Dienstag, 7. Oktober 2014

Volkslieder


Unter dem Titel Wirken stehen in dem Wikipedia Artikel zu Wilhelm Müller die Sätze: Bereits zu seinen Lebzeiten wurde Müller oft als mittelmäßiger Autor der Romantik abgetan; die Kritik hält bis heute an. Demgegenüber steht das Bemühen um eine differenziertere Würdigung als Vorläufer Heinrich Heines. In diesem Blog ist für Wilhelm Müller, der heute vor zweihundertzwanzig Jahren geboren wurde, immer Platz gewesen. Er war ein deutscher Dichter der Romantik. Der im Gegensatz zu Goethe gut Englisch konnte. Er hat Marlowes The Tragical History of Doctor Faustus aus dem Englischen übersetzt, das war die erste vollständige Übersetzung des Stückes in deutscher Sprache. Sein Sohn Max Müller konnte noch besser Englisch, der wurde der berühmteste Sprachforscher des 19. Jahrhunderts (und Mitglied des Kronrates von Queen Victoria).

Wilhelm Müller liebte Lord Byron, über den er sagte: Lord Byron ist vielleicht das größte und fruchtbarste, aber auch das gefährlichste Dichtergenie unsers Zeitalters. Nach dessen Tod hat er ihm ein langes Gedicht gewidmet. Der Kampf der Griechen für ihre Freiheit (der vielleicht auch ein Kampf für die Demokratie im Deutschland der Restauration ist) war ebenso die Sache von Wilhelm Müller, den der Sänger Thomas Hampson the German Byron genannt hat. Allein sechs kleine Hefte seiner Griechenlieder erschienen anfangs der 1820er Jahre. Was ihm bekanntlich den Namen Griechen-Müller eintrug. Wir kennen ihn heute eher als einen Dichter von Volksliedern wie Das Wandern ist des Müllers Lust und Der Lindenbaum. Ich war ein Vierteljahr im Netz, da gab es hier schon den Post Lindenbäume. Die schöne Müllerin und Die Winterreise (aus denen die beiden Lieder sind) sollten in diesem Blog immer wieder vorkommen (zum Beispiel in Tränenregen oder Winterreise).

Goethe mochte Müller, der ihn einmal besuchte, überhaupt nicht. So schreibt Goethes Freund Friedrich von Müller: Wir kamen auf den Hofrath Wilhelm Müller aus Dessau zu sprechen, der uns dieser Tage besucht hatte. 'Es ist mir eine unangenehme Personnage', sagte er, suffisant, 'überdieß Brillen tragend, was mir das Allerunleidlichste ist'. Es ist eine kleine subtile Rache der Kulturgeschichte, dass die Goethe Institute in Indien nicht Goethe Institut heißen, sondern nach dem Sohn Wilhelm Müllers Max Mueller Bhavan heißen.

Auch ein anderer Brillenträger kam bei Goethe nicht gut an: Euer Exzellenz! Wenn es mir gelingen sollte, durch die Widmung dieser Composition Ihrer Gedichte meine unbegrenzte Verehrung gegen E. Exzellenz an den Tag legen zu können, und vielleicht einige Beachtung für meine Unbedeutenheit zu gewinnen, so würde ich den günstigen Erfolg dieses Wunsches als das schönste Ereignis meines Lebens preisen. Mit größter Hochachtung Ihr ergebenster Diener Franz Schubert. Goethe notierte in seinem Tagebuch den Empfang der Sendung und schickte sie kommentarlos zurück. Wenn einer seine Lieder vertont, dann soll das Carl Friedrich Zelter tun und nicht dieser Schubart aus Wien. Soviel zum Musikverständnis Goethes. Schubert und Müller (beinahe gleichaltrig) sind sich nie begegnet. Man weiß auch nicht, ob Müller jemals Schuberts Vertonungen seiner Lieder gehört hat.

Schubert schrieb die Musik zur Winterreise im Todesjahr Wilhelm Müllers, ein Jahr vor seinem eigenen Tod:

Hie und da ist an den Bäumen
Manches bunte Blatt zu seh'n,
Und ich bleibe vor den Bäumen
Oftmals in Gedanken steh'n.

Schaue nach dem einen Blatte,
Hänge meine Hoffnung dran;
Spielt der Wind mit meinem Blatte,
Zittr' ich, was ich zittern kann.

Ach, und fällt das Blatt zu Boden,
Fällt mit ihm die Hoffnung ab;
Fall' ich selber mit zu Boden,
Wein' auf meiner Hoffnung Grab.


Hat er gemerkt, dass man die Lieder auch als einen politischen Text eines Dichters des Vormärz lesen kann? Wir können die Winterreise so lesen. Hören Sie doch hier einmal in die Version von Hans Zender - gesungen von Hans Peter Blochwitz - hinein, das hat wenig mit der gefühlsseligen deutschen Romantik und dem Dreimäderlhaus zu tun. Der junge Wilhelm Müller war 1813 mit der preußischen Armee als Freiwilliger gegen Napoleon gezogen. Jetzt muss er sehen, dass es mit der Freiheit in seinem Vaterland nicht zum besten steht. Dass sie so selten geworden ist, wie ein buntes Blatt im Winter (lesen Sie hier mehr dazu). Wilhelm Müller hat Volkslieder wie Im Krug zum grünen Kranze geschrieben, aber auch Epigramme wie Der alte Adel. Und in dem Vierzeiler ist er nicht weit entfernt von Heinrich Heine:

Jüngst sprach zu mir ein faules Holz: »Ich bin des Pfirsichstammes Sohn,
Der viel der edlen Früchte trug vor mehr als tausend Jahren schon.«
Ich warf es lachend ins Kamin. Was tu ich mit dem leeren Wicht,
Der prahlerisch zu seinem Ruhm von alter Ahnen Taten spricht?


Heinrich Heine hat Wilhelm Müller bewundert. Er schrieb ihm, dass er keinen Liederdichter außer Goethe so sehr liebe wie Sie. Und gestand, daß mir durch die Lektüre Ihrer 77 Gedichte zuerst klar geworden, wie man aus den alten, vorhandenen Volksliedformen neue Formen bilden kann, die ebenfalls volksthümlich sind, ohne daß man nöthig hat, die alten Sprachholprigkeiten und Unbeholfenheiten nachzuahmen. In seiner Reise von München nach Genua beklagt er den Tod des allzufrüh verstorbenen W. Müller und ruft aus: ach, er war ein deutscher Dichter! Heine ist in diesem Blog natürlich auch schon gewürdigt worden, schon im Jahre 2010 gab es hier die Posts Heinrich Heine, Harry Heine und Loreley.

Ich habe für den heutigen Tag ein kleines Epigramm von Wilhelm Müller, für das mir alle Blogger dankbar sein werden:

Schreiber, was bemühst du dich, immer gut zu schreiben?
Liest dich denn ein jeder gut? Treib's, wie's alle treiben!


Und natürlich könnten Sie jetzt noch die Posts Wilhelm Müller und Griechen-Müller lesen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen