Ich hätte fragen sollen, wer da singt. Die Fetzen der Musik, die aus dem Plattenladen auf die Straße drangen, klangen betörend. Klang wie ein Chanson mit einem Cello im Hintergrund. Aber ich musste dringend zu meinem Auto zurück, die Parkzeit war längst abgelaufen. Als ich Tage später wieder in der Stadt war, erkundigte ich mich, ob jemand noch wüsste, was an dem Nachmittag im CD Player war. Wusste natürlich niemand mehr. Man riet mir zu Saudade von der Thievery Corporation (kann man ➱hier ganz hören), die CD verkaufe man wie geschnitten Brot. Saudade heißt Sehnsucht, Traurigkeit, Melancholie und Einsamkeit. Das Wort ist in der Top Ten Liste der unübersetzbaren Wörter.
Man weiß nicht einmal genau, woher das Wort kommt. Ich zitiere einmal den Linguisten Patrick Farrell: Saudade is a quintessential Brazilian and Western Iberian emotion concept. The word does not exist in Spanish, except in some translations of Portuguese works and perhaps in the form soledad ‘solitude’, which apparently could at one time be used in a way similar to saudade (Vasconcellos 1914:67–72). Saudade does, however, occur in Galician, with a meaning much like that of the Portuguese cognate (Piñeiro 1953; García 1985). Expressing sentiments shared by many who have studied this word, the 19th century Portuguese poet Almeida Garrett declares in a note on his epic poem 'Camões' that saudade is the sweetest, most delicate, and most expressive word of Portuguese and that, although this emotion is surely felt in other cultures, having a specific word for it “não o é de outra nenhuma linguagem senão da portuguesa” (‘is the case for no other language but Portuguese’; Castro 1980:8). Saudade constitutes a salient theme in Portuguese poetry, from Luís de Camões to Fernando Pessoa, and pervades the lyrics of Brazilian bossa nova and the popular novels of Jorge Amado. Being at least equally common in routine informal discourse, it is among the most frequent emotion words in the Portuguese language.
Es gab mal eine Segelyacht gleichen Namens, die dem Hamburger Albert Büll gehörte. Sie war rot, und hieß deshalb in Seglerkreisen auch die rote Sau. Was natürlich nichts mehr mit saudade und der Sehnsucht zu tun hat. Auf dem Heckspiegel der Yacht standen unter dem weißen Schriftzug Saudade nur die Buchstaben NRV und RORC (ich habe das mal aus nächster Nähe photographiert), steht für Norddeutscher Regatte Verein und Royal Ocean Racing Club, mehr geht unter Seglern nicht.
Vielleicht doch. Es gibt da noch die Royal Yacht Squadron, deren Mitglieder statt des Red Ensign die englische Seekriegsflagge setzen dürfen. Da kommt man aber schwer rein, das haben im letzten Jahrhundert nur zwei Deutsche geschafft: Kaiser Wilhelm II und der Hamburger Hans-Otto Schümann. Mehr an Erfüllung eines Traumes von der Englishness kann es für einen Hamburger wohl nicht geben. Hamburger möchten (wie auch Bremer) ja immer gerne kleine Engländer sein. Es hat Oswalds gegeben, die sich als ➱O'Swald stilisierten, es hat Hamburger Millionäre wie ➱Gustav Christian Schwabe und ➱Sir John Henry von Schroder gegeben, die richtige Engländer geworden sind. Aber keine Mitglieder in der Royal Yacht Squadron.
Das mit der roten Saudade war vor vierzig Jahren, als Deutschland zum ersten Mal den Admiral's Cup gewann. Die Carina III (hier im Kieler Hafen) war auch dabei, die Dieter Monheim gehörte. In dessen Schokoladenfabrik (Trumpf Schokolade) regierte der Kunstsammler Peter Ludwig. Der kaufte sich aber keine Luxusyachten, der sammelte Kunst. Für Dieter Monheim war auch noch ein bisschen Geld da, so konnte er seine Yacht finanzieren. Gesegelt wurde die Yacht von Hans Beilken, sein Bruder Berend hatte auf der Saudade das Sagen. Ich kannte sie beide, denn sie kamen aus meinem Heimatort, wo sie eine Segelmacherei besaßen. Mit der Ex von einem der beiden war ich in der Evangelischen Jugend gewesen.
Und falls sie das hier lesen sollte: Antje, wo ist die Flasche zollfreier Whisky, die Du mir vor Jahren versprochen hast? In dem Trio der deutschen Admiral's Cup Bootseigner segelte nur Hans-Otto Schümann (dessen Yachten immer Rubin hießen) selbst. Drei Jahre zuvor hatten die Engländer und nicht die Vegesacker das Rennen gewonnen, der Captain ihrer Mannschaft war kein Geringerer als der englische Premierminister. Dies Bild zeigt die Besatzung der Saudade im Jahre 1973, die sehen noch aus wie jedermann damals aussah. Könnte ein Photo von meiner Fußballmannschaft sein. Heute sehen die Besatzungen von hochgezüchteten Teflon Rennziegen eher furchterregend aus.
Die CD Saudade von der Thievery Corporation ist ja ganz nett, wenn man die Thievery Corporation mag. Ansonsten ist das wie Astrud Gilberto, nur mit schlechterer Combo. ➱Astrud Gilberto kann ich immer hören, vielleicht liegt das daran, dass ich in den sechziger Jahren steckengeblieben bin. Und damit meine ich natürlich nicht ➱Manuelas Schuld war nur der Bossa Nova. Ich kenne mich mit portugiesischem Fado, kubanischer und brasilianischer Musik nicht so aus, doch ich kann an keinem Sonderangebot dieser Musik vorbeigehen.
Che Guevara trug eine Rolex, wahrscheinlich hatte er die bei Cuervo y Sobrinos in Havanna gekauft, die der einzige Rolex Händler in Cuba waren. Ein etwas windiger Antiquitätenhändler hat mir mal erzählt, dass er sich in Havanna Ende der fünfziger Jahre billig eine Rolex gekauft habe. Und dann vergessen habe, dass sie in einer Hosentasche seiner Jeans war, als er die in die Waschmaschine warf. Ja, das halten auch angeblich wasserdichte Uhren nicht aus. Die Taschenuhr von Kapitän Charles Dwight Sigsbee, die ein Taucher aus dem im Hafen von Havanna explodierten ➱Schlachtschiff Maine geholt hatte, war hinterher (nachdem sie in der Fabrik von Edward Howard revisioniert worden war) wieder voll gebrauchsfähig.
Ich besitze auch eine Armbanduhr von der Firma Cuervo y Sobrinos in Havanna. Ein Zufallsfund, von dem jeder Sammler träumt. Sie stammt aus den dreißiger Jahren, der Zeit, als amerikanische Millionäre in Kuba Urlaub machten. Und Albert Einstein und Ernest Hemingway sich bei Cuervo y Sobrinos in Havanna Uhren kauften. Da bin ich mit meiner ja in guter Gesellschaft. Die Uhr hatte sich ein DDR Bürger bei seinem einzigen Auslandsaufenthalt in Havanna gekauft und nach der Wende bei ebay vertickt.
Es ist natürlich keine Rolex, es ist eine Schweizer Juvenia. Mit einem erstklassigen Werk, das statt der roten Rubine blaue Steine hat. Als mein Uhrmacher die Uhr mal zur Revision in seiner Werkstatt hatte, bekam er bald Besuch von allen Uhrmachern der Umgebung. Denn ein Werk mit blauen Saphiren sieht man selten. Die Farbe der Steine trägt natürlich nichts zur Funktion bei, sie ist nur ein dekoratives Element.
Vor allem auf dem amerikanischen Markt schätzte man das, viele amerikanische Fabriken von Taschenuhren (auch das Werk meiner Armbanduhr ist ja ein kleines Taschenuhrwerk) boten das ihren Kunden gegen Aufpreis an (dies hier ist eine Schweizer Erbo, eine Marke von Ernest Borel). Und Amerikaner sind auch die Kunden des Juweliers Cuervo y Sobrinos, der seit Ende des 19. Jahrhunderts gut von der etwas zwielichtigen Kundschaft leben kann. Denn täuschen wir uns nicht, Kuba ist in den dreißiger Jahren mehr oder weniger ein Bordell, nicht erst seit den Tagen von Batista (lesen Sie ➱hier dazu einen interessanten Artikel aus der Zeitschrift Lettre). Haben Castro und der Comandante Che Guevara daran etwas geändert? Wir Leser von ➱Guillermo Cabrera Infante, der wegen Castro die Insel verließ, wissen, dass nein.
Und so bleibt nur die Tristesse. Verfall allerorten. Wie auf diesem Photo aus Havanna von Walker Evans. Die Trumpf Schokoladenfabrik von Monheim ist auch pleite. Hans-Otto Schümann, der Nestor des deutschen Segelsports ist vor vier Wochen im Alter von 97 Jahren gestorben. Die Yacht von Albert Büll aber heißt immer noch Saudade, allerdings ist sie nicht mehr rot. Und sieht auch nicht mehr so hübsch aus wie im Jahre 1973. Sie ist inzwischen mit 45 Metern halb so lang wie die Gorch Fock (die ➱hier einen Post hat) Und die Rennen, in denen sie mitsegelt, heißen Rolex Maxi Cup. Rolex, da ist dieses furchtbare Wort wieder, das ich eigentlich nicht mehr verwenden wollte, seitdem mein Post ➱Rolex die Rolex Gemeinde durchgeschüttelt hat.
Aber alles Geld der Welt kann nichts gegen die saudade ausrichten. Die aber nur diejenigen befällt, die Portugiesisch sprechen. Wie Alberto Pessoa dichtete:
Saudades, só portugueses
Conseguem senti-las bem.
Porque têm essa palavra
para dizer que as têm.
Und wer die Frau war, die da mit dem Cello im Hintergrund sang, das werde ich wohl nie erfahren. So höre ich erst einmal weiter Astrud Gilberto. Oder ➱Joao Gilberto, der als erster mit Chega de Saudade einen Bossa Nova Song über die saudade schrieb.
Lesen Sie auch: ➱Max Oertz, ➱Segelboote, ➱Cutty Sark. Und Havanna kommt schon in den Posts ➱Havanna, ➱Schnellboote, ➱Blauer Dunst und ➱John Singleton Copley vor.
Und aus gegebenem Anlass kann ich am heutigen Tag die Lektüre des Posts ➱Sommerzeit empfehlen.
P.S. Ein Leser hat mir gerade geschrieben, dass seine Rezension bei Amazon von Maria João Pires' Aufnahme von Schuberts Klaviersonate 960 auch den Titel Saudade hatte. Great minds think alike, ich wollte es veröffentlichen, habe aber auch Versehen auf die falsche Taste gedrückt. Schon war's gelöscht. Deshalb gibt es hier den Hinweis auf die Rezension, die Saudade heißt. Was sich bei einer portugiesischen Pianistin vielleicht anbietet. Polski Radio hatte in diesem Jahr auch schon einmal einen Titel Maria João Pires: Chopin a saudade. Lesen Sie doch einmal die Rezension zu Pires-Schubert bei Amazon. Sie können da auch noch mehr Rezensionen dieses Rezensenten lesen. Ich staune immer wieder darüber, welch gebildete Leser ich habe.
Saudade war die Überschrift meiner Anmerkung zu Pures,Schubert D 960,geschrieben vor drei Tagen,von amazon allerdings falsch eingeordnet
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