me: You knighted my father. Her only reaction was to look far away, vaguely staring at a painting on the wall. That's all. Einen Adelstitel würde er ablehnen, seine Meinung über die königliche Familie: They are philistines. Vielleicht wird er ja noch mal erwachsen.

In einem Punkt hatte Martin Amis natürlich recht, ➱Lisbeth hätte sich an seinen Vater erinnern können. Sehr wenige Schriftsteller sind von ihr geadelt worden. Viel mehr Schauspieler. Gleichzeitig mit Amis bekommt ➱Peter Ustinov seinen Titel. Und ein Mann, den man heute besser nicht mehr erwähnt: ➱Jimmy Savile. Kingsley Amis, der wahrscheinlich nicht wegen seiner literarischen Verdienste, sondern wegen seiner Nähe zu Maggie Thatcher geadelt wurde, hatte Schiss vor der Zeremonie. Er fürchtete, dass er der Königin auf die Füße treten könnte. Oder dringend zum Klo müsste, sein Arzt pumpte ihn mit Imodium voll. Als er zum Buckingham Palast kam, hatte er seine Einladung vergessen. Man ließ ihn nur hinein, weil er in der Begleitung von Mavis Nicolson kam. Die kannte das Palastpersonal aus dem Fernsehen.


Instead of an epilogue:

I.
In 1932 when I was ten
In my grandmother’s garden in Camberwell
I saw a Camberwell Beauty butterfly
Sitting on a clump of Michaelmas daisies.
I recognised it because I’d seen a picture
Showing its brownish wings with creamy edges
In a boy’s paper or on a cigarette-card
Earlier that week. And I remember thinking,
What else would you expect? Everyone knows
Camberwell Beauties come from Camberwell;
That’s why they’re called that. Yes, I was ten.

II.
In 1940 when I was eighteen
In Marlborough, going out one winter’s morning
To walk to school, I saw that every twig,
Every leaf in the vicar’s privet hedge
And every stalk and stem was covered in
A thin layer of ice as clear as glass
Because the rain had frozen as it landed.
The sun shone and the trees and shrubs shone back
Like pale flames with orange and green sparkles.
Freak weather conditions, people said,
And one was always hearing about them.

III.
In ’46 when I was twenty-four
I met someone harmless, someone defenceless,
But till then whole, unadapted within;
Awkward, gentle, healthy, straight-backed,
Who spoke to say something, laughed when amused;
If things went wrong, feared she might be at fault,
Whose eye I could have met for ever then,
Oh yes, and who was also beautiful.
Well, that was much as women were meant to be,
I thought, and set about looking further.
How can we tell, with nothing to compare?

Montag, 19. Oktober 2015

cracked archangel


Nein, jetzt nicht noch mal ➱Nico, obgleich der Titel auch für sie passen würde. Cracked archangel hat Herman Melville den englischen Universalgelehrten Sir Thomas Browne genannt, der heute vor 410 Jahren geboren wurde. W.G. Sebald (der ➱hier einen Post hat) hat ihn in seinen Roman Die Ringe des Saturn hineingeschrieben. Melville hat sich immer wieder aus dem Werk des Arztes und Philosophen bedient. Haben andere auch getan. Das Motto von Edgar Allan Poes berühmter Erzählung The Murders in the Rue MorgueWhat song the Syrens sang, or what name Achilles assumed when he hid himself among women, although puzzling questions, are not beyond all conjecture - stammt auch von Brown. Putzt ungemein. Als John Aubrey ihn um einen kurzen Lebenslauf (denn die Lebensläufe in seinem ➱Buch Brief Lives sind angenehm kurz) gebeten hatte, schickte ihm Browne diese Zeilen: I was born in St Michael's Cheap in London, went to school at Winchester College, then went to Oxford, spent some years in foreign parts, was admitted to be a Socius Honorarius of the College of Physicians in London, Knighted September 1671, when the King Charles II, the Queen and Court came to Norwich. Writ Religio Medici in English, which was since translated into Latin, French, Italian, High and Low Dutch, Pseudodoxia Epidemica, or Enquiries into Common and Vulgar Errors translated into Dutch four or five years ago. Hydriotaphia, or Urn Buriall. Hortus Cyri, or de Quincunce. Have some miscellaneous tracts which may be published.

So kurz fasst er sich in Religio Medici oder Urn Buriall sonst nicht. Sein Werk ist der wunderbarste Kuddelmuddel, den es gibt. Stilistisch eine Herausforderung, die englische Sprache verdankt ihm hunderte von Wörtern, die es vorher nicht gab. Natürlich solche Wörter, die man damals hard words nannte. ➱Dr Johnson, der Verfasser des ersten englischen Wörterbuchs (das Becky Sharp in ➱Thackerays Vanity Fair aus dem Kutschenfenster wirft), war von Thomas Brown begeistert: His style is, indeed, a tissue of many languages; a mixture of heterogeneous words, brought together from distant regions, with terms originally appropriated to one art, and drawn by violence into the service of another. He must, however, be confessed to have augmented our philosophical diction; and, in defence of his uncommon words and expressions, we must consider, that he had uncommon sentiments, and was not content to express, in many words, that idea for which any language could supply a single term.

Er wird anscheinend heute immer noch gelesen. In England ist gerade das Buch The Adventures of Sir Thomas Browne in the 21st Century von Hugh Aldersey-Williams erschienen, die Rezensenten sind von dem Buch sehr angetan. Ich komme allerdings nicht so recht in Versuchung, es zu kaufen. Thomas Brownes Werke stehen bei mir im Regal. Nicht mal in der zweiten Reihe. Ich will gerne gestehen, dass ich nicht alles gelesen habe. Ich weiß auch nicht, ob man ihn wirklich lesen muss. Manchmal ist er gut für Zitate wie Be able to be alone. Lose not the advantage of solitude, and the society of thyself. Aber er geht einem mit seiner Gelehrsamkeit auch furchtbar auf die Nerven. Im Gegensatz zu Michel Montaigne. Auf diesen Autor (der ➱hier im Blog immer wieder erwähnt wird) komme ich, weil uns Kindlers Literatur Lexikon sagt, dass man Browne den englischen Montaigne genannt hat. Wenn man die Wahl zwischen ihm und Montaigne hat, dann sollte man immer Montaigne lesen.

Zeit der Unschuld


Heute um 20.15 Uhr zeigt Arte im Rahmen einer Hommage an Martin Scorsese (der gerade in der Cinémathèque Française gewürdigt wird) den Film Zeit der Unschuld (✺ The Age of Innocence). Es ist die Verfilmung eines Romans von Edith Wharton. Eine Autorin, die viel zu selten hier vorkommt (sie wird in den Posts ➱Henry James und ➱Lilla Cabot Perry erwähnt). ➱F. Scott Fitzgerald bewunderte die Freundin von Henry James, aber sie fand den ständig besoffenen Fitzgerald ein wenig disgusting. In ihren Erinnerungen A Backward Glance erwähnt sie ihn mit keinem Wort.

Dieses Bild kommt wie das oben mit Daniel Day-Lewis und Michelle Pfeiffer auch aus der Verfilmung eines Romans von Edith Wharton. Es ist ein Szenenphoto aus dem verloren gegangenen Stummfilm The Glimpses of the Moon. Zu dem Fitzgerald übrigens einige der Dialogtexte beisteuerte, die in dem Stummfilm auf Tafeln zu sehen waren. Der Film war damals (wie der Roman) ein Erfolg. Und machte die Autorin um zigtausend Dollars reicher.

Was man alles in der hervorragenden Wharton Biographie von R.W. B. Lewis nachlesen kann, die einen Pulitzer Prize erhielt. Den Wharton für The Age of Innocence auch erhalten hatte. Hier steht Daniel Day-Lewis neben der schnuckeligen Winona Ryder (die die May Welland spielt). Schöne Frauen, schöne Kostüme - was soll da noch schiefgehen? Ich hätte etwas zu nörgeln, weil der Film (der ein kommerzieller Flop war) nicht ansatzweise an eine Literaturverfilmung wie The Go-Between heranreicht (dazu gibt es ➱hier einen langen Post). Dies ist eher die amerikanische Variante einer Merchant-Ivory Produktion.

Das Problem des Filmes ist die voice-over narration, die das Panorama der opulent ausgestatteten Szenen zusammenzuhalten versucht. Scorsese hat dazu gesagt: I like theatre, but theatre is theatre and movies are movies. They should be separate. For The Age of Innocence I wanted to find a way of making something literary – and you know how America is cowed by the tyranny of the word– also filmic. I also wanted a massive use of the voiceover because I wanted to give the audience the impression I had while reading the book. 

Es ist eine problematische Sache mit der extradiegetischen Narration. Wie Theoriefreaks das nennen. Dazu gibt es in dem Post ➱Bertrand Tavernier ein kleine witzige Geschichte. In Filmen von ➱Terrence Malick kann das aufgehen. Es kann auch bei Literaturverfilmungen funktionieren, aber da gilt vielleicht die Warnung Harold Pinters. Der, als er an The Proust Screenplay arbeitete, ➱notierte: The use of voice over [sic] may be necessarily [sic] but, if so, I would think most sparingly. Und Scorseses voice-over geleitet uns durch die Handlung, trifft aber nicht (und kann das bei einer Autorin wie Wharton auch nicht) die Nuancen der Erzählweise des Romans. Aber ich will den Film nicht miesmachen, es ist etwas für das Auge. Und immer noch besser als der Rest des Fernsehprogramms. Ich habe den Film einmal mit abgeschaltetem Ton gesehen. War sehr schön.

Sie werden sich jetzt sicher fragen, was dieses Bild hier soll. Das ist nicht Jay am Sonntagabend nach dem Schuheputzen. Das ist auch nicht die Fortschreibung der vielen Posts zu den englischen Schuhen, die erst einmal mit einem Bild von meinem ➱Haderer endete. Das hier ist der italienische Meisterschuhmacher Stefano Bemer, der leider schon 2012 gestorben ist. Er hat wunderbare Schuhe gemacht, die Firma wird immer noch weitergeführt. Und was hat er mit diesem Post zu tun? Sie werden es nicht glauben, er hatte mal einen Lehrling namens Daniel Day-Lewis. Der stand eines Tages bei ihm in Florenz im Laden und wollte alles über Schuhe wissen. Und kam dann für die nächsten acht Monate jeden Morgen um acht, um das Handwerk zu lernen.

Es gibt heute außer diesem Fernsehtip noch irgendwann einen zweiten Post. Ich bin heute spendabel.

Sonntag, 18. Oktober 2015

Hintergrund


Er ist nicht mehr so furchtbar berühmt, dieser Lucas van Uden, der heute vor 420 Jahren in Antwerpen geboren wurde. Er malt Landschaften. Für die Bilder anderer Maler, so sagt man. Hier für Jan Brueghel, er hat aber auch Landschaften für David Teniers und wohl auch andere gemalt. Der deutsche Wikipedia Artikel sagt uns: Er ist vorzugsweise dadurch bekannt geworden, dass er für Rubens und David Teniers dem Jüngeren Landschaften malte, die jene mit Figuren versahen. Dem widerspricht der Kunsthistoriker Hans Devisscher energisch, und ich nehme an, dass er mehr davon versteht, als der Verfasser des deutschen Wikipedia Artikels. Der wahrscheinlich derjenige ist, der 1888 den Artikel für Meyers Konversations Lexikon geschrieben hat.

Devisscher weist darauf hin, dass Lucas van Udens Malerkollege Jan Wildens (von dem dieses schöne Bild stammt, das in Dresden hängt) sehr häufig mit Rubens zusammengearbeitet hat. Aber nicht unser Lucas van Uden. Der bleibt im Hintergrund. Und es sind andere Maler, die ihm die Figuren in die Landschaft malen. Wie oben Jan Breughel bei der Flusslandschaft mit Reisenden und Tänzern. Wurde vor zwei Jahren beim Auktionshaus Dorotheum für 45.375 € verkauft, der Schätzwert lag weit darüber.

Die in den Niederlanden beliebten Winterlandschaften kann der Flame Lucas van Uden auch malen. Wir lassen die Frage jetzt einmal weg, ob die Figuren der Jäger und der ➱Schlittschuhläufer von David Teniers oder Joos de Momper gemalt sind. Nehmen wir das Bild nur als Landschaftsbild. Es ist ganz anders als Brueghels bekanntes Winterbild mit den heimkehrenden Jägern (das schon in dem Post ➱Winter zu sehen ist). Es ist ein geheimnisvolles Licht. Kann es noch die Sonne sein? Wo die Wolken aufreißen, haben wir einen blauen Himmel. Oder ist es doch das Mondlicht? Es ist ein Licht, das keinen Schatten wirft.

Die Flamen und Holländer verblüffen uns ja immer wieder mit dem Licht auf ihren Bildern. Licht en lucht, dat is de kunst, hat Jan Hendrik Weissenbruch gesagt, das steht schon in dem Post ➱Holländer. In dem es natürlich um licht en lucht geht. Das Bild von Ruisdael war auch schon einmal hier zu sehen, in dem Post zu ➱Richard Oelze (in dem es auch um dieses seltsame Licht geht). Goethe, der in seinem Essay Ruisdael als Dichter enthusiastisch über Ruisdael geschrieben hat, ist an dem geheimnisvollen Licht kaum interessiert. Erst am Schluss seines Essays erwähnt er es: Ein Lichtblick, den Regenschauer überwindend, beleuchtet ein Paar aufgerichtete, schon beschädigte Grabestafeln, einen ergrauten Baumstamm und Stock, vor allem aber die heranfluthende Wassermasse, ihre stürzenden Strahlen und den sich entwickelnden Schaum. 

Das mit der heranfluthenden Wassermasse ist natürlich eine gewaltige Übertreibung. Wir sollten bei dem Mini-Wasserfall aber mal eben erwähnen, dass Ruisdael die Wasserfälle in die holländische Malerei gebracht hat. Obwohl es in Holland gar keine Wasserfälle gibt. Ich habe hier noch ein Winterbild von Lucas van Uden. Es hat wieder diese leicht erhöhte Perspektive, die man Kavalierperpektive nennt. Und es ist da wieder dieses Licht von oben, das keine Schatten wirft. Diese Winterlandschaften mit dem geradezu metaphysischen Licht fallen aus den ➱Landschaften von van Uden heraus.

Dem Kunsthistoriker Eduard Plietzsch gefallen die Winterbilder in seinem Buch Holländische und flämische Maler des XVII. Jahrhunderts überhaupt nicht: Ermangeln die lieblichen Sommerlandschaften van Udens der Wärme und Leuchtkraft, so atmen seine seltenen Winterbilder . . . auch keinen eisigen Hauch von Frost und Kälte aus. Das kleine Gehölz, das hügelige Gelände, die Teiche mit sich tummelnden Schlittschuhläufern sind nur mit einer dünnen Schneeschicht überkrustet und wirken, als seien sie mit Staubzucker bestreut. Eduard Plietzsch ist Experte. Er hat im Zweiten Weltkrieg in Holland die beschlagnahmte Kunst für die Sammlungen von Adolf Hitler und Hermann Göring sortiert.

Angeblich gibt es gar keine ➱Winterbilder im Werk von van Uden. Sagt auf jeden Fall Walter Bernt in seinem dreibändigen Werk Die niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts. Ein Buch, das sich vornehmlich an Sammler und Kunsthändler richtete. Walter Bernt ist auch Experte. In der Dissertation von Wolfgang Adler über Jan Wildens, der Landschaftsmitarbeiter des Rubens sagt Adler allerdings, dass ihm fünfzehn Winterbilder von van Uden bekannt seien. Es ist mit dem Expertentum von Bernt (der eine der größten ➱Photosammlungen zur holländischen Malerei besaß) nicht so furchtbar weit her. Wenn Sie dieses amüsante ➱Interview mit Thomas Rusche (dem Besitzer der Modekette Sör) lesen, werden Sie dem Experten Walter Bernt kein Wort mehr glauben. Sein dreibändiges Werk steht auch bei mir im Regal, aber ich habe es vor Jahrzehnten sehr billig beim New Yorker ➱Strand Book Store bekommen.

Der Maler aus Antwerpen, dessen Vater auch schon Maler war, ist immer wieder mit Rubens in ➱Verbindung gebracht worden. Im 19. Jahrhundert nahm man noch an (so zum Beispiel Jacob Burckhardt), dass er ein Schüler von Rubens gewesen sei. Oder in seinem Studio gearbeitet hat. Da ist man heute vorsichtiger geworden. Was Hermann Arthur Lier 1895 in der Allgemeinen Deutschen Biographie schreibt, hat heute wohl keinen Bestand mehr: Er verdankte seine Ausbildung dem Studium der Natur und dem Selbstunterricht und erzielte dabei so schöne Erfolge, daß er, erst zwei und dreißig Jahre alt, im J. 1627, als Meister in die Sanct Lucasgilde von Antwerpen aufgenommen wurde. Von diesem Zeitpunkt an nahm ihn Rubens, der seine Landschaften bewunderte, in seine Schule auf und beschäftigte ihn vielfach in seinen Diensten, namentlich zum Ausmalen der Hintergründe in seinen Bildern. Unter der Anleitung von Rubens lernte U. eine leichtere und malerische Pinselführung und gab seitdem seinen Bildern einen wärmeren Ton und überhaupt eine reichere, kräftigere Färbung. Was van Uden mit Rubens verbindet, sind die Kupferstiche. Weil er viele Gemälde von Rubens nachgestochen hat.

Er war zu seiner Zeit durchaus berühmt, hier hat ihn sein Kollege van Dyck gezeichnet. Der kommt wie van Uden auch aus Antwerpen, war wie dieser (und Peter Paul Rubens) in der Antwerpener Lukasgilde. Lucas van Uden zählt aber kaum wie diese beiden Malerkollegen zu den ganz großen Malern. Auktionshäuser sehen es gerne, wenn ein Experte schreibt: Uden ist einer der qualitätvollsten flämischen Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts. Sein Werk setzt das Rubens’sche Vorbild am reinsten und auf malerisch höchstem Niveau fort. Das steigert den Preis.

Es steigert natürlich auch den Preis, wenn ein berühmterer Maler die Staffage der Figuren in das Bild gemalt hat, wie bei der Landschaft mit den Reisenden und den tanzenden Bauern. Dann kann man das schon als Brueghel verkaufen. Es ist aber auch schön, wenn die National Gallery bei dieser Zusammenarbeit von Lucas van Uden und David Teniers, den Namen van Uden als ersten nennt. Dass er nur ein Maler des Hintergrunds bleibt, das können wir wohl vergessen.

Es gibt jetzt viel Zusammenarbeit bei den Malern in Flandern und Holland. Wenn einer ganz berühmt wird, dann hat er eine Werkstatt. Wo andere ihm zuarbeiten. Unsere Ideen vom Originalgenie funktionieren nicht mehr so ganz. Als das Buch Rembrandt als Unternehmer: Sein Atelier und der Markt von Svetlana Alpers erschien, waren viele Kunstfreunde etwas verstört. Die Wörter Unternehmer, Atelier und Markt waren nicht das erste, was man mit ➱Rembrandt verband. Vor hundert Jahren war das Werk von Rembrandt überwältigend groß, es ist heute überschaubarer geworden. Viele Rembrandts haben inzwischen einen anderen Namen bekommen, weil man sie als Arbeiten von Schülern und Kollegen identifiziert hat.

Ich habe hier zum Schluss noch ein Beispiel dafür, dass der Maler des Hintergrunds wieder in den Hintergrund tritt. Dieses schöne Bild hängt im Nationalmuseum Warschau, wird dort natürlich als David Teniers geführt. Der allerdings nichts anderes getan hat, als die Figuren in das Landschaftsbild von Lucas van Uden zu malen. Aber auch als Maler des Hintergrunds hat der Antwerpener Meister (der Jan Baptist BonnecroyPhilips Augustijn Immenraet und Gillis Neyts als Schüler hatte) nicht schlecht verdient. Hermann Arthur Lier hat allerdings im Jahre 1895 einiges an ihm auszusetzen: U., der sich am 14. Februar 1627 mit Anna van Woelput vermählt hatte, lebte in Wohlstand, huldigte aber in sittlicher Beziehung ziemlich leichten Grundsätzen, da wir sowol vor als nach seiner Verheirathung von seinen unehelichen Kindern hören. In seinem Ansehen als Künstler scheint ihm diese leichte Lebensanschauung nichts geschadet zu haben. Wir lassen ihm das mit der leichten Lebensanschauung an seinem 420. Geburtstag mal durchgehen.

Freitag, 16. Oktober 2015

Nico


Wenn man in den Sixties cool sein wollte, dann sah man so aus. Vor allem wie die Frau da rechts. Blond, kalt wie Eis. Sie sah aus, als wäre sie am Bug eines Wikingerschiffs über den Atlantik gekommen, hat Andy Warhol über sie gesagt. Den Herrn mit der Sonnenbrille (it's never too dark to be cool) kennen Sie bestimmt. Das ist der, der die Zeilen And the colored girls go Doo do doo, doo do doo, doo do doo unsterblich gemacht hat. Der hat hier natürlich schon einen Post. Die Frau neben ihm war angeblich das erste Supermodel der Welt, obwohl der Titel wohl eher an Lisa Fonssagrives gehen sollte. Aber es musste damals das Wort super sein, weil der Andy Warhol sie als chanteuse der Band Velvet Underground vermarktete. Die coole Blondine kam aus Köln und hieß Christa Päffgen.

Wir wissen, dass man in der Welt der Reichen und Schönen (und der schönen Illusionen) nicht Christa Päffgen heißen kann. Auf jeden Fall nicht, wenn man neben Marcello Maistroianni in einer kleinen Nebenrolle in La Dolce Vita zu sehen sein will. Der bei der Begrüßung Nicuuu flötet. Sie taucht in der Besetzungsliste des Films in der IMDb natürlich nicht als Christa Päffgen, sondern als Nico auf, weil sie sich selbst spielt (im Abspann des Films kann man den Namen Nico Otzak lesen, niemand weiß warum).

So berühmt ist sie damals schon, dass sie sich selbst spielen darf. Angeblich soll ihr Fellini eine zweite Rolle angeboten haben, aber sie hat abgelehnt: Ich bin zu schüchtern um Schauspielerin zu sein. Ich kann nicht so tun als sei ich eine andere, denn ich bin bereits eine andere. Für einen Film wie The Chelsea Girls und eine Vielzahl kleiner schrottiger Produktionen hat es aber dennoch gereicht.

Während der Dreharbeiten zu La Dolce Vita sagt Anouk Aimée zu Nico: Es ist eigenartig, daß Sie den Namen Nico tragen. Mein Ehemann hieß so. Wir sind jetzt geschieden. Er war Grieche und unterhielt in Paris einen Nachtclub. Das ist der Augenblick, in dem die Nico mucksmäuschenstill ist. Denn sie kennt diesen Nico. Der war der Lover von dem Photographen, der sie entdeckte und der ihr den Namen seines Ex-Lovers gab. Und eine Affäre hatte sie auch mit dem griechischen Nico. Das klingt jetzt wie eine Szene aus einer schlimmen Schmonzette à la Rosamunde Pilcher, aber solche Drehbücher schreibt das Leben manchmal. Anouk Aimées Name ist auch nicht ihr wirklicher Name, aber der Name ist nicht mit irgendwelchen Affären und Liebhabern verbunden. Den hat sich Jacques Prévert ausgedacht.

Warhol hat Christa Päffgen berühmt gemacht, aber nicht alles, was er machte, war genial, auf diesem Photo beruht ihre Karriere bestimmt nicht. Nico als Batman (Batwoman?) und Warhol als Robin, das ist geschmacklich ungefähr so wie Kelly Trump als Supergirl. Man kann die Popular Culture offensichtlich für alles ausbeuten. Das Photo ist bei den Dreharbeiten zu Andy Warhols Batman Dracula entstanden, aber in dem Film waren beide nicht zu sehen. Der Film war auch nicht zu sehen, weil er nie öffentlich gezeigt wurde. Wie man kommerziell erfolgreich die Comics ausplündert, zeigte Roger Vadim vier Jahre später mit Barbarella (was der Beginn der Karriere von Jane Fonda war). Die irritierende Frage bleibt, warum zieht Nico diese Klamotten an? Im Kölner Karveval wäre das ja OK. Die Antwort findet sich wahrscheinlich in jeder beliebigen Strophe von Erich Kästners Gedicht Sogenannte Klassefrauen:

Wenn es Mode wird, sich schwarzzuschmieren . . .
Wenn verrückte Gänse in Paris
sich die Haut wie Chinakrepp plissieren . . .
Wenn es Mode wird, auf allen Vieren
durch die Stadt zu kriechen, machen sie's.

Nico kam im Wintersemester 1967/1968 in mein Leben (und natürlich ein Jahr später, als Zadek seinen Film Ich bin ein Elefant, Madam herausbrachte). Weil Klaus Wellershaus vom NDR im Tagungszentrum Koppelsberg einen beinahe ganztägigen Vortrag (mit vielen Musikbeispielen) über die Pop Music aus den USA hielt (die Geschichte steht schon in dem Post Marshall McLuhan). Einen wie Klaus Wellershaus hat der NDR nie wieder gehabt, aber dafür bekommt der Intendant des NDR heute das x-fache von dem, was der Intendant Gerhard Schröder damals verdient hat. Falls Sie zufälligerweise nicht wissen sollten, wer Klaus Wellershaus ist, dann sollten Sie unbedingt den schönen Artikel von ➱Heinz Rudolf Kunze aus dem Jahre 2002 lesen.

Vielleicht war Christa Päffgen gar keine echte Blondine, aber in den sechziger Jahren musste man Blondine sein. Der junge Mann in diesem Filmphoto weiß überhaupt nicht, wo er hinschauen sollte. Der Film hieß The Knack ... and How to Get It, Richard Lester hatte ihn zwischen zwei Beatles Filmen gedreht (klicken Sie doch einmal hier). Mit vielen Blondinen (Jacqueline Bisset, Charlotte Rampling und Jane Birkin waren auch in dem Film). Wasserstoffsuperoxyd, Khol und Kajal, die chemische Industrie und die Stylisten bewirken jetzt Wunder. Glücklicherweise war aber auch Rita Tushingham in dem Film, die keine Blondine, sondern eine gute Schauspielerin war.

Natürlich gab es in den Sixties auch echte Blondinen, aber die kamen entweder aus Schweden oder aus Dänemark. Wie Nina van Pallandt. Die konnte auch wirklich singen, was Nico nicht konnte (Carla Bruni kann auch nicht wirklich singen, macht das aber besser als Nico). Und sah immer gut aus. Sowohl in der ➱Schnulze Mandolinen und Mondschein wie im Alter in Robert Altmans Verfilmung von Raymond Chandlers The Long Goodbye. Aber Nina Möller, die einen dänischen Baron geheiratet hatte, war natürlich niemals die Muse von Andy Warhol. Und Leonard Cohen hat keine Songs für sie geschrieben. Und ➱Iggy Pop hat Nazi Girlfriend natürlich nur für Nico geschrieben.

Als Christa Päffgen sechzehn war, war sie auch schon einmal blond. Da wurde sie von dem Photographen Herbert Tobias entdeckt und gefördert, wäre es nicht dieser Photograph gewesen, hätte es bei Nico wohl nur für die Seiten von der Brigitte oder Constanze gelangt. Aber Tobias weiß, was der Zeitgeist haben will. Wenn es Will McBride gewesen wäre, wäre ihre Karriere vielleicht genau so gelaufen wie bei Herbert Tobias. Es ist die Zeit der coolen Ästhetik, die Zeit von Dieter Rams Schneewittchensarg und dem Design für das Magazin Twen von Willy Fleckhaus und Heinz Edelmann (es ist ja kein Zufall, dass Edelmann der Art Director des Films Yellow Submarine war).

Aber so herzig wie auf dem Farbphoto oben war sie natürlich nichts für die Zeitschrift Twen. Da musste man schon so aussehen wie das Modell Gill von Sam Haskins. Die Konkurrenz im Blondinengeschäft war in den Sixties sehr groß. England mit seinem Swinging London hatte Julie Christie und Jean Shrimpton aufzubieten (und Charlotte Rampling war auch mal blond), und die waren allemal schöner als Christa Päffgen. Die französischen Blondinen Brigitte Bardot, Catherine Deneuve und Mireille Darc sowieso.

Christa hatte ja einen sicheren Job in der deutschen Modewelt. Heinz Oestergaard (der hier einen Post hat - ja, es gibt auch Damenmode in diesem Blog) nahm sie mit nach Paris. Wo sie als Nico und nicht als Christa Päffgen auftrat. Das Mädchen, das im zerbombten Berlin aufwuchs, lernt jetzt die große Welt kennen. Dank der Berliner Damenmode, die nach der Vernichtung durch die Nazis in den fünfziger Jahren wieder einen guten Ruf hat. Gut angezogen sein, ist in der Nachkriegszeit und der Zeit des Wirtschaftswunders wichtig. Wahrscheinlich ist das, was sie mit Velvet Underground singt, auch ein klein wenig autobiographisch:

And what costume shall the poor girl wear?
To all tomorrow's parties
A hand-me-down dress from, who knows, where
To all tomorrow's parties

And where shall she go and what will she do?
When midnight comes around
She'll turn once more to Sunday's clown
And cry behind the door

And what costume shall the poor girl wear?
To all tomorrow's parties


Sie hat auch außerhalb Deutschlands Erfolg, sie bekommt schon in jungen Jahren einen Vertrag bei Chanel (und einen bei Lanvin). Sie hat allerdings ein Problem, sie kann kaum Englisch und kaum Französisch. Es ist auch noch nicht die Zeit der Supermodels, diese Hysterie kommt erst in den achtziger Jahren. Mit den Models vom Typ von Carmen Dell’Orefice oder Barbara Goalen (Bild), die so etwas Ladyisches an sich haben (wie Jil Sander das nennen würde), kann sie nicht mithalten, nicht vornehm und damenhaft genug.

Aber es gibt jetzt Bedarf an jüngeren Models. Die nicht in einem Rolls-Royce sondern auf einem Moped sitzen (oder auf einem Motorroller wie in dem Film The Knack). Christine Keeler war auch mal Model. Hier ist Nico in England, photographiert von dem berühmten Philip Townsend, in dessen Bilderarchiv man ➱hier hineinschauen kann. Townsend und Roger Mayne sind die Photographen der Stunde. Während Mayne die Londoner Straßen photographiert, lichtet Townsend alle ab, die jetzt nach oben wollen. Das ist er seinem Arbeitgeber Tatler schuldig. Dieses Bild ist wohl ein Versuch, einem Photomodell ein wenig street credibility zu geben. Aber reicht da ein englisches BSA Motorrad?

Der Welterfolg kommt für sie in Amerika mit diesem androgynen (Ich bereue nichts – außer kein Mann zu sein) teutonischen Eisköniginnen Look. Der Erfolg kommt, wenn der hohle Andy sie vermarktet: Ich kannte wirklich niemanden in Amerika außer Andy. Ich stand ihm ein​fach nahe. Was immer er auch tat, ich folgte ihm. Eine Zeitlang war ich vermutlich in ihn verliebt, obwohl wir unsere Freundschaft nie dreingaben. Das hat sie 1969 dem Twen gesagt.

In den fünfziger Jahren war sie nach Paris gezogen, das war ein Einschnitt in ihrem Leben. Auch deshalb, weil sie dort anfing, Drogen zu konsumieren. Das muss man in Paris offensichtlich tun. Dem Pariser reichen Pernod (oder Ricard) und Gauloises, aber wenn man Künstler ist, müssen es Drogen sein. Darüber könnte man eine kleine Kulturgeschichte schreiben. Die würde sicher mit Jim Morrison beginnen. Oder mit den amerikanischen Jazzern, die nach dem Krieg nach Paris kommen. Die leben ja scheinbar davon. Der Pianist Richard Twardzik ist wie Jim Morrison in Paris an einer Überdosis gestorben. In P.J. Kavanaghs wunderschönem Buch The Perfect Stranger: A Memoir findet sich eine Szene, wo der junge Kavanagh nachts mit Charlie Parker durch Paris wandert, der Saxophonist ist völlig high. Erinnert ein bisschen an Taverniers Film Round Midnight mit Dexter Gordon.

Zuerst waren das bei Nico ja nur Hasch und Amphetamine, die sie (wie viele Models) nahm, um ein Übergewicht zu verhindern. Die Modeindustrie scheint der Meinung zu sein, dass jedermann diese mageren Hühner sexy findet. Das war bei Twiggy nicht anders. Dieses Photo stammt aus einer Ausstellung in Köln zum siebzigsten Geburtstag der Kölnerin Christa Päffgen. Man wollte in Köln sogar einen Platz nach ihr benennen, aber der Antrag der Grünen scheiterte. Es schien der CDU fragwürdig, ob Frau Päffgen so ein tolles Vorbild für die Jugend ist. Vielleicht hatte auch die Brauerei Päffgen etwas dagegen. Aus der Brauereifamilie kam nämlich Christas Vater. Er soll das schwarze Schaf der Familie gewesen sein. Da kannten sie Christa noch nicht.

Und da ich bei schwarz bin, springen wir mal eben zum Ende der sechziger Jahre. Da gibt es eine völlig neue Nico. Da ist sie nicht mehr die kalte blonde arische Walküre, jetzt ist sie ganz, ganz dunkel. Wie hier auf dem Cover ihres Albums The Marble Index (➱hier ganz zu hören, wenn Sie wollen). Das Album gilt heute als Meilenstein der Musikgeschichte, der Musikrichtungen wie Dark Wave, Gothic und Punk, aber auch Ambient vorgriff und einläutete. Sagt Wikipedia. Kann ich nichts zu sagen, so etwas kommt mir nicht ins Haus. Ich fand schon Ingeburg Thomsens Weisse Sklavin etwas seltsam.

Es wäre ja schön, wenn die Mottenkiste der Gothic Novel des 18. und 19. Jahrhundert ein großes Vorhängeschloss hätte. Und man den Schlüssel weggeworfen hätte. Aber leider ist das nicht so, jedermann kann sich jederzeit aus dem literarischen Gruselkabinett bedienen (Sie können ➱hier alles dazu lesen). Hätte Professor Mario Praz Nico gekannt, er hätte sie sicherlich in Liebe, Tod und Teufel hineingeschrieben. Und wenn nur als Fußnote. Angeblich war es Jim Morrison, der sie mit der englischen Romantik bekanntmachte:

I think he was the first man I met who was not afraid of me in some way. We were very similar, like brother and sister. Our spirits are similar. We were the same height and the same age, almost … He was well read and he introduced me to William Blake and also the English Romantic poets who came after him. Jim liked Shelley. I preferred Coleridge. In fact, he is my favoured poet of all time. Did you know they were all drug addicts? Coleridge was addicted to opium. It is better to be addicted to opium than to be addicted to money. Vielleicht hätte sie noch dazu sagen müssen, dass Coleridge das letzte Drittel seines Lebens unter der Obhut seines Arztes lebte.

Nico hatte in Paris den Regisseur Philippe Garrel kennengelernt und lebt mit ihm zusammen. Er bringt sie auf das Heroin (falls das Jim Morrison nicht schon besorgt hat). Und sie singt in seinem Film Le Lit de la vierge das ➱Lied The Falconer. Es kommen bei ihrem highway to hell noch immer Leute zu ihren Konzerten, die jetzt an seltsamen Orten, dem Untersten des Untergrunds, stattfinden. ➱Amanda Lear hat mehr Zuhörer. Bei einem Auftritt in den siebziger Jahren singt sie die erste Strophe der deutschen Nationalhymne und widmet das Ganze Andreas Baader. Man hat sie mit Müll beworfen.

Heute vor sieben Jahren wäre sie siebzig geworden, da wurde sie überall abgefeiert. Im Underground und in Vanity Fair. Das hier ist natürlich nicht Christa Päffgen, so gut hat Nico nie ausgesehen. Das ist Birgit Doll, eine seriöse österreichische Schauspielerin. Die spielte 2008 in dem monologischen Theaterstück Nico: Sphinx aus Eis von Werner Fritsch die ältere Nico (es waren mehrere Nicos auf der Bühne, klicken Sie mal ➱hier). Hat auch nichts genützt, die Collage wurde von den Kritikern verrissen.

Immerhin nicht mit Müll beworfen. Den kurzen Text kann man immer noch kaufen, das Buch ist bei Suhrkamp erschienen. Einer der Amazon Rezensenten schrieb: Ich wollte dieses Buch wegschmeißen, aber das wäre gefährlich. Jemand könnte es wiederfinden. Da habe ich es verbrannt. Ich habe meine Pflicht zu Menschenskind erledigt. Das ist denn noch ein bisschen wie die Sache mit dem Müll. Man kann Nico: Sphinx aus Eis antiquarisch preiswert finden, das Stück ist gar nicht so schlecht. Und das auf dem Photo ist noch einmal Birgit Doll als Nico.

Das hier ist die echte Nico, aber das ist nicht das Kreuz ihres Grabes. Christa Päffgen liegt neben ihrer Mutter auf dem Selbstmörderfriedhof im Berliner Grunewald. Als sie 1988 auf Ibiza stirbt, war sie neunundvierzig Jahre alt. Niemand hätte die Nico von damals erkannt, als man sie zum Popgirl '66 wählte, mit verfilzten schwarzen Haaren, das Gesicht aufgedunsen von Alkohol und Methadon. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, um sich Hasch zu besorgen. Manche gehen unter, weil die Gesellschaft gegen sie ist. Christine Keeler wäre ein Beispiel. Nico geht unter, weil sie geglaubt hat, man könne wirklich mit dem Tod flirten.

Denn schon 1970 (nach dem Tod ihrer Mutter) hatte sie auf ihrem Album Desertshore gesungen:

Liebes kleines Mütterlein
Nun darf ich endlich bei Dir Sein
Die Sehnsucht und die Einsamkeit
Erlösen sich in Seligkeit


Der Dokumentarfilm Nico / Icon von Susanne Ofteringer war in sieben Teilen bei YouTube zu sehen. Gibt es nicht mehr, aber ich habe hier einen Ersatz.