Mittwoch, 12. Februar 2014

Immanuel Kant


Der Kategorische Imperativ hilft Dir nicht bei Grün übern Zebrastreifen, sagte mir ein älterer Philosophiestudent am Anfang meines Studiums. Dem pflichtet Rudolf Walter Leonhardt bei: Aber so sehr der Imperativ als theoretische ethische Forderung überzeugen mag, als praktische Maßgabe eignet er sich so wenig, wie Kants präziser Kanzleistil sich als unterhaltsame Lektüre eignet. Und da sind wir schon drin im Problem. Wenn man sich mit Philosophie beschäftigt, hat man immer Zweifel. Der Philosoph ➱Walter Bröcker stellte Studenten manchmal im Examen vor folgendes Problem: Stellen Sie sich vor, Sie sind in der Bibliothek des Philosophischen Seminars die Seminarwache und Immanuel Kant kommt herein. Welche Frage werden Sie ihm stellen? Es gibt hier nur eine richtige Antwort. Und die lautet: Haben Sie eine Seminarkarte? Denn wenn Kant nach seinem Kategorischen Imperativ handelt, dann weiß er, dass er nur mit einer Seminarkarte in die Bibliothek kommt. Es sind nützliche Dinge, die man in einem Philosophiestudium lernt.

Der Philosoph Immanuel Kant ist heute vor 210 Jahren gestorben, Grund genug für diesen Blogger, heute den Post nach dem kleinen Mann in Königsberg mit seiner Perücke und seinem Zierdegen zu benennen. Erwarten Sie bitte nicht, hier heute den ultimativen Post zu dem Philosophen der Aufklärung zu finden. Die Gesamtausgabe seiner Werke - herausgegeben von Wilhelm Weischedel, dem wir das wunderbare Buch Die philosophische Hintertreppe verdanken - war mal ein Sonderangebot bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Sie steht bei mir weithin ungelesen im Regal. Na ja, es sind ja auch über fünftausend Seiten. Bei anderen Philosophen kann ich durchaus behaupten, dass alles an Werken, die im Regal stehen, auch gelesen wurde. Also zum Beispiel bei Hobbes, ➱Kierkegaard, Schopenhauer oder ➱Camus.

Kurz vor seinem Tod schrieb der Philosoph Paul Feyerabend, die Unverständlichkeit der Sprache mancher Kollegen betreffend: Liegt es vielleicht am Wunsch, großartig, tief und philosophisch zu wirken? Aber was ist wichtiger? Von Außenstehenden verstanden oder als "tiefer Denker" betrachtet zu werden? Auf einfache Weise zu schreiben, so daß es ungebildete Leute verstehen können, bedeutet keineswegs Oberflächlichkeit. Ich rate dringend allen Autoren, die ihren Mitmenschen etwas mitteilen wollen, sich nicht mit Philosophie zu beschäftigen, und wenn sie es schon tun, sich nicht von Obskuranten wie Derrida einschüchtern und beeinflussen zu lassen, sondern stattdessen Schopenhauer oder Kants volkstümliche Schriften zu lesen. Ich habe das schon in dem Post ➱Heidegger einmal zitiert. Ich zitiere es zu gerne. Und damit wären wir bei den volkstümlichen Schriften von Kant. Man kann Kant durchaus lesen. Aber man wird ihn nicht zum Vergnügen oder zur Erbauung lesen, wie man das mit ➱Augustinus oder ➱Montaigne tun kann. Der Franzose Montaigne war übrigens jemand, den Kant seinen Freunden zur beständigen Lektüre empfahl.

Lesen, ja. Aber verstehen? Ich muss an dieser Stelle mal eben einen Dialog aus dem Film Ein Fisch namens Wanda zwischen Wanda (Jamie Lee Curtis) und Otto (Kevin Kline) zitieren. Sie erinnern sich, dass der Killer Otto im Film immer philosophische Werke liest. Bis Wanda dieses Getue zuviel wird:  Aber du denkst du bist ein Intellektueller. Nicht wahr, du Affe? - Affen lesen keine Philosophiebücher. - Doch, das tun sie, Otto, sie verstehen sie bloß nicht. Ich darf dich da in ein paar Dingen berichtigen. Okay? Aristoteles war kein Belgier. Die Hauptbotschaft des Buddhismus lautet nicht: 'Jeder kämpft für sich selbst'. Und die Londoner Untergrundbahn ist keine politische Bewegung. Das sind alles Irrtümer, Otto, ich habe das nachgeschlagen. Und dann fügt sie noch hinzu: Ich kenne Schafe, die dich locker austricksen würden. Ich habe schon Wollpullover mit einem höheren IQ gehabt. Im Original heißt der Satz: To call you stupid would be an insult to stupid people. I've known sheep that could outwit you. I've worn dresses with higher IQs!

Verstehen tun Kant natürlich nur die Philosophen, das ist uns klar. Wenn sie das nicht behaupteten, wären sie arbeitslos: Ich habe schon früher erwähnt, daß die »Kritik der reinen Vernunft«, bei ihrem Erscheinen, nicht die geringste Sensation gemacht. Erst mehre Jahre später, als einige scharfsinnige Philosophen Erläuterungen über dieses Buch geschrieben, erregte es die Aufmerksamkeit des Publikums, und im Jahr 1789 war in Deutschland von nichts mehr die Rede als von Kantescher Philosophie, und sie hatte schon in Hülle und Fülle ihre Kommentare, Chrestomathien, Erklärungen, Beurteilungen, Apologien u. s. w. Man braucht nur einen Blick auf den ersten besten philosophischen Katalog zu werfen und die Unzahl von Schriften, die damals über Kant erschienen, zeugt hinreichend von der geistigen Bewegung, die von diesem einzigen Manne ausging. Bei den einen zeigte sich ein schäumender Enthusiasmus, bei den anderen eine bittere Verdrießlichkeit, bei vielen eine glotzende Erwartung über den Ausgang dieser geistigen Revolution

Der Mann, der hier über die Rezeption von Kants Kritik der reinen Vernunft schreibt (es ist niemand anderer als Heinrich Heine) hat auch einiges zur Sprache des Werkes zu sagen:

Warum aber hat Kant seine »Kritik der reinen Vernunft« in einem so grauen, trockenen Packpapierstil geschrieben? Ich glaube, weil er die mathematische Form der Descartes-Leibniz-Wolfianer verwarf, fürchtete er, die Wissenschaft möchte etwas von ihrer Würde einbüßen, wenn sie sich in einem leichten, zuvorkommend heiteren Tone ausspräche. Er verlieh ihr daher eine steife, abstrakte Form, die alle Vertraulichkeit der niederen Geistesklassen kalt ablehnte. Er wollte sich von den damaligen Popularphilosophen, die nach bürgerlichster Deutlichkeit strebten, vornehm absondern, und er kleidete seine Gedanken in eine hofmännisch abgekältete Kanzeleisprache. Hier zeigt sich ganz der Philister. Aber vielleicht bedurfte Kant zu seinem sorgfältig gemessenen Ideengang auch einer Sprache, die sorgfältig gemessener, und er war nicht im Stande eine bessere zu schaffen. Nur das Genie hat für den neuen Gedanken auch das neue Wort. Immanuel Kant war aber kein Genie. Im Gefühl dieses Mangels, ebenso wie der gute Maximilian, war Kant um so mißtrauischer gegen das Genie, und in seiner »Kritik der Urteilskraft« behauptete er sogar, das Genie habe nichts in der Wissenschaft zu schaffen, seine Wirksamkeit gehöre ins Gebiet der Kunst. Kant hat durch den schwerfälligen, steifleinenen Stil seines Hauptwerks sehr vielen Schaden gestiftet. Denn die geistlosen Nachahmer äfften ihn nach, in dieser Äußerlichkeit, und es entstand bei uns der Aberglaube, daß man kein Philosoph sei, wenn man gut schriebe. 

Kants Schüler (und einer seiner ersten Biographen) Reinhold Bernhard Jachmann schrieb über seinen Lehrer: Kant besaß in den letzten siebzehn Jahren ein eignes Haus, das zwar mitten in der Stadt in der Nähe des Schlosses, aber in einer kleinen Nebenstraße lag, durch die selten ein Wagen fuhr. Das Haus selbst, welches acht Stuben in sich faßte, war für seine Lebensart bequem eingerichtet. Im untern Stock war auf dem einen Flügel sein Hörsaal, auf dem anderen die Wohnung seiner alten Köchin; im obern Stockwerk auf dem einen Flügel sein Eßsaal, seine Bibliothek und Schlafstube. Auf dem anderen sein Visitenzimmer und seine Studierstube. In einer kleinen Dachstube wohnte sein Bedienter. Die Studierstube lag nach Osten und hatte einen freie Aussicht über mehrere Gärten. Es war ein angenehmer Aufenthalt, wo der Denker ruhig und ungestört seinen Ideen nachhängen konnte. Er wäre mit seiner Studierstube noch mehr zufrieden gewesen, wenn er im Sommer öfterer die Fenster hätte öffnen können; aber daran hinderte ihn der unaufhörlich Gesang der Gefangenen in der nahegelegenen Schloßvogtei. Er beschwerte sich oft gegen Hippel über diesen geistigen Ausbruch der Langenweile, allein die Sache war nicht zu ändern.

Da philosophiert einer über die Aufklärung und die Freiheit, und dann muss er sich die ganze Zeit den Gefangenenchor anhören. Unerträglich. Die singen natürlich noch nicht:

O welche Lust,
o welche Lust, in freier Luft
den Atem leicht zu heben!
O welche Lust!
Nur hier, nur hier ist Leben,
der Kerker eine Gruft, eine Gruft.


Schon einmal hatte er die Wohnung gewechselt, weil der Hahn des Nachbarn zu laut war. Dem es gar nicht begreiflich war, wie ein Hahn einen Weisen stören könnte. Und nun das Singen aus dem Gefängnis. Kant schreibt an den Bürgermeister: Ew. Wohlgeboren waren so gütig, der Beschwerde der Anwohner am Schloßgraben, wegen der stentorischen Andacht der Heuchler im Gefängnisse, abhelfen zu wollen. Ich denke nicht, daß sie zu klagen Ursache haben würden, als ob ihr Seelenheil Gefahr liefe, wenngleich ihre Stimme beim Singen dahin gemäßigt würde, daß sie sich selbst bei zugemachten Fenstern hören könnten. Die kleinen Dinge des Alltags müssen so laufen, wie er es penibel und pedantisch geregelt hat, sonst kann er die großen Dinge nicht denken. O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben! 

Seine Exzentrizitäten sind Gegenstand von hunderten von Anekdoten. Für einen Psychoanalytiker wäre der Mann ein gefundenes Fressen. Leider haben wir kein mit ➱Kurt R. Eisslers Goethe: Eine psychoanalytische Studie 1775 - 1786 vergleichbares Buch. Allerdings haben Gernot und Hartmut Böhme in ihrem Buch Das Andere der Vernunft: Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants auf die dunklen ➱Seiten von Kant hingewiesen.

Die Freiheit gehört zum Denken. Auf jeden Fall hat Kant das mit Blick auf die Universität gesagt: Ich finde eine gewisse Freiheit auf den Hochschulen den Jünglingen äußerst nötig. Sie gehört zum Wesen und Gedeihen des Denkens. Er hat natürlich nicht gesagt, das Freiheit immer Freiheit der Andersdenkenden sei. Eine Philosoph unserer Zeit, der im Augenblick die Meinungshoheit über den Begriff Freiheit besitzt, hat gerade an einer Hochschule etwas anderes gesagt: Freiheit ist ohne Verantwortung nicht zu haben. Für Sie, liebe Soldatinnen und Soldaten, ist diese Haltung selbstverständlich. Ist sie es auch in unserer Gesellschaft? Freiheit und Wohlergehen sehen viele als Bringschuld von Staat und Demokratie. Manche verwechseln Freiheit mit Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und Hedonismus. Andere sind sehr gut darin, ihre Rechte wahrzunehmen oder gegebenenfalls auch vehement einzufordern. Und vergessen dabei allzu gern, dass eine funktionierende Demokratie auch Einsatz erfordert, Aufmerksamkeit, Mut, und manchmal auch das Äußerste, was ein Mensch geben kann: das Leben, das eigene Leben.

Man könnte dazu George Orwell zitieren, der über die Freiheit sagte: Freedom is the right to tell people what they do not want to hear. Denn diese Worte von Joachim Gauck hört hundert Jahre nachdem diese Nation den Ersten Weltkrieg begonnen hat, nicht jeder gern. Dass die Staatsoberhäupter... des Krieges nie satt werden können, das wusste schon Kant. Er setzt das geradezu in seiner Schrift Zum ewigen Frieden voraus. Das Wort Hedonismus, das Gauck verwendet, hat in der Philosophie etwas mit dem Glück zu tun. Für Sokrates gehörten Hedonismus und Eudaimonie zur Philosophie dazu. Immanuel Kant streicht diesen Begriff und ersetzt ihn durch die Pflicht. Oder, wie der Philosoph ➱Bernulf Kanitscheider resümierte: Nicht allen Ethikern ist aber das irdische Glück ein Anliegen. Für die ethischen Idealisten Kant, Hegel und Fichte ist das Glück des Menschen, ist die Idee des erfreulichen Lebens nur ein wertloses Beiwerk. Danach ist es bedeutungslos, ob Menschen sich gut fühlen und ob ihr Leben gelungen ist, Hauptsache, sie tun ihre Pflicht. Der Mensch ist aus kantischer Sicht ein Pflichtautomat. Und da erweist sich unser Bundespräsident dann als echter Kantianer.

Karl Jaspers sagt uns: Kant ist ein Träger der Humanität der Aufklärung. Er ist nicht nur der große Kopf, sondern der wahrhaftige Mensch. Sein Ethos kennt nicht übersteigerte Handlungen, in denen Moral unwahrhaftig konstruiert oder pathetisch demonstriert wird, um dann sich im eigensüchtigen Alltag zu verstecken. Sein Ethos ist das Ethos gerade des Alltags und jeden Augenblicks. Ihn brauchen wir nicht als ein Fremdes zu bewundern. Mit ihm können wir leben. Ihm möchten wir folgen. Schön und gut, aber möchten wir ihm wirklich folgen? Kein Glück, nur Pflichten? Junge Brautleute legen heutzutage in Kaliningrad nach der Trauung Blumen auf Kants Grab. Denken Sie dabei an das Glück oder an ein Leben voller Pflichten?

Was weiß der Mann, den Napoleon einen Philosophen mit Perücke und Moses Mendelssohn einen Alleszermalmer nannte, von der wirklichen Welt? Nicht viel würde man sagen. Seine Vorurteile über die Holländer sind auf dem Niveau von Mike Krüger (das habe ich ➱hier schon einmal ausgeführt), die Juden bezeichnete er als Vampyre der Gesellschaft. Sie sind für ihn eine Nation von Betrügern. In Frankreich bei Rousseau und Voltaire ist er nie gewesen. In England und ➱Schottland, wo mit dem Scottish Enlightenment Philosophiegeschichte geschrieben wird, war er auch nie. Obgleich er angeblich schottische Vorfahren hat. In England ist er nur in seinen Gedanken, so schreibt Johann George Scheffner 1766 an Herder: Der Magister ist jetzt beständig in Engelland weil Hume u. Rousseau da sind, von denen sein Freund Herr Green ihm bisweilen etwas schreibt (lesen Sie ➱hier mehr zu Rousseau in England). Dieser Herr Green ist niemand anderes als Kants Freund Joseph Green, ein englischer Kaufmann aus der Firma Green, Motherby & Co, er ist Kants wichtigste Verbindung nach England.

Kant konnte kein Englisch, konnte aber Französisch lesen und vielleicht auch sprechen - natürlich nicht so gut wie sein König. Der galante Magister, der den Strumpfhalter erfand, hatte mit den Frauen überhaupt nichts im Sinn. Als ich die Frauen brauchte, konnte ich sie mir nicht leisten, und als ich sie mir leisten konnte, brauchte ich sie nicht mehr, soll er im Alter gesagt haben. Es ist die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe verliebt zu sein, schreibt er. Da sitzt nun unser Stubenhocker in seinem Haus in Königsberg und schreibt sich die ganze Welt, wie er sie sich vorstellt, in ein System. Mit a priori und a posteriori. Und er kann das Fenster nicht öffnen, um die Welt  ins Zimmer zu lassen. Weil er dann die Gefangenen geistliche Lieder singen hört. Das ist das Elend der Philosophie.

Er könnte jetzt mit seinem Papagei Friedrich (der all seine Werke aufsagen kann), seiner Frau und seinem Diener Ernst Ludwig nach New York fahren. Die Columbia University will ihm der Ehrendoktortitel verleihen. Aber das geht natürlich nicht, weil Immanuel Kant keinen Pagagei und keine Frau hat. Die hat er nur in dem Theaterstück Immanuel Kant von Thomas Bernhard (ich habe das ➱hier schon einmal zitiert). Und das wäre heute auch mein Lesetip. Die weiteren Empfehlungen sind Paul Stratherns Kant in 90 Minutes aus der berühmten Reihe Philosophers in 90 Minutes. Dann hätte ich noch etwas ganz Schräges: Hanno Depners Kant für die Hand, lesen Sie alles darüber ➱hier. Und wenn Sie eine neuere Biographie lesen wollen, wäre mein Favorit Manfred Kühns Kant: Eine Biographie. Obgleich das Buch zuerst in englischer Sprache bei der Cambridge University Press erschienen war, ist es sehr gründlich und sehr deutsch. Wie Kant.



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