Auf der Bühne liegen schon einige Tote, im Zuschauerraum prügeln sich die Lebendigen. Die auf der Bühne des Théâtre Français sind natürlich nicht tot, es sind nur Schauspieler in einem Stück namens Hernani ou l'honneur castillan von Victor Hugo. In Tragödien liegen am Schluß immer welche auf der Bühne herum, denken Sie nur an Hamlet. Oder an diese wunderbaren Jakobäischen Rachetragödien. Alles, was in der Shakespearezeit geschrieben wurde, kann man heute noch lesen. Tragödien aus dem 19. Jahrhundert sind in den meisten Fällen furchtbar langweilig. Wir nehmen ➱Georg Büchner (der auch zwei ➱Dramen von Victor Hugo übersetzte) da mal aus. Ich denke bei langweiligen Dramen an Autoren wie Friedrich Hebbel. Können Sie sich vorstellen, zwei Abende zu opfern, um ➱Die Nibelungen zu sehen?
Die Schauspieler bei der Premiere von Hernani, insbesonders die berühmte Mademoiselle Mars (Bild), sind glücklich, dass die ganze Sache zu Ende ist, und sie auf der Bühne liegen dürfen. Mademoiselle Mars hatte große Schwierigkeiten mit dem Satzbau von Victor Hugo. Und dann ist da noch der fehlende Humor. In der programmatischen ➱Vorrede zu Cromwell hatte Hugo die Vermischung von Tragik und Komik gefordert. Hat sich aber nicht an seine Forderungen gehalten. In Shakespeares Tragödien ist immer ein wenig Witz und Humor, ein wenig comic relief. Das können die Engländer besser als die Deutschen. Victor Hugo hat (ebenso wie Friedrich Hebbel) überhaupt keinen Humor. Das beklagte schon Henry James: the absence of this quality is certainly Victor Hugo's great defect. Stendhal hatte für da 1823 für die Romantiker nur ein Les romantiques ne conseillent à personne d'imiter directement les drames de Shakespeare übrig. Da bleiben wir doch lieber bei den Engländern. Die können auch ihre Klassiker auf die Schippe nehmen, ich zitiere dazu einmal Spike Milligan (den Prince Charles sehr mag, er hatte ihn sogar zu seiner ➱Hochzeit eingeladen):
Said Hamlet to Ophelia,
I'll draw a sketch of thee,
What kind of pencil shall I use?
2B or not 2B?
Das Bild im ersten Absatz zeigt wie dieses Bild hier die Bataille d'Hernani. Mit den ➱Worten: 25 février 1830 ! Cette date reste écrite dans le fond de notre passé en caractères flamboyants : la date de la première représentation d’Hernani! Cette soirée décida de notre vie! beginnt Théophile Gautier seinen Bericht über die Theaterschlacht. Denn in eine bataille artete die Uraufführung von Victor Hugos Drama Ernani aus. Es ist ein Kampf der Romantik gegen den erstarrten Klassizismus.
Noch einmal Théophile Gautier, der mit seinem ➱roten Wams (so etwas trägt man im Théâtre Français natürlich nicht, da trägt man einen schwarzen ➱Frack) und seinen langen Haaren mittendrin in dem Getümmel ist: Le jeune poëte, avec sa fière audace et sa grandesse de génie, aimant mieux d’ailleurs la gloire que le succès, avait opiniâtrement refusé l’aide de ces cohortes stipendiées qui accompagnent les triomphes et soutiennent les déroutes. Les claqueurs ont leur goût comme les académiciens. Ils sont en général classiques. C’est à contre-cœur qu’ils eussent applaudi Victor Hugo: leurs hommes étaient alors Casimir Delavigne et Scribe, et l’auteur courait risque, si l’affaire tournait mal, d’être abandonné au plus fort de la bataille. On parlait de cabales, d’intrigues ténébreusement ourdies, de guet-apens presque, pour assassiner la pièce et en finir d’un seul coup avec la nouvelle École. Les haines littéraires sont encore plus féroces que les haines politiques, car elles font vibrer les fibres les plus chatouilleuses de l’amour-propre, et le triomphe de l’adversaire vous proclame imbécile. Aussi n’est-il pas de petites infamies et même de grandes que ne se permettent, en pareil cas, sans le moindre scrupule de conscience, les plus honnêtes gens du monde.
Das rote Wams wird Gautier noch Jahrzehnte später tragen, so notiert Edmond de Goncourt in seinem ➱Tagebuch im Jahre 1870: Ihn selbst, den Gott, finde ich heute alt: heute abend hat er rote Augenlider, den ziegelfarbenen Teint, den ich bei Roqueplan gesehen habe, Bart und Haare sind zerzaust. Ein rotes Wams geht über die Aermel seiner Jacke, und ein weisses Halstuch ist unordentlich um seinen Hals geschlungen. Doch die wahre literarische Revolution des Jahres 1830 ist nicht Hernani ou l'honneur castillan. Die wahre Revolution kommt aus der Feder eines anderen: 1830 veröffentlichtlicht ➱Stendhal Le Rouge et le Noir. Ein Roman, der den Untertitel Chronique de 1830 hat. Das Theaterstück Hernani kommt (wie die ganze Gesellschaft dieser Zeit) in dem Roman vor. Und ein anderer französischer Autor, ➱Gustave Flaubert, läßt in seiner Komödie Le Candidat eine Figur sagen: Ah ! c'est que je suis de 1830, moi ! J'ai appris à lire dans Hernani, et j'aurai voulu être Lara! J'exècre toutes les lâchetés contemporaines, l'ordinaire de l'existence et l'ignominie des bonheurs faciles. Aber das ist eher ironisch.
Es ist immer schön, wenn im Zuschauerraum auch ein wenig Theater ist. Also, wenn da ein Herr ganz in Schwarz durch den Zuschauerraum kommt und den Zuschauern zuruft: Sie brauchen nicht länger zu warten, ich bin Godot. Meine Lieblingsgeschichte ist die vom großherzoglichen Oldenburgischen Theater (die kleine Geschichte ist wohl schon hundert Jahre alt). Da soll es Pferde auf der Bühne geben, auf jeden Fall erzählt man sich das in Westerstede so. Sofort beschließt eine Delegation von Bauern: Dat möt wi seihn! In Oldenburg wird Verdis Aida gespielt, da waren ja in anderen Teilen der Welt als Oldenburg schon mal Elefanten auf der Bühne. Unsere Bauerndelegation sitzt etwas verunsichert in der Oper, die Lichter verlöschen, die Ouvertüre beginnt. Und als die mal für einen Augenblick etwas leiser ist, ruft es aus der Dunkelheit des Saales: Nu hört mol up mit dat Gedudel und lot de Päär rut!
Victor Hugo hat wegen seines Hasses auf Napoléon le Petit viele Jahre außerhalb Frankreichs leben müssen, da war er im politischen Exil in Belgien und auf den englischen Kanalinseln. Die für ihn ein Stückchen Frankreich, ins Meer gefallen und von England aufgesammelt waren. In diesem Haus auf Guernsey hat er Les Misérables geschrieben. Habe ich nicht gelesen, ebensowenig wie ich Hernani ganz gelesen habe. Der exilierte Schriftststeller hat über die Kanalinseln gesagt:
Die Kanalinseln haben wie England eine Art Hierarchie. Es gibt dort Kasten, die ihre eigenen Ansichten haben und sich dadurch behaupten. Diese Kastenansichten sind überall diesselben, in Indien ebensogut wie in Deutschland. Adel erwirbt man durch das Schwert und verliert man durch Arbeit; man bewahrt ihn durch Müßiggang. Nichts tun heißt auf adelige Weise leben; wer nicht arbeitet, wird geehrt. Einen Beruf ausüben ist erniedrigend. In Frankreich bildeten früher nur die Glasfabrikanten eine Ausnahme. Flaschenleeren war gewissermassen der Ruhm eines Edelmanns, und Flaschenmachen entehrte ihn keineswegs. Wer in England oder auf den Kanalinseln adlig bleiben will, muß reich sein.
Als ich klein war, besaß ich diese schöne Briefmarke, da hätte ich schon gerne gewusst, wer dieser Hernani war. Computer waren noch nicht erfunden und das Lexikon sagte nur, dass es ein Drama von Victor Hugo war. Mich hätte damals das Schicksal dieses Hernani schon interessiert, aber niemand, den ich kannte, hatte ein Exemplar des Theaterstücks. Und so las ich mich erst einmal durch den Rest der ➱Weltliteratur. Kam irgendwann zu Balzac (diese hübschen kleinen blauen Rowohlt Bände) und dann zu Stendhal und Flaubert. Wenn man ➱Stendhal und ➱Flaubert gelesen hat, kann man nicht zu Victor Hugo zurück. Das stand schon 2015 in dem Post ➱Victor Hugo. Ich bin auch noch gerne bereit zu den Namen Balzac, Stendhal und Flaubert den Namen ➱Dumas hinzuzusetzen, aber da hört es dann auch auf.
Heinrich Heine hat Hugo gelobt, doch das war eine zweischneidige Sache. Denn nach dem Ja, Victor Hugo ist der größte Dichter Frankreichs folgt Bösartiges, und deshalb zitiere ich mal den ganzen Absatz aus ➱Über die Französische Bühne: Ja, Victor Hugo ist der größte Dichter Frankreichs, und, was viel sagen will, er könnte sogar in Deutschland unter den Dichtern erster Klasse eine Stellung einnehmen. Er hat Phantasie und Gemüt und dazu einen Mangel an Takt, wie nie bei Franzosen, sondern nur bei uns Deutschen gefunden wird. Es fehlt seinem Geiste an Harmonie, und er ist voller geschmackloser Auswüchse, wie Grabbe und Jean Paul. Es fehlt ihm das schöne Maßhalten, welches wir bei den klassischen Schriftstellern bewundern. Seine Muse, trotz ihrer Herrlichkeit, ist mit einer gewissen deutschen Unbeholfenheit behaftet. Ich möchte dasselbe von seiner Muse behaupten, was man von den schönen Engländerinnen sagt: sie hat zwei linke Hände.
Dieser Herr ist Joseph Léopold Sigisbert Hugo. Er hat wenig Orden auf der Brust, der Brigadegeneral hat auch keine Schlachten gewonnen. Bei Waterloo war er nicht dabei. Sein Sohn Victor hat über ➱Waterloo ein ➱Gedicht geschrieben und hat die Schlacht in Les Misérables hinein geschrieben. Er mochte den Herzog von ➱Wellington ebenso wenig wie sein Vater und hat über den Briten gesagt: Bei Waterloo wurde eine Schlacht ersten Ranges geschlagen und von einem Feldherrn zweiten Ranges gewonnen. Die Franzosen lieben ihren Victor Hugo für solche Sätze. Der Vorname Victor bedeutet der Sieger, eine Schlacht hat der Sohn des Generals Hugo gewonnen: die Theaterschlacht am 25. Februar im Théâtre Français.
Aber es ist ein Scheinerfolg, die Herrschaft des Epos nähert sich ihrem Ende behauptete Hugo im Préface de Cromwell. Im Gegenteil, die Herrschaft des Dramas- klassizistisch oder romantisch - ist zu Ende. Nur die Boulevardkomödie von Scribe wird überleben. Weil der Boulevard immer überlebt. Aber als die führende literarische Form kommt jetzt der französische Roman: Le Rouge et le Noir, La Chartreuse de Parme und Madame Bovary. Die Theater behält man, man kann ja auch Opern darin spielen. Wie ➱Giuseppe Verdis Oper ➱Ernani.
Heinrich Heine hat Hugo gelobt, doch das war eine zweischneidige Sache. Denn nach dem Ja, Victor Hugo ist der größte Dichter Frankreichs folgt Bösartiges, und deshalb zitiere ich mal den ganzen Absatz aus ➱Über die Französische Bühne: Ja, Victor Hugo ist der größte Dichter Frankreichs, und, was viel sagen will, er könnte sogar in Deutschland unter den Dichtern erster Klasse eine Stellung einnehmen. Er hat Phantasie und Gemüt und dazu einen Mangel an Takt, wie nie bei Franzosen, sondern nur bei uns Deutschen gefunden wird. Es fehlt seinem Geiste an Harmonie, und er ist voller geschmackloser Auswüchse, wie Grabbe und Jean Paul. Es fehlt ihm das schöne Maßhalten, welches wir bei den klassischen Schriftstellern bewundern. Seine Muse, trotz ihrer Herrlichkeit, ist mit einer gewissen deutschen Unbeholfenheit behaftet. Ich möchte dasselbe von seiner Muse behaupten, was man von den schönen Engländerinnen sagt: sie hat zwei linke Hände.
Aber es ist ein Scheinerfolg, die Herrschaft des Epos nähert sich ihrem Ende behauptete Hugo im Préface de Cromwell. Im Gegenteil, die Herrschaft des Dramas- klassizistisch oder romantisch - ist zu Ende. Nur die Boulevardkomödie von Scribe wird überleben. Weil der Boulevard immer überlebt. Aber als die führende literarische Form kommt jetzt der französische Roman: Le Rouge et le Noir, La Chartreuse de Parme und Madame Bovary. Die Theater behält man, man kann ja auch Opern darin spielen. Wie ➱Giuseppe Verdis Oper ➱Ernani.
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